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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die Begründung des Königreichs Belgien

fühlten sich innerlich geeint durch die katholische Kirche und die auch in den
viamischen Landen in den gebildeten Klassen herrschende französische Sprache
gegen die reformierten und niederdeutsch sprechenden Holländer. Trotz
ihrer größeren Bevölkerungszahl waren sie nicht nur in der Volksvertretung
zurückgesetzt, auch die meisten Stellen der Offiziere und höheren Beamten waren
mit Holländern besetzt, wie man alle Angehörigen der nördlichen Provinzen
nannte. Die unter dem Kontinentalst) Stein Napoleons eben im Aufblühen be¬
findliche Industrie des Südens wurde wieder erdrückt durch die holländische
Handelspolitik. Dafür durfte aber der Süden die Schuldenlast des Nordens
in gleicher Verteilung als Schuld des Gesamtstaates mittragen. Kurz, die an
Bevölkerungszahl erheblich größere südliche Hälfte fühlte sich nicht mit Unrecht
nur als unterworfene holländische Provinz.

Die Führung der Unzufriedenen übernahm der katholische Klerus, dem
die Negierung den Einfluß auf die Schule entziehen wollte. Daneben erregte
seltsamerweise der Versuch der Regierung, der niederländischen Sprache in den
rein vlämischen Provinzen auf Kosten des Französischen mehr Eingang zu ver¬
schaffen, den größten Anstoß, obgleich holländisch und vlämisch dieselbe nieder¬
ländische Schriftsprache haben und sich dialektisch nur wenig voneinander unter¬
scheiden.

Die französische Julirevolution zerriß zuerst die Verträge von 1815. Mit
seiner allgemeinen revolutionären Erregung weit über Frankreichs Grenzen
hinaus bildete daher das Jahr 1330 einen Vorläufer von 1848. In dem
fieberhaft erregten Brüssel, wo die Stimmung durch französische Abgesandte
bearbeitet war, kam es am 25. August, dem Geburtstage des Königs, gelegentlich
der Aufführung der "Stummen von Portici" zum bewaffneten Aufstande, der
sich bald über das ganze Land ausbreitete. Am 20. September wurde eine
provisorische Regierung unter de Potter gebildet, am 23. mißglückte ein Angriff
des Prinzen Friedrich der Niederlande auf Brüssel, und am 4. Oktober erfolgte
die Erklärung der Unabhängigkeit Belgiens, die der inzwischen berufene National¬
kongreß unter dem Vorsitze de Potters am 10. Oktober wiederholte. Mit Aus¬
nahme von Luxemburg, Maestricht, der Citadelle von Antwerpen und der
Scheldeforts Lillo und Liefkenshoek war das ganze von Belgien beanspruchte
Gebiet schneller, als man zu hoffen gewagt hatte, von den Holländern befreit.

Eine ganz andere Frage war es nun aber, wie die europäischen
Mächte diese Zerreißung der Wiener Kongreßakte auffassen würden. Zwei
Mächte hatten von vornherein eine gegebene Stellung. Kaiser Nikolaus der
Erste von Rußland wollte sein Heer zum Schutze der bedrohten Legitimität
und der Wiener Verträge marschieren lassen und hätte zweifellos auch Preußen
und Österreich in derselben Richtung mit fortgerissen. Nur brach zum Leidwesen
Rußlands gerade in diesem Zeitpunkte die polnische Revolution aus, und das
russische Heer konnte nicht nach dem Rhein und der Maas marschieren, weil
es am Bug und Narew zu tun bekam. Anderseits mußte der illegitime


Die Begründung des Königreichs Belgien

fühlten sich innerlich geeint durch die katholische Kirche und die auch in den
viamischen Landen in den gebildeten Klassen herrschende französische Sprache
gegen die reformierten und niederdeutsch sprechenden Holländer. Trotz
ihrer größeren Bevölkerungszahl waren sie nicht nur in der Volksvertretung
zurückgesetzt, auch die meisten Stellen der Offiziere und höheren Beamten waren
mit Holländern besetzt, wie man alle Angehörigen der nördlichen Provinzen
nannte. Die unter dem Kontinentalst) Stein Napoleons eben im Aufblühen be¬
findliche Industrie des Südens wurde wieder erdrückt durch die holländische
Handelspolitik. Dafür durfte aber der Süden die Schuldenlast des Nordens
in gleicher Verteilung als Schuld des Gesamtstaates mittragen. Kurz, die an
Bevölkerungszahl erheblich größere südliche Hälfte fühlte sich nicht mit Unrecht
nur als unterworfene holländische Provinz.

Die Führung der Unzufriedenen übernahm der katholische Klerus, dem
die Negierung den Einfluß auf die Schule entziehen wollte. Daneben erregte
seltsamerweise der Versuch der Regierung, der niederländischen Sprache in den
rein vlämischen Provinzen auf Kosten des Französischen mehr Eingang zu ver¬
schaffen, den größten Anstoß, obgleich holländisch und vlämisch dieselbe nieder¬
ländische Schriftsprache haben und sich dialektisch nur wenig voneinander unter¬
scheiden.

