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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Staatenbund von Nordeuropa

Staatenentwicklung Europas in noch höherem Grade gefährdet ist, als bisher.
Den schlagenden Beweis für diese Wahrheit liefert, wie früher erwähnt, das
traurige Schicksal des Königreichs Belgien. Belgien wurde innerhalb weniger
Monate bis auf einen kleinen Teil erobert, nachdem das unglückliche Land zum
Kriegsschauplatz für drei Heere geworden war. Und Belgien war ein reiches,
dichtbevölkertes Land, das ein starkes Heer, starke Festungen und bedeutende
Staatseinnahmen besaß. Gleichwohl erwies es sich, wie im Kriege, so schon
im Frieden als unfähig zu erfolgreichem Widerstand. Das hat sich aus den
neuerdings veröffentlichten amtlichen Berichten ergeben. Schon Mitte Januar
1906 eröffnete der englische Militärattache, Oberstleutnant Barnadiston, dem
belgischen General Ducarme unaufgefordert, England werde hunderttausend
Mann über den Kanal schicken, falls Belgien angegriffen würde; er wünsche,
sich zu vergewissern, wie diese Matzregel auf belgischer Seite ausgelegt werden
würde. AIs der General erwiderte, dies gehe auch die politischen Behörden an,
erhielt er die Antwort, über die politische Seite der Sache werde sich der
englische Gesandte mit dein Minister des Auswärtigen besprechen. Darauf
folgte eine eingehende Erörterung aller militärischen Fragen eines gemeinsamen
Vorgehens gegen Deutschland, insbesondere über den Ort der Landung, die
Eisenbahntransporte, die Requisitionen und über den Oberbefehl. Am Schlüsse
sprach Barnadiston seine Genugtuung über die Erklärungen des Generals
Ducarme aus und betonte, das Abkommen solle absolut vertraulich, übrigens
für feine Regierung nicht verbindlich sein. Diesem merkwürdigen, nur für
Belgien verbindlichen, aber für beide Teile recht bezeichnenden Abkommen, zu
dem sich der belgische General hatte verleiten lassen, folgten eine Reihe weiterer
Besprechungen, in denen der Kriegsplan im einzelnen ausgebaut wurde. Der
englische Bevollmächtigte stellte das Ergebnis der Ausschiffungen in Boulogne,
Calais und Cherbourg fest und konnte auf Grund dessen zusagen, daß das erste
Korps am zehnten, das zweite am fünfzehnten Tage ausgeschifft würde. Die
englische Verpflegungsbasis solle von der französischen Küste nach Antwerpen
verlegt werden, sobald die Nordsee von allen deutschen Schiffen gesäubert sei.
-- Noch härter bedrängte der Nachfolger Barnadistons, Oberstleutnant Bridges,
den Chef des belgischen Generalstabs, General Jungbluth. Die denkwürdige
Unterredung fand am 23. April 19l2 statt. Der Militärattache erklärte, seine
Regierung hätte während der letzten Ereignisse^) 160 000 Mann landen lassen,
auch wenn Belgien keine Hilfe verlangt hätte. General Jungbluth erwiderte
zurückhaltend, dies könne doch nicht ohne belgische Zustimmung geschehen;
Belgien sei vollkommen in der Lage, einen Durchmarsch der Deutschen selbst zu
verhindern. Bridges entgegnete kurz, das sei nicht möglich, und wiederholte
die Erklärung, England hätte seine Truppen auf jeden Fall in Belgien ge-



Bridges spielt anscheinend auf die Kriegsgefahr an, die im Sommer 1911 wegen
Marokko entstand.
Staatenbund von Nordeuropa

