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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Neue Entwicklungstendenzen des Neutralitätsrechts

Staat die Vorteile, die der einen Partei aus der Beherrschung der Meeres¬
straßen erwüchsen, nicht durch ein Ausfuhrverbot zunichte machen. Wenn
Deutschland im Gegensatze zu England und Frankreich von der Zufuhr von
Amerika abgeschnitten sei, so sei es nicht Aufgabe des neutralen Staates, diesen
Nachteil durch ein Ausfuhrverbot auszugleichen; vielmehr bestehe die einzige
Möglichkeit darin, daß Deutschland versuche, die Seeherrschaft an sich zu reißen.
Amerika müsse sich mit dem formalen Standpunkte begnügen, beiden Parteien
die Märkte offen zu halten.

Wer dagegen opponiert, dem wird nun noch weiter gesagt, das Neutralitäts¬
recht sei nun einmal ein formelles Recht; der neutrale Staat könne nicht jeden
Augenblick seine Gesetzgebung dem Stande des Krieges anpassen.

Aber bei diesen Ausführungen wird ganz vergessen, daß bisher die
Waffenlieferungen zwar eine nicht unwesentliche, aber doch niemals entscheidende
Bedeutung hatten. Es war regelmäßig so, daß die kriegführenden Mächte
selbst über bedeutende Munitionsmengen verfügten und daß die neutralen
Staaten, wenn auch die Zufuhr von dem einen oder anderen Lande gehindert
war, unschwer den nötigen Nachschub gewährleisten konnten. Das ist aber
anders geworden, seitdem durch die moderne Feuergeschwindigkeit, insbesondere
die Maschinengewehre, Unsummen von Munition gebraucht werden und neutrale
Staaten gar nicht im großen Stile solche Nachlieferungen bewerkstelligen können,
wenn sich ihre Fabriken nicht geradezu besonders darauf einrichten. Jetzt hat
auf einmal die Waffenlieferung eine so gewaltige Bedeutung, daß der Grund¬
satz formeller Gleichheit nicht mehr genügt; es dürfen entweder nur beide
Parteien oder keine unterstützt werden. In einem lichtvollen Aufsatze im "Tag"
hat kürzlich Generalleutnant von Reichen"" die große Feuergeschwindigkeit der
modernen Waffen hervorgehoben und gesagt, daß infolgedessen große Munitions¬
mengen zur Verfügung stehen müßten, wie sie nur eine leistungsfähige Industrie
schaffen könne. Durch diese Umwälzung in der Art der Kriegsführung ist das
Problem ein ganz anderes geworden. Zwar wird man auch heute noch sagen
dürfen, daß dort, wo es sich um geringere Waffenlieferungen handelt, die
formell gleiche Behandlung aller Kriegführenden genügt. Dort aber, wo die
Beschaffung ungeheurer Mengen in Frage steht, wo die Industrie eines Landes
fieberhaft daran arbeitet, einer einzigen Kriegspartei Munition und Waffen
zu liefern, da muß ein Ausfuhrverbot erlassen werden, weil in Anbetracht des
ungeheuren Vorteils, den die eine Partei vor der anderen erfährt, der wahre
Grundsatz der Neutralität nicht mehr als gewahrt anzusehen ist. Wahrlich,
wenn die amerikanischen Staatsmänner sich einmal den Fall in dieser Weise
klar machten, dann würden sie zu dem Erlasse eines Ausfuhrverbotes gelangen.
Sie müßten sich fragen, ob es nicht wieder ein großer Schritt vorwärts in der
Entwicklung des Rechts und der Gerechtigkeit im Völkerleben bedeutete, wenn
Amerika trotz der ungeheuren Vorteile, auf die die amerikanische Industrie im
Falle eines Ausfuhrverbotes verzichten müßte, diesen Bruch mit dem bisherigen


Neue Entwicklungstendenzen des Neutralitätsrechts

Staat die Vorteile, die der einen Partei aus der Beherrschung der Meeres¬
straßen erwüchsen, nicht durch ein Ausfuhrverbot zunichte machen. Wenn
Deutschland im Gegensatze zu England und Frankreich von der Zufuhr von
Amerika abgeschnitten sei, so sei es nicht Aufgabe des neutralen Staates, diesen
Nachteil durch ein Ausfuhrverbot auszugleichen; vielmehr bestehe die einzige
Möglichkeit darin, daß Deutschland versuche, die Seeherrschaft an sich zu reißen.
Amerika müsse sich mit dem formalen Standpunkte begnügen, beiden Parteien
die Märkte offen zu halten.

Wer dagegen opponiert, dem wird nun noch weiter gesagt, das Neutralitäts¬
recht sei nun einmal ein formelles Recht; der neutrale Staat könne nicht jeden
Augenblick seine Gesetzgebung dem Stande des Krieges anpassen.

