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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Geistesstörungen in Kriegszeiten

vorausgesetzt werden müssen, wo Menschen sich den Anforderungen der Zeit
als nicht gewachsen zeigen! Ganz besonders muß das von allen echten und
schweren Geisteskrankheiten gelten, deren schlummernder Keim, bisher vielleicht
völlig verborgen, unter den Stürmen einer wildbewegten, nervenerschütternden
Zeit zu unheilvoller Entwicklung gelangt. Es ist als erwiesen anzusehen, daß
zum Beispiel die gefürchtete und nicht seltene fortschreitende Gehirnerweichung
bei allen den Personen, die des Leidens Keim in sich tragen (aber auch nur
bei diesen!), unter den Erregungen und bei den Feldzugsteilnehmern auch in¬
folge der körperlichen Anstrengungen und Entbehrungen frühzeitiger und schwerer
zum Ausbruch gelangt, als wie es unter anderen Verhältnissen der Fall gewesen
wäre. -- Die Äußerungen stärkerer seelischer Erschütterungen und völliger Zu¬
sammenbruche sind sehr verschiedene, und es läßt sich ein besonderer Typus der¬
selben nicht aufstellen. Neben den bereits geschilderten Erscheinungsformen
hysterischer und neurasthenischer Seelenstörung sind als häufigere Kennzeichen
seelischen Niederbruches Versagen der Glieder, Sinnestäuschungen der mannig¬
fachsten Art und Stärke, Teilnahmlosigkeit bis zu anscheinend völliger Empfindungs¬
losigkeit oder außerordentlich gesteigerte Empfindlichkeit auf gemütlichen und
auch auf körperlichem Gebiete, die sich unter anderem in starkem anhaltenden
Zittern des ganzen Körpers bei dem geringsten Geräusch oder der leisesten
Berührung äußert, zu verzeichnen. Einen besonders breiten Raum unter den
krankhaften Seelenäußerungen nimmt naturgemäß die Angst in allen möglichen
Erscheinungsformen ein und zwar bezeichnender- und erfreulicherweise fast
ausschließlich unter der Zivilbevölkerung. Im Heere gelangt in seltenen
Fällen und stets bet seelisch krankhaft veranlagten Leuten ein als "Schreck¬
psychose" bezeichneter Zustand zur Beobachtung, bei dem das betreffende In¬
dividuum unter einer plötzlichen und besonders schweren Erschütterung, beispiels¬
weise unter dem Eindrucke einer in nächster Nähe platzenden Granate, nervös
zusammenbricht.

Die Ursachen all dieser geschilderten unerfreulichen Erscheinungen und
Entwicklungsmöglichkeiten liegen, wie wiederholt erwähnt, im Individuum selbst
und zwar in einer krankhaften Anlage in der seelisch-nervösen Sphäre. Der
Krieg und seine Eindrücke sind fast ausnahmslos nur das auslösende Moment.
Aber es darf nicht geleugnet werden, daß es zweifellos Fälle gibt, in denen
es menschliche Anmaßung wäre, nach einer "Anlage" zu forschen: Wenn der
Gram über einer Mutter, die vielleicht den dritten und letzten Sohn fürs
Vaterland hat sterben sehen, den dunklen unzerreißbaren Schleier des geistigen
Todes, die Nacht des Wahnsinns, breitet, bedarf es wohl kaum einer "krank¬
haften Anlage", um den Niederbruch einer mit Keulenschlägen des Leides zer¬
schmetterten Menschenseele zu erklären.

Die Behandlung der unter den Eindrücken und Einflüssen der Kriegszeit
entstandenen seelischen Erkrankungen unterscheidet sich naturgemäß in nichts von
den zu anderen Zeiten wissenschaftlich anerkannten und bewährten Methoden.


Geistesstörungen in Kriegszeiten

vorausgesetzt werden müssen, wo Menschen sich den Anforderungen der Zeit
als nicht gewachsen zeigen! Ganz besonders muß das von allen echten und
schweren Geisteskrankheiten gelten, deren schlummernder Keim, bisher vielleicht
völlig verborgen, unter den Stürmen einer wildbewegten, nervenerschütternden
Zeit zu unheilvoller Entwicklung gelangt. Es ist als erwiesen anzusehen, daß
zum Beispiel die gefürchtete und nicht seltene fortschreitende Gehirnerweichung
bei allen den Personen, die des Leidens Keim in sich tragen (aber auch nur
bei diesen!), unter den Erregungen und bei den Feldzugsteilnehmern auch in¬
folge der körperlichen Anstrengungen und Entbehrungen frühzeitiger und schwerer
zum Ausbruch gelangt, als wie es unter anderen Verhältnissen der Fall gewesen
wäre. — Die Äußerungen stärkerer seelischer Erschütterungen und völliger Zu¬
sammenbruche sind sehr verschiedene, und es läßt sich ein besonderer Typus der¬
selben nicht aufstellen. Neben den bereits geschilderten Erscheinungsformen
hysterischer und neurasthenischer Seelenstörung sind als häufigere Kennzeichen
seelischen Niederbruches Versagen der Glieder, Sinnestäuschungen der mannig¬
fachsten Art und Stärke, Teilnahmlosigkeit bis zu anscheinend völliger Empfindungs¬
losigkeit oder außerordentlich gesteigerte Empfindlichkeit auf gemütlichen und
auch auf körperlichem Gebiete, die sich unter anderem in starkem anhaltenden
Zittern des ganzen Körpers bei dem geringsten Geräusch oder der leisesten
Berührung äußert, zu verzeichnen. Einen besonders breiten Raum unter den
krankhaften Seelenäußerungen nimmt naturgemäß die Angst in allen möglichen
Erscheinungsformen ein und zwar bezeichnender- und erfreulicherweise fast
ausschließlich unter der Zivilbevölkerung. Im Heere gelangt in seltenen
Fällen und stets bet seelisch krankhaft veranlagten Leuten ein als „Schreck¬
psychose" bezeichneter Zustand zur Beobachtung, bei dem das betreffende In¬
dividuum unter einer plötzlichen und besonders schweren Erschütterung, beispiels¬
weise unter dem Eindrucke einer in nächster Nähe platzenden Granate, nervös
zusammenbricht.

