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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Aufgabe ein der Fortentwicklung des Seekriegsrechts

des Seekriegsrechts hinweggesetzt. Völkerrechtliche Gebote, die zu allgemeinen
Kulturforderungen geworden waren, sind hinweggefegt. Aller Kulturfortschritt
ist an den Rechtsanschauungen der Engländer vorübergegangen. Englands
Einfluß auf die Seerechtsentwicklung ist es zu danken, wenn, wie noch vor
hundert Jahren, der Satz gilt: Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig find sie,
nicht zu trennen. Schien es zu Anfang des Krieges, als ob England sich selbst
an die Londoner Seerechtsdeklaration halten wollte, so hat es später stark
enttäuscht. Wie zu erwarten war, hat das Seekriegsrecht während des Krieges
statt eine Fortentwicklung zu erfahren, Rückschritte gemacht und ist ins Wanken
geraten.

Englands Haltung erklärt sich aus verschiedenen Gründen. Seine Lage
ermöglicht ihm, aus dem Kreise der Staaten des Festlandes herauszutreten.
Damit soll in diesem Zusammenhange das Verhalten Englands gewiß nicht als
verständlich hingestellt werden. Vielmehr erscheint England uns häufig als außer¬
halb der Rechtsgemeinschaft der kontinentalen Staaten stehend und deshalb
auch nicht als geeignet, bet einer Fortentwicklung des Rechtes im Sinne der
kontinentalen Staaten mitzuwirken. Immer hat England seine Interessen betont
und wird dies auch in Zukunft zu tun versuchen. Schon der Aufbau des
nationalen englischen Rechts läßt erkennen, wie wenig die englische Rechtsauf¬
fassung mit der der kontinentalen Staaten übereinstimmt. Von einem englischen
Rechtssystem kann kaum die Rede sein. Das Gewohnheitsrecht bestimmt in
England einen großen Teil der Rechtsprechung. Frei von den Fesseln eines
Rechtssystems urteilt der englische Richter. Wenn aber diese Rechtsauffassung
schon für das nationale englische Recht gilt, wieviel mehr wird sie sich dann
in den Jntensionen geltend machen, die England bei völkerrechtlichen Abmachungen
durchzusetzen bestrebt ist. Die unumstößliche Geltung eines Rechtssatzes ist dem
englischen Richter etwas Unbekanntes. Besonders aber dann, wenn die englische
Flotte, der Stolz und die Hoffnung Englands, das letzte Wort redet.

Wie weit sich die englischen Seekriegsrechtsbegriffe von denen anderer
Staaten unterscheiden, geht am besten aus den Äußerungen Gibson Bootes,
einer englischen Autorität auf dem Gebiete des Völkerrechts, hervor. Gibson
Bootes hat ein Werk über die Pariser Deklaration verfaßt und sich den Kampf
gegen die Haager Konventionen und Londoner Deklaration zur Aufgabe gemacht.
Seinem Einfluß ist es zuzuschreiben, daß die Ratifikation der Londoner
Deklaration scheiterte. Gibson Bootes betrachtet jede internationale Bestimmung
über die Führung des Seekrieges als eine Einschränkung der britischen See¬
herrschaft und eine unerträgliche Beleidigung des britischen Volkes. Ein Beweis
der Unfähigkeit eines englischen Staatsmannes sei es, wenn er sich in die Ab¬
hängigkeit internationaler Verträge begebe. Die Notwendigkeit, Verträge zu
schließen, liege für England niemals vor. Für Bootes bildet das sink, bum
sua äestwy ein notwendiges Attribut und ein Erfordernis der Machtstellung
und Wirtschaftspolitik Englands. Er begrüßt es. daß die Londoner Deklaration


Die deutsche Aufgabe ein der Fortentwicklung des Seekriegsrechts

des Seekriegsrechts hinweggesetzt. Völkerrechtliche Gebote, die zu allgemeinen
Kulturforderungen geworden waren, sind hinweggefegt. Aller Kulturfortschritt
ist an den Rechtsanschauungen der Engländer vorübergegangen. Englands
Einfluß auf die Seerechtsentwicklung ist es zu danken, wenn, wie noch vor
hundert Jahren, der Satz gilt: Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig find sie,
nicht zu trennen. Schien es zu Anfang des Krieges, als ob England sich selbst
an die Londoner Seerechtsdeklaration halten wollte, so hat es später stark
enttäuscht. Wie zu erwarten war, hat das Seekriegsrecht während des Krieges
statt eine Fortentwicklung zu erfahren, Rückschritte gemacht und ist ins Wanken
geraten.

Englands Haltung erklärt sich aus verschiedenen Gründen. Seine Lage
ermöglicht ihm, aus dem Kreise der Staaten des Festlandes herauszutreten.
Damit soll in diesem Zusammenhange das Verhalten Englands gewiß nicht als
verständlich hingestellt werden. Vielmehr erscheint England uns häufig als außer¬
halb der Rechtsgemeinschaft der kontinentalen Staaten stehend und deshalb
auch nicht als geeignet, bet einer Fortentwicklung des Rechtes im Sinne der
kontinentalen Staaten mitzuwirken. Immer hat England seine Interessen betont
und wird dies auch in Zukunft zu tun versuchen. Schon der Aufbau des
nationalen englischen Rechts läßt erkennen, wie wenig die englische Rechtsauf¬
fassung mit der der kontinentalen Staaten übereinstimmt. Von einem englischen
Rechtssystem kann kaum die Rede sein. Das Gewohnheitsrecht bestimmt in
England einen großen Teil der Rechtsprechung. Frei von den Fesseln eines
Rechtssystems urteilt der englische Richter. Wenn aber diese Rechtsauffassung
schon für das nationale englische Recht gilt, wieviel mehr wird sie sich dann
in den Jntensionen geltend machen, die England bei völkerrechtlichen Abmachungen
durchzusetzen bestrebt ist. Die unumstößliche Geltung eines Rechtssatzes ist dem
englischen Richter etwas Unbekanntes. Besonders aber dann, wenn die englische
Flotte, der Stolz und die Hoffnung Englands, das letzte Wort redet.