Aber bei diesen Ausführungen wird ganz vergessen, daß bisher die
Waffenlieferungen zwar eine nicht unwesentliche, aber doch niemals entscheidende
Bedeutung hatten. Es war regelmäßig so, daß die kriegführenden Mächte
selbst über bedeutende Munitionsmengen verfügten und daß die neutralen
Staaten, wenn auch die Zufuhr von dem einen oder anderen Lande gehindert
war, unschwer den nötigen Nachschub gewährleisten konnten. Das ist aber
anders geworden, seitdem durch die moderne Feuergeschwindigkeit, insbesondere
die Maschinengewehre, Unsummen von Munition gebraucht werden und neutrale
Staaten gar nicht im großen Stile solche Nachlieferungen bewerkstelligen können,
wenn sich ihre Fabriken nicht geradezu besonders darauf einrichten. Jetzt hat
auf einmal die Waffenlieferung eine so gewaltige Bedeutung, daß der Grund¬
satz formeller Gleichheit nicht mehr genügt; es dürfen entweder nur beide
Parteien oder keine unterstützt werden. In einem lichtvollen Aufsatze im „Tag"
hat kürzlich Generalleutnant von Reichen«» die große Feuergeschwindigkeit der
modernen Waffen hervorgehoben und gesagt, daß infolgedessen große Munitions¬
mengen zur Verfügung stehen müßten, wie sie nur eine leistungsfähige Industrie
schaffen könne. Durch diese Umwälzung in der Art der Kriegsführung ist das
Problem ein ganz anderes geworden. Zwar wird man auch heute noch sagen
dürfen, daß dort, wo es sich um geringere Waffenlieferungen handelt, die
formell gleiche Behandlung aller Kriegführenden genügt. Dort aber, wo die
Beschaffung ungeheurer Mengen in Frage steht, wo die Industrie eines Landes
fieberhaft daran arbeitet, einer einzigen Kriegspartei Munition und Waffen
zu liefern, da muß ein Ausfuhrverbot erlassen werden, weil in Anbetracht des
ungeheuren Vorteils, den die eine Partei vor der anderen erfährt, der wahre
Grundsatz der Neutralität nicht mehr als gewahrt anzusehen ist. Wahrlich,
wenn die amerikanischen Staatsmänner sich einmal den Fall in dieser Weise
klar machten, dann würden sie zu dem Erlasse eines Ausfuhrverbotes gelangen.
Sie müßten sich fragen, ob es nicht wieder ein großer Schritt vorwärts in der
Entwicklung des Rechts und der Gerechtigkeit im Völkerleben bedeutete, wenn
Amerika trotz der ungeheuren Vorteile, auf die die amerikanische Industrie im
Falle eines Ausfuhrverbotes verzichten müßte, diesen Bruch mit dem bisherigen


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[0366] Neue Entwicklungstendenzen des Neutralitätsrechts Staat die Vorteile, die der einen Partei aus der Beherrschung der Meeres¬ straßen erwüchsen, nicht durch ein Ausfuhrverbot zunichte machen. Wenn Deutschland im Gegensatze zu England und Frankreich von der Zufuhr von Amerika abgeschnitten sei, so sei es nicht Aufgabe des neutralen Staates, diesen Nachteil durch ein Ausfuhrverbot auszugleichen; vielmehr bestehe die einzige Möglichkeit darin, daß Deutschland versuche, die Seeherrschaft an sich zu reißen. Amerika müsse sich mit dem formalen Standpunkte begnügen, beiden Parteien die Märkte offen zu halten. Wer dagegen opponiert, dem wird nun noch weiter gesagt, das Neutralitäts¬ recht sei nun einmal ein formelles Recht; der neutrale Staat könne nicht jeden Augenblick seine Gesetzgebung dem Stande des Krieges anpassen. Aber bei diesen Ausführungen wird ganz vergessen, daß bisher die Waffenlieferungen zwar eine nicht unwesentliche, aber doch niemals entscheidende Bedeutung hatten. Es war regelmäßig so, daß die kriegführenden Mächte selbst über bedeutende Munitionsmengen verfügten und daß die neutralen Staaten, wenn auch die Zufuhr von dem einen oder anderen Lande gehindert war, unschwer den nötigen Nachschub gewährleisten konnten. Das ist aber anders geworden, seitdem durch die moderne Feuergeschwindigkeit, insbesondere die Maschinengewehre, Unsummen von Munition gebraucht werden und neutrale Staaten gar nicht im großen Stile solche Nachlieferungen bewerkstelligen können, wenn sich ihre Fabriken nicht geradezu besonders darauf einrichten. Jetzt hat auf einmal die Waffenlieferung eine so gewaltige Bedeutung, daß der Grund¬ satz formeller Gleichheit nicht mehr genügt; es dürfen entweder nur beide Parteien oder keine unterstützt werden. In einem lichtvollen Aufsatze im „Tag" hat kürzlich Generalleutnant von Reichen«» die große Feuergeschwindigkeit der modernen Waffen hervorgehoben und gesagt, daß infolgedessen große Munitions¬ mengen zur Verfügung stehen müßten, wie sie nur eine leistungsfähige Industrie schaffen könne. Durch diese Umwälzung in der Art der Kriegsführung ist das Problem ein ganz anderes geworden. Zwar wird man auch heute noch sagen dürfen, daß dort, wo es sich um geringere Waffenlieferungen handelt, die formell gleiche Behandlung aller Kriegführenden genügt. Dort aber, wo die Beschaffung ungeheurer Mengen in Frage steht, wo die Industrie eines Landes fieberhaft daran arbeitet, einer einzigen Kriegspartei Munition und Waffen zu liefern, da muß ein Ausfuhrverbot erlassen werden, weil in Anbetracht des ungeheuren Vorteils, den die eine Partei vor der anderen erfährt, der wahre Grundsatz der Neutralität nicht mehr als gewahrt anzusehen ist. Wahrlich, wenn die amerikanischen Staatsmänner sich einmal den Fall in dieser Weise klar machten, dann würden sie zu dem Erlasse eines Ausfuhrverbotes gelangen. Sie müßten sich fragen, ob es nicht wieder ein großer Schritt vorwärts in der Entwicklung des Rechts und der Gerechtigkeit im Völkerleben bedeutete, wenn Amerika trotz der ungeheuren Vorteile, auf die die amerikanische Industrie im Falle eines Ausfuhrverbotes verzichten müßte, diesen Bruch mit dem bisherigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/366>, abgerufen am 15.05.2024.