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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der italienische Irredentisnms

Wirklich hat auch in der Folgezeit die Regierung alles getan, um Tumulte
in der Hauptstadt und an anderen Plätzen zugunsten der Jrredenta zu unter¬
drücken, und die Agitation zur Erlösung der Brüder, die für die Jugend
immer ihren eigenartig aufreizenden Zauber hatte, zu ersticken. Und mehr als
einmal haben besonnene Politiker darauf hingewiesen, daß der Sieg der
Jrredentisten eine Rückkehr zu dem glücklich überwundenen Zustand der
revolutionären, mühsam gebändigten und gedämpften Leidenschaften des Volkes
bedeute, ein Wiederaufleben der Anarchie, die den Italienern nun einmal im
Blute liegt. Und mehr als einmal hat die Presse im In- und Ausland das
Volk belehrt, daß die Eroberung von Trieft und Trient das Opfer eines
blutigen Krieges nicht aufwiege. Trieft besitze nur solange Wert, als es
Österreich gehöre. In italienischem Besitz wäre es nur ein Hafen, der entweder
auf ein niedrigeres Niveau als Venedig herabsinken oder aber die anderen
Häfen Italiens degradieren würde. Eine Eroberung von Trieft aber bedeute
die Auflösung der Habsburgischen Monarchie, bedeute damit die Einverleibung
der Bukowina und Galiziens durch Rußland, Siebenbürgens durch Rumänien,
Bosniens, der Herzegowina und Dalmatiens durch Serbien. "Wir würden,"
so erklärte im Giornale d'Italia schon vor einigen Jahren der Herzog von
Casoria, Luigi Pignatilli (F. von Wanthock Rekowsky), "an unseren Grenzen
an Stelle eines verhältnismäßig schwachen, uneinigen Österreich-Ungarn eine
kompakte Masse von 95 Millionen Deutschen und eine andere von 20 Millionen
Südslawen haben, und beide würden aus verschiedenen Gründen uns feindlich
gesinnt sein.

Aus der anderen Seite hätten wir ein übennütiges, angriffslustiges
Frankreich und ein England, das mehr als jemals Herrin der Meere sein
würde und seinen unermeßlichen Besitzungen noch die deutschen Kolonien hinzu¬
gefügt hätte, ganz abgesehen von der Anwartschaft auf die fette, portugiesische
Erbschaft. Italien und Libyen würden einfach ersticken in einem Meer, das zu
einer englisch-französischen See geworden wäre."

Daß aber solche Vernunftgründe dem Treiben der Jrredentisten kein Ende
bereiteten, haben wir ja selbst in Miseren Tagen bitter erleben müssen. Die
Annäherung Italiens an Frankreich nach dem zehnjährigen Zollkrieg (1888 bis
1898), die Zusicherung, die Frankreich Italien 1902 wegen Tripolis gemacht,
dazu die Heirat des regierenden Königs mit einer Prinzessin von Montenegro,
vor allem die Bemühungen der Tripleentente, Italien mit der Aussicht auf den
Besitz von Albanien zu ködern, haben die Blicke des Volkes wieder auf die
Balkanhalbinsel gelenkt und die Jrredentisten mehr als je ermutigt.

Wir von heute werden es ja nun erleben, wieviel Lebenskraft dieser
Jrredentismus besitzt, ob eine revolutionär verbissene Minderheit stark genug
sein wird, die echten und natürlichen Interessen der Nation zu vernichten, ob
wirklich im Lande des Macchiavell eine romantisch überspannte Idee die Herr¬
schaft über die nüchterne Klugheit davontragen kann. Wir hoffen und wünschen,


Der italienische Irredentisnms

Wirklich hat auch in der Folgezeit die Regierung alles getan, um Tumulte
in der Hauptstadt und an anderen Plätzen zugunsten der Jrredenta zu unter¬
drücken, und die Agitation zur Erlösung der Brüder, die für die Jugend
immer ihren eigenartig aufreizenden Zauber hatte, zu ersticken. Und mehr als
einmal haben besonnene Politiker darauf hingewiesen, daß der Sieg der
Jrredentisten eine Rückkehr zu dem glücklich überwundenen Zustand der
revolutionären, mühsam gebändigten und gedämpften Leidenschaften des Volkes
bedeute, ein Wiederaufleben der Anarchie, die den Italienern nun einmal im
Blute liegt. Und mehr als einmal hat die Presse im In- und Ausland das
Volk belehrt, daß die Eroberung von Trieft und Trient das Opfer eines
blutigen Krieges nicht aufwiege. Trieft besitze nur solange Wert, als es
Österreich gehöre. In italienischem Besitz wäre es nur ein Hafen, der entweder
auf ein niedrigeres Niveau als Venedig herabsinken oder aber die anderen
Häfen Italiens degradieren würde. Eine Eroberung von Trieft aber bedeute
die Auflösung der Habsburgischen Monarchie, bedeute damit die Einverleibung
der Bukowina und Galiziens durch Rußland, Siebenbürgens durch Rumänien,
Bosniens, der Herzegowina und Dalmatiens durch Serbien. „Wir würden,"
so erklärte im Giornale d'Italia schon vor einigen Jahren der Herzog von
Casoria, Luigi Pignatilli (F. von Wanthock Rekowsky), „an unseren Grenzen
an Stelle eines verhältnismäßig schwachen, uneinigen Österreich-Ungarn eine
kompakte Masse von 95 Millionen Deutschen und eine andere von 20 Millionen
Südslawen haben, und beide würden aus verschiedenen Gründen uns feindlich
gesinnt sein.