Wie weit sich die englischen Seekriegsrechtsbegriffe von denen anderer
Staaten unterscheiden, geht am besten aus den Äußerungen Gibson Bootes,
einer englischen Autorität auf dem Gebiete des Völkerrechts, hervor. Gibson
Bootes hat ein Werk über die Pariser Deklaration verfaßt und sich den Kampf
gegen die Haager Konventionen und Londoner Deklaration zur Aufgabe gemacht.
Seinem Einfluß ist es zuzuschreiben, daß die Ratifikation der Londoner
Deklaration scheiterte. Gibson Bootes betrachtet jede internationale Bestimmung
über die Führung des Seekrieges als eine Einschränkung der britischen See¬
herrschaft und eine unerträgliche Beleidigung des britischen Volkes. Ein Beweis
der Unfähigkeit eines englischen Staatsmannes sei es, wenn er sich in die Ab¬
hängigkeit internationaler Verträge begebe. Die Notwendigkeit, Verträge zu
schließen, liege für England niemals vor. Für Bootes bildet das sink, bum
sua äestwy ein notwendiges Attribut und ein Erfordernis der Machtstellung
und Wirtschaftspolitik Englands. Er begrüßt es. daß die Londoner Deklaration


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[0302] Die deutsche Aufgabe ein der Fortentwicklung des Seekriegsrechts des Seekriegsrechts hinweggesetzt. Völkerrechtliche Gebote, die zu allgemeinen Kulturforderungen geworden waren, sind hinweggefegt. Aller Kulturfortschritt ist an den Rechtsanschauungen der Engländer vorübergegangen. Englands Einfluß auf die Seerechtsentwicklung ist es zu danken, wenn, wie noch vor hundert Jahren, der Satz gilt: Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig find sie, nicht zu trennen. Schien es zu Anfang des Krieges, als ob England sich selbst an die Londoner Seerechtsdeklaration halten wollte, so hat es später stark enttäuscht. Wie zu erwarten war, hat das Seekriegsrecht während des Krieges statt eine Fortentwicklung zu erfahren, Rückschritte gemacht und ist ins Wanken geraten. Englands Haltung erklärt sich aus verschiedenen Gründen. Seine Lage ermöglicht ihm, aus dem Kreise der Staaten des Festlandes herauszutreten. Damit soll in diesem Zusammenhange das Verhalten Englands gewiß nicht als verständlich hingestellt werden. Vielmehr erscheint England uns häufig als außer¬ halb der Rechtsgemeinschaft der kontinentalen Staaten stehend und deshalb auch nicht als geeignet, bet einer Fortentwicklung des Rechtes im Sinne der kontinentalen Staaten mitzuwirken. Immer hat England seine Interessen betont und wird dies auch in Zukunft zu tun versuchen. Schon der Aufbau des nationalen englischen Rechts läßt erkennen, wie wenig die englische Rechtsauf¬ fassung mit der der kontinentalen Staaten übereinstimmt. Von einem englischen Rechtssystem kann kaum die Rede sein. Das Gewohnheitsrecht bestimmt in England einen großen Teil der Rechtsprechung. Frei von den Fesseln eines Rechtssystems urteilt der englische Richter. Wenn aber diese Rechtsauffassung schon für das nationale englische Recht gilt, wieviel mehr wird sie sich dann in den Jntensionen geltend machen, die England bei völkerrechtlichen Abmachungen durchzusetzen bestrebt ist. Die unumstößliche Geltung eines Rechtssatzes ist dem englischen Richter etwas Unbekanntes. Besonders aber dann, wenn die englische Flotte, der Stolz und die Hoffnung Englands, das letzte Wort redet. Wie weit sich die englischen Seekriegsrechtsbegriffe von denen anderer Staaten unterscheiden, geht am besten aus den Äußerungen Gibson Bootes, einer englischen Autorität auf dem Gebiete des Völkerrechts, hervor. Gibson Bootes hat ein Werk über die Pariser Deklaration verfaßt und sich den Kampf gegen die Haager Konventionen und Londoner Deklaration zur Aufgabe gemacht. Seinem Einfluß ist es zuzuschreiben, daß die Ratifikation der Londoner Deklaration scheiterte. Gibson Bootes betrachtet jede internationale Bestimmung über die Führung des Seekrieges als eine Einschränkung der britischen See¬ herrschaft und eine unerträgliche Beleidigung des britischen Volkes. Ein Beweis der Unfähigkeit eines englischen Staatsmannes sei es, wenn er sich in die Ab¬ hängigkeit internationaler Verträge begebe. Die Notwendigkeit, Verträge zu schließen, liege für England niemals vor. Für Bootes bildet das sink, bum sua äestwy ein notwendiges Attribut und ein Erfordernis der Machtstellung und Wirtschaftspolitik Englands. Er begrüßt es. daß die Londoner Deklaration

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/302>, abgerufen am 14.05.2024.