Staatenentwicklung Europas in noch höherem Grade gefährdet ist, als bisher.
Den schlagenden Beweis für diese Wahrheit liefert, wie früher erwähnt, das
traurige Schicksal des Königreichs Belgien. Belgien wurde innerhalb weniger
Monate bis auf einen kleinen Teil erobert, nachdem das unglückliche Land zum
Kriegsschauplatz für drei Heere geworden war. Und Belgien war ein reiches,
dichtbevölkertes Land, das ein starkes Heer, starke Festungen und bedeutende
Staatseinnahmen besaß. Gleichwohl erwies es sich, wie im Kriege, so schon
im Frieden als unfähig zu erfolgreichem Widerstand. Das hat sich aus den
neuerdings veröffentlichten amtlichen Berichten ergeben. Schon Mitte Januar
1906 eröffnete der englische Militärattache, Oberstleutnant Barnadiston, dem
belgischen General Ducarme unaufgefordert, England werde hunderttausend
Mann über den Kanal schicken, falls Belgien angegriffen würde; er wünsche,
sich zu vergewissern, wie diese Matzregel auf belgischer Seite ausgelegt werden
würde. AIs der General erwiderte, dies gehe auch die politischen Behörden an,
erhielt er die Antwort, über die politische Seite der Sache werde sich der
englische Gesandte mit dein Minister des Auswärtigen besprechen. Darauf
folgte eine eingehende Erörterung aller militärischen Fragen eines gemeinsamen
Vorgehens gegen Deutschland, insbesondere über den Ort der Landung, die
Eisenbahntransporte, die Requisitionen und über den Oberbefehl. Am Schlüsse
sprach Barnadiston seine Genugtuung über die Erklärungen des Generals
Ducarme aus und betonte, das Abkommen solle absolut vertraulich, übrigens
für feine Regierung nicht verbindlich sein. Diesem merkwürdigen, nur für
Belgien verbindlichen, aber für beide Teile recht bezeichnenden Abkommen, zu
dem sich der belgische General hatte verleiten lassen, folgten eine Reihe weiterer
Besprechungen, in denen der Kriegsplan im einzelnen ausgebaut wurde. Der
englische Bevollmächtigte stellte das Ergebnis der Ausschiffungen in Boulogne,
Calais und Cherbourg fest und konnte auf Grund dessen zusagen, daß das erste
Korps am zehnten, das zweite am fünfzehnten Tage ausgeschifft würde. Die
englische Verpflegungsbasis solle von der französischen Küste nach Antwerpen
verlegt werden, sobald die Nordsee von allen deutschen Schiffen gesäubert sei.
— Noch härter bedrängte der Nachfolger Barnadistons, Oberstleutnant Bridges,
den Chef des belgischen Generalstabs, General Jungbluth. Die denkwürdige
Unterredung fand am 23. April 19l2 statt. Der Militärattache erklärte, seine
Regierung hätte während der letzten Ereignisse^) 160 000 Mann landen lassen,
auch wenn Belgien keine Hilfe verlangt hätte. General Jungbluth erwiderte
zurückhaltend, dies könne doch nicht ohne belgische Zustimmung geschehen;
Belgien sei vollkommen in der Lage, einen Durchmarsch der Deutschen selbst zu
verhindern. Bridges entgegnete kurz, das sei nicht möglich, und wiederholte
die Erklärung, England hätte seine Truppen auf jeden Fall in Belgien ge-



Bridges spielt anscheinend auf die Kriegsgefahr an, die im Sommer 1911 wegen
Marokko entstand.
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[0059] Staatenbund von Nordeuropa Staatenentwicklung Europas in noch höherem Grade gefährdet ist, als bisher. Den schlagenden Beweis für diese Wahrheit liefert, wie früher erwähnt, das traurige Schicksal des Königreichs Belgien. Belgien wurde innerhalb weniger Monate bis auf einen kleinen Teil erobert, nachdem das unglückliche Land zum Kriegsschauplatz für drei Heere geworden war. Und Belgien war ein reiches, dichtbevölkertes Land, das ein starkes Heer, starke Festungen und bedeutende Staatseinnahmen besaß. Gleichwohl erwies es sich, wie im Kriege, so schon im Frieden als unfähig zu erfolgreichem Widerstand. Das hat sich aus den neuerdings veröffentlichten amtlichen Berichten ergeben. Schon Mitte Januar 1906 eröffnete der englische Militärattache, Oberstleutnant Barnadiston, dem belgischen General Ducarme unaufgefordert, England werde hunderttausend Mann über den Kanal schicken, falls Belgien angegriffen würde; er wünsche, sich zu vergewissern, wie diese Matzregel auf belgischer Seite ausgelegt werden würde. AIs der General erwiderte, dies gehe auch die politischen Behörden an, erhielt er die Antwort, über die politische Seite der Sache werde sich der englische Gesandte mit dein Minister des Auswärtigen besprechen. Darauf folgte eine eingehende Erörterung aller militärischen Fragen eines gemeinsamen Vorgehens gegen Deutschland, insbesondere über den Ort der Landung, die Eisenbahntransporte, die Requisitionen und über den Oberbefehl. Am Schlüsse sprach Barnadiston seine Genugtuung über die Erklärungen des Generals Ducarme aus und betonte, das Abkommen solle absolut vertraulich, übrigens für feine Regierung nicht verbindlich sein. Diesem merkwürdigen, nur für Belgien verbindlichen, aber für beide Teile recht bezeichnenden