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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

Grenze gebildet würde, nicht anzunehmen, daß irgendwelche Bestrebungen, die
im deutschen Interesse unerwünscht wären, sich geltend machen würden. Die
Litauer wissen, was sie an Preußen haben und mit welcher Fürsorge sie
behandelt werden, wenn sie auch zum Teil bezüglich der Erhaltung ihrer
Sprache etwas weitergehende Wünsche haben, als ihnen bisher zugebilligt
worden ist. Ihr Nationalgefühl ist bei weitem nicht in dem Maße geweckt,
wie bei vielen anderen Völkerschaften in ähnlicher Lage. Der russische Litauer
ist bei seinen preußischen Stammesgenossen wenig geachtet und seine Wirtschafts¬
führung in den Grenzgegenden wird nicht geschätzt. Außerdem, und das fällt
besonders ins Gewicht, bekennen die preußischen Litauer den evangelisch¬
lutherischen Glauben, während die russischen in ihrer großen Mehrheit römisch¬
katholisch sind. Die beiderseitige Sprache ist dialektisch verschieden und vollends
die Schriftsprache der russischen ist unseren Litauern nur sehr schwer verständlich.
Kultur und Sitten weichen stark voneinander ab. Es besteht bisher überhaupt kein
Verkehr, weder nationaler noch wirtschaftlicher Art zwischen den beiden litauischen
Grenznachbarn; sie sind einander fast fremd. Aus diesen Gründen sind etwaige
Bestrebungen, eine Annäherung oder besondere gegenseitige Sympathien zwischen
den Litauern beider Länder zu wecken, für die Zukunft nicht zu erwarten oder
als völlig aussichtslos anzusehen.

Sollte es aus hier nicht weiter auszuführenden Gründen zweckmäßig er¬
scheinen, ein größeres Staatengebilde an unserer Nordostgrenze zu schaffen, so
würde es nach der geographischen Lage und der Verwandtschaft des Volkstums
und der Sprache das Nächstliegende sein, Land und Volk der Litauer mit
dem Volk der Letten in eine Art staatlichen autonomen Gefüges zu bringen,
unbeschadet der Eigenart eines jeden Stammes, wobei das deutsche Element
eventuell durch bestimmte Kautelen in der Verfassung in seinem Bestände
und seiner Weiterentwicklung geschützt werden könnte. Ein solches Staats¬
wesen würde aber nur dann zu befürworten sein, wenn ein autonomes
Litauen neben einem autonomen Baltenlande sich als unmöglich herausstellen
sollte.

Die hauptsächlich von Letten bewohnten Gebiete Kurland und Livland
umfassen etwa 1500 Ouadratmeilen mit 1973399 Einwohnern, wobei das
nördlich gelegene Livland bereits 40 Prozent Esthen aufweist. In Esthland
(20250 Quadratkilometer Flächeninhalt), das unter 414000 Bewohnern bereits
82 Prozent Esthen, nur 5 Prozent Deutsche und 5 Prozent Russen zählt
-- der Rest sind Letten, Schweden und Finnen -- liegen die Verhältnisse
anders. Da die Esthen, die wie oben angeführt, auch das nördliche Livland
beherrschen, in ihrer Sprache und ihrem Volkstum keine näheren Beziehungen
zu den Letten und Litauern haben, so liegt auch keine Veranlassung vor, sie
mit den letzteren in dasselbe Staatsgefüge zu bringen. Sie gehören zu ihren
weiter nördlich wohnenden Stammesgenossen, den Finnländern. Nur um ein
Gegengewicht gegen hie infolge ihrer höheren Kultur voraussichtlich nach der


Die litauisch-baltische Frage

Grenze gebildet würde, nicht anzunehmen, daß irgendwelche Bestrebungen, die
im deutschen Interesse unerwünscht wären, sich geltend machen würden. Die
Litauer wissen, was sie an Preußen haben und mit welcher Fürsorge sie
behandelt werden, wenn sie auch zum Teil bezüglich der Erhaltung ihrer
Sprache etwas weitergehende Wünsche haben, als ihnen bisher zugebilligt
worden ist. Ihr Nationalgefühl ist bei weitem nicht in dem Maße geweckt,
wie bei vielen anderen Völkerschaften in ähnlicher Lage. Der russische Litauer
ist bei seinen preußischen Stammesgenossen wenig geachtet und seine Wirtschafts¬
führung in den Grenzgegenden wird nicht geschätzt. Außerdem, und das fällt
besonders ins Gewicht, bekennen die preußischen Litauer den evangelisch¬
lutherischen Glauben, während die russischen in ihrer großen Mehrheit römisch¬
katholisch sind. Die beiderseitige Sprache ist dialektisch verschieden und vollends
die Schriftsprache der russischen ist unseren Litauern nur sehr schwer verständlich.
Kultur und Sitten weichen stark voneinander ab. Es besteht bisher überhaupt kein
Verkehr, weder nationaler noch wirtschaftlicher Art zwischen den beiden litauischen
Grenznachbarn; sie sind einander fast fremd. Aus diesen Gründen sind etwaige
Bestrebungen, eine Annäherung oder besondere gegenseitige Sympathien zwischen
den Litauern beider Länder zu wecken, für die Zukunft nicht zu erwarten oder
als völlig aussichtslos anzusehen.