Die Ursachen all dieser geschilderten unerfreulichen Erscheinungen und
Entwicklungsmöglichkeiten liegen, wie wiederholt erwähnt, im Individuum selbst
und zwar in einer krankhaften Anlage in der seelisch-nervösen Sphäre. Der
Krieg und seine Eindrücke sind fast ausnahmslos nur das auslösende Moment.
Aber es darf nicht geleugnet werden, daß es zweifellos Fälle gibt, in denen
es menschliche Anmaßung wäre, nach einer „Anlage" zu forschen: Wenn der
Gram über einer Mutter, die vielleicht den dritten und letzten Sohn fürs
Vaterland hat sterben sehen, den dunklen unzerreißbaren Schleier des geistigen
Todes, die Nacht des Wahnsinns, breitet, bedarf es wohl kaum einer „krank¬
haften Anlage", um den Niederbruch einer mit Keulenschlägen des Leides zer¬
schmetterten Menschenseele zu erklären.

Die Behandlung der unter den Eindrücken und Einflüssen der Kriegszeit
entstandenen seelischen Erkrankungen unterscheidet sich naturgemäß in nichts von
den zu anderen Zeiten wissenschaftlich anerkannten und bewährten Methoden.


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[0418] Geistesstörungen in Kriegszeiten vorausgesetzt werden müssen, wo Menschen sich den Anforderungen der Zeit als nicht gewachsen zeigen! Ganz besonders muß das von allen echten und schweren Geisteskrankheiten gelten, deren schlummernder Keim, bisher vielleicht völlig verborgen, unter den Stürmen einer wildbewegten, nervenerschütternden Zeit zu unheilvoller Entwicklung gelangt. Es ist als erwiesen anzusehen, daß zum Beispiel die gefürchtete und nicht seltene fortschreitende Gehirnerweichung bei allen den Personen, die des Leidens Keim in sich tragen (aber auch nur bei diesen!), unter den Erregungen und bei den Feldzugsteilnehmern auch in¬ folge der körperlichen Anstrengungen und Entbehrungen frühzeitiger und schwerer zum Ausbruch gelangt, als wie es unter anderen Verhältnissen der Fall gewesen wäre. — Die Äußerungen stärkerer seelischer Erschütterungen und völliger Zu¬ sammenbruche sind sehr verschiedene, und es läßt sich ein besonderer Typus der¬ selben nicht aufstellen. Neben den bereits geschilderten Erscheinungsformen hysterischer und neurasthenischer Seelenstörung sind als häufigere Kennzeichen seelischen Niederbruches Versagen der Glieder, Sinnestäuschungen der mannig¬ fachsten Art und Stärke, Teilnahmlosigkeit bis zu anscheinend völliger Empfindungs¬ losigkeit oder außerordentlich gesteigerte Empfindlichkeit auf gemütlichen und auch auf körperlichem Gebiete, die sich unter anderem in starkem anhaltenden Zittern des ganzen Körpers bei dem geringsten Geräusch oder der leisesten Berührung äußert, zu verzeichnen. Einen besonders breiten Raum unter den krankhaften Seelenäußerungen nimmt naturgemäß die Angst in allen möglichen Erscheinungsformen ein und zwar bezeichnender- und erfreulicherweise fast ausschließlich unter der Zivilbevölkerung. Im Heere gelangt in seltenen Fällen und stets bet seelisch krankhaft veranlagten Leuten ein als „Schreck¬ psychose" bezeichneter Zustand zur Beobachtung, bei dem das betreffende In¬ dividuum unter einer plötzlichen und besonders schweren Erschütterung, beispiels¬ weise unter dem Eindrucke einer in nächster Nähe platzenden Granate, nervös zusammenbricht. Die Ursachen all dieser geschilderten unerfreulichen Erscheinungen und Entwicklungsmöglichkeiten liegen, wie wiederholt erwähnt, im Individuum selbst und zwar in einer krankhaften Anlage in der seelisch-nervösen Sphäre. Der Krieg und seine Eindrücke sind fast ausnahmslos nur das auslösende Moment. Aber es darf nicht geleugnet werden, daß es zweifellos Fälle gibt, in denen es menschliche Anmaßung wäre, nach einer „Anlage" zu forschen: Wenn der Gram über einer Mutter, die vielleicht den dritten und letzten Sohn fürs Vaterland hat sterben sehen, den dunklen unzerreißbaren Schleier des geistigen Todes, die Nacht des Wahnsinns, breitet, bedarf es wohl kaum einer „krank¬ haften Anlage", um den Niederbruch einer mit Keulenschlägen des Leides zer¬ schmetterten Menschenseele zu erklären. Die Behandlung der unter den Eindrücken und Einflüssen der Kriegszeit entstandenen seelischen Erkrankungen unterscheidet sich naturgemäß in nichts von den zu anderen Zeiten wissenschaftlich anerkannten und bewährten Methoden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/418>, abgerufen am 31.05.2024.