Die französische Julirevolution zerriß zuerst die Verträge von 1815. Mit
seiner allgemeinen revolutionären Erregung weit über Frankreichs Grenzen
hinaus bildete daher das Jahr 1330 einen Vorläufer von 1848. In dem
fieberhaft erregten Brüssel, wo die Stimmung durch französische Abgesandte
bearbeitet war, kam es am 25. August, dem Geburtstage des Königs, gelegentlich
der Aufführung der „Stummen von Portici" zum bewaffneten Aufstande, der
sich bald über das ganze Land ausbreitete. Am 20. September wurde eine
provisorische Regierung unter de Potter gebildet, am 23. mißglückte ein Angriff
des Prinzen Friedrich der Niederlande auf Brüssel, und am 4. Oktober erfolgte
die Erklärung der Unabhängigkeit Belgiens, die der inzwischen berufene National¬
kongreß unter dem Vorsitze de Potters am 10. Oktober wiederholte. Mit Aus¬
nahme von Luxemburg, Maestricht, der Citadelle von Antwerpen und der
Scheldeforts Lillo und Liefkenshoek war das ganze von Belgien beanspruchte
Gebiet schneller, als man zu hoffen gewagt hatte, von den Holländern befreit.

Eine ganz andere Frage war es nun aber, wie die europäischen
Mächte diese Zerreißung der Wiener Kongreßakte auffassen würden. Zwei
Mächte hatten von vornherein eine gegebene Stellung. Kaiser Nikolaus der
Erste von Rußland wollte sein Heer zum Schutze der bedrohten Legitimität
und der Wiener Verträge marschieren lassen und hätte zweifellos auch Preußen
und Österreich in derselben Richtung mit fortgerissen. Nur brach zum Leidwesen
Rußlands gerade in diesem Zeitpunkte die polnische Revolution aus, und das
russische Heer konnte nicht nach dem Rhein und der Maas marschieren, weil
es am Bug und Narew zu tun bekam. Anderseits mußte der illegitime


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[0372] Die Begründung des Königreichs Belgien fühlten sich innerlich geeint durch die katholische Kirche und die auch in den viamischen Landen in den gebildeten Klassen herrschende französische Sprache gegen die reformierten und niederdeutsch sprechenden Holländer. Trotz ihrer größeren Bevölkerungszahl waren sie nicht nur in der Volksvertretung zurückgesetzt, auch die meisten Stellen der Offiziere und höheren Beamten waren mit Holländern besetzt, wie man alle Angehörigen der nördlichen Provinzen nannte. Die unter dem Kontinentalst) Stein Napoleons eben im Aufblühen be¬ findliche Industrie des Südens wurde wieder erdrückt durch die holländische Handelspolitik. Dafür durfte aber der Süden die Schuldenlast des Nordens in gleicher Verteilung als Schuld des Gesamtstaates mittragen. Kurz, die an Bevölkerungszahl erheblich größere südliche Hälfte fühlte sich nicht mit Unrecht nur als unterworfene holländische Provinz. Die Führung der Unzufriedenen übernahm der katholische Klerus, dem die Negierung den Einfluß auf die Schule entziehen wollte. Daneben erregte seltsamerweise der Versuch der Regierung, der niederländischen Sprache in den rein vlämischen Provinzen auf Kosten des Französischen mehr Eingang zu ver¬ schaffen, den größten Anstoß, obgleich holländisch und vlämisch dieselbe nieder¬ ländische Schriftsprache haben und sich dialektisch nur wenig voneinander unter¬ scheiden. Die französische Julirevolution zerriß zuerst die Verträge von 1815. Mit seiner allgemeinen revolutionären Erregung weit über Frankreichs Grenzen hinaus bildete daher das Jahr 1330 einen Vorläufer von 1848. In dem fieberhaft erregten Brüssel, wo die Stimmung durch französische Abgesandte bearbeitet war, kam es am 25. August, dem Geburtstage des Königs, gelegentlich der Aufführung der „Stummen von Portici" zum bewaffneten Aufstande, der sich bald über das ganze Land ausbreitete. Am 20. September wurde eine provisorische Regierung unter de Potter gebildet, am 23. mißglückte ein Angriff des Prinzen Friedrich der Niederlande auf Brüssel, und am 4. Oktober erfolgte die Erklärung der Unabhängigkeit Belgiens, die der inzwischen berufene National¬ kongreß unter dem Vorsitze de Potters am 10. Oktober wiederholte. Mit Aus¬ nahme von Luxemburg, Maestricht, der Citadelle von Antwerpen und der Scheldeforts Lillo und Liefkenshoek war das ganze von Belgien beanspruchte Gebiet schneller, als man zu hoffen gewagt hatte, von den Holländern befreit. Eine ganz andere Frage war es nun aber, wie die europäischen Mächte diese Zerreißung der Wiener Kongreßakte auffassen würden. Zwei Mächte hatten von vornherein eine gegebene Stellung. Kaiser Nikolaus der Erste von Rußland wollte sein Heer zum Schutze der bedrohten Legitimität und der Wiener Verträge marschieren lassen und hätte zweifellos auch Preußen und Österreich in derselben Richtung mit fortgerissen. Nur brach zum Leidwesen Rußlands gerade in diesem Zeitpunkte die polnische Revolution aus, und das russische Heer konnte nicht nach dem Rhein und der Maas marschieren, weil es am Bug und Narew zu tun bekam. Anderseits mußte der illegitime

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/372>, abgerufen am 15.05.2024.