Sollte es aus hier nicht weiter auszuführenden Gründen zweckmäßig er¬
scheinen, ein größeres Staatengebilde an unserer Nordostgrenze zu schaffen, so
würde es nach der geographischen Lage und der Verwandtschaft des Volkstums
und der Sprache das Nächstliegende sein, Land und Volk der Litauer mit
dem Volk der Letten in eine Art staatlichen autonomen Gefüges zu bringen,
unbeschadet der Eigenart eines jeden Stammes, wobei das deutsche Element
eventuell durch bestimmte Kautelen in der Verfassung in seinem Bestände
und seiner Weiterentwicklung geschützt werden könnte. Ein solches Staats¬
wesen würde aber nur dann zu befürworten sein, wenn ein autonomes
Litauen neben einem autonomen Baltenlande sich als unmöglich herausstellen
sollte.

Die hauptsächlich von Letten bewohnten Gebiete Kurland und Livland
umfassen etwa 1500 Ouadratmeilen mit 1973399 Einwohnern, wobei das
nördlich gelegene Livland bereits 40 Prozent Esthen aufweist. In Esthland
(20250 Quadratkilometer Flächeninhalt), das unter 414000 Bewohnern bereits
82 Prozent Esthen, nur 5 Prozent Deutsche und 5 Prozent Russen zählt
— der Rest sind Letten, Schweden und Finnen — liegen die Verhältnisse
anders. Da die Esthen, die wie oben angeführt, auch das nördliche Livland
beherrschen, in ihrer Sprache und ihrem Volkstum keine näheren Beziehungen
zu den Letten und Litauern haben, so liegt auch keine Veranlassung vor, sie
mit den letzteren in dasselbe Staatsgefüge zu bringen. Sie gehören zu ihren
weiter nördlich wohnenden Stammesgenossen, den Finnländern. Nur um ein
Gegengewicht gegen hie infolge ihrer höheren Kultur voraussichtlich nach der


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[0250] Die litauisch-baltische Frage Grenze gebildet würde, nicht anzunehmen, daß irgendwelche Bestrebungen, die im deutschen Interesse unerwünscht wären, sich geltend machen würden. Die Litauer wissen, was sie an Preußen haben und mit welcher Fürsorge sie behandelt werden, wenn sie auch zum Teil bezüglich der Erhaltung ihrer Sprache etwas weitergehende Wünsche haben, als ihnen bisher zugebilligt worden ist. Ihr Nationalgefühl ist bei weitem nicht in dem Maße geweckt, wie bei vielen anderen Völkerschaften in ähnlicher Lage. Der russische Litauer ist bei seinen preußischen Stammesgenossen wenig geachtet und seine Wirtschafts¬ führung in den Grenzgegenden wird nicht geschätzt. Außerdem, und das fällt besonders ins Gewicht, bekennen die preußischen Litauer den evangelisch¬ lutherischen Glauben, während die russischen in ihrer großen Mehrheit römisch¬ katholisch sind. Die beiderseitige Sprache ist dialektisch verschieden und vollends die Schriftsprache der russischen ist unseren Litauern nur sehr schwer verständlich. Kultur und Sitten weichen stark voneinander ab. Es besteht bisher überhaupt kein Verkehr, weder nationaler noch wirtschaftlicher Art zwischen den beiden litauischen Grenznachbarn; sie sind einander fast fremd. Aus diesen Gründen sind etwaige Bestrebungen, eine Annäherung oder besondere gegenseitige Sympathien zwischen den Litauern beider Länder zu wecken, für die Zukunft nicht zu erwarten oder als völlig aussichtslos anzusehen. Sollte es aus hier nicht weiter auszuführenden Gründen zweckmäßig er¬ scheinen, ein größeres Staatengebilde an unserer Nordostgrenze zu schaffen, so würde es nach der geographischen Lage und der Verwandtschaft des Volkstums und der Sprache das Nächstliegende sein, Land und Volk der Litauer mit dem Volk der Letten in eine Art staatlichen autonomen Gefüges zu bringen, unbeschadet der Eigenart eines jeden Stammes, wobei das deutsche Element eventuell durch bestimmte Kautelen in der Verfassung in seinem Bestände und seiner Weiterentwicklung geschützt werden könnte. Ein solches Staats¬ wesen würde aber nur dann zu befürworten sein, wenn ein autonomes Litauen neben einem autonomen Baltenlande sich als unmöglich herausstellen sollte. Die hauptsächlich von Letten bewohnten Gebiete Kurland und Livland umfassen etwa 1500 Ouadratmeilen mit 1973399 Einwohnern, wobei das nördlich gelegene Livland bereits 40 Prozent Esthen aufweist. In Esthland (20250 Quadratkilometer Flächeninhalt), das unter 414000 Bewohnern bereits 82 Prozent Esthen, nur 5 Prozent Deutsche und 5 Prozent Russen zählt — der Rest sind Letten, Schweden und Finnen — liegen die Verhältnisse anders. Da die Esthen, die wie oben angeführt, auch das nördliche Livland beherrschen, in ihrer Sprache und ihrem Volkstum keine näheren Beziehungen zu den Letten und Litauern haben, so liegt auch keine Veranlassung vor, sie mit den letzteren in dasselbe Staatsgefüge zu bringen. Sie gehören zu ihren weiter nördlich wohnenden Stammesgenossen, den Finnländern. Nur um ein Gegengewicht gegen hie infolge ihrer höheren Kultur voraussichtlich nach der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/250>, abgerufen am 13.05.2024.