Aus der anderen Seite hätten wir ein übennütiges, angriffslustiges
Frankreich und ein England, das mehr als jemals Herrin der Meere sein
würde und seinen unermeßlichen Besitzungen noch die deutschen Kolonien hinzu¬
gefügt hätte, ganz abgesehen von der Anwartschaft auf die fette, portugiesische
Erbschaft. Italien und Libyen würden einfach ersticken in einem Meer, das zu
einer englisch-französischen See geworden wäre."

Daß aber solche Vernunftgründe dem Treiben der Jrredentisten kein Ende
bereiteten, haben wir ja selbst in Miseren Tagen bitter erleben müssen. Die
Annäherung Italiens an Frankreich nach dem zehnjährigen Zollkrieg (1888 bis
1898), die Zusicherung, die Frankreich Italien 1902 wegen Tripolis gemacht,
dazu die Heirat des regierenden Königs mit einer Prinzessin von Montenegro,
vor allem die Bemühungen der Tripleentente, Italien mit der Aussicht auf den
Besitz von Albanien zu ködern, haben die Blicke des Volkes wieder auf die
Balkanhalbinsel gelenkt und die Jrredentisten mehr als je ermutigt.

Wir von heute werden es ja nun erleben, wieviel Lebenskraft dieser
Jrredentismus besitzt, ob eine revolutionär verbissene Minderheit stark genug
sein wird, die echten und natürlichen Interessen der Nation zu vernichten, ob
wirklich im Lande des Macchiavell eine romantisch überspannte Idee die Herr¬
schaft über die nüchterne Klugheit davontragen kann. Wir hoffen und wünschen,


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[0276] Der italienische Irredentisnms Wirklich hat auch in der Folgezeit die Regierung alles getan, um Tumulte in der Hauptstadt und an anderen Plätzen zugunsten der Jrredenta zu unter¬ drücken, und die Agitation zur Erlösung der Brüder, die für die Jugend immer ihren eigenartig aufreizenden Zauber hatte, zu ersticken. Und mehr als einmal haben besonnene Politiker darauf hingewiesen, daß der Sieg der Jrredentisten eine Rückkehr zu dem glücklich überwundenen Zustand der revolutionären, mühsam gebändigten und gedämpften Leidenschaften des Volkes bedeute, ein Wiederaufleben der Anarchie, die den Italienern nun einmal im Blute liegt. Und mehr als einmal hat die Presse im In- und Ausland das Volk belehrt, daß die Eroberung von Trieft und Trient das Opfer eines blutigen Krieges nicht aufwiege. Trieft besitze nur solange Wert, als es Österreich gehöre. In italienischem Besitz wäre es nur ein Hafen, der entweder auf ein niedrigeres Niveau als Venedig herabsinken oder aber die anderen Häfen Italiens degradieren würde. Eine Eroberung von Trieft aber bedeute die Auflösung der Habsburgischen Monarchie, bedeute damit die Einverleibung der Bukowina und Galiziens durch Rußland, Siebenbürgens durch Rumänien, Bosniens, der Herzegowina und Dalmatiens durch Serbien. „Wir würden," so erklärte im Giornale d'Italia schon vor einigen Jahren der Herzog von Casoria, Luigi Pignatilli (F. von Wanthock Rekowsky), „an unseren Grenzen an Stelle eines verhältnismäßig schwachen, uneinigen Österreich-Ungarn eine kompakte Masse von 95 Millionen Deutschen und eine andere von 20 Millionen Südslawen haben, und beide würden aus verschiedenen Gründen uns feindlich gesinnt sein. Aus der anderen Seite hätten wir ein übennütiges, angriffslustiges Frankreich und ein England, das mehr als jemals Herrin der Meere sein würde und seinen unermeßlichen Besitzungen noch die deutschen Kolonien hinzu¬ gefügt hätte, ganz abgesehen von der Anwartschaft auf die fette, portugiesische Erbschaft. Italien und Libyen würden einfach ersticken in einem Meer, das zu einer englisch-französischen See geworden wäre." Daß aber solche Vernunftgründe dem Treiben der Jrredentisten kein Ende bereiteten, haben wir ja selbst in Miseren Tagen bitter erleben müssen. Die Annäherung Italiens an Frankreich nach dem zehnjährigen Zollkrieg (1888 bis 1898), die Zusicherung, die Frankreich Italien 1902 wegen Tripolis gemacht, dazu die Heirat des regierenden Königs mit einer Prinzessin von Montenegro, vor allem die Bemühungen der Tripleentente, Italien mit der Aussicht auf den Besitz von Albanien zu ködern, haben die Blicke des Volkes wieder auf die Balkanhalbinsel gelenkt und die Jrredentisten mehr als je ermutigt. Wir von heute werden es ja nun erleben, wieviel Lebenskraft dieser Jrredentismus besitzt, ob eine revolutionär verbissene Minderheit stark genug sein wird, die echten und natürlichen Interessen der Nation zu vernichten, ob wirklich im Lande des Macchiavell eine romantisch überspannte Idee die Herr¬ schaft über die nüchterne Klugheit davontragen kann. Wir hoffen und wünschen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/276>, abgerufen am 14.05.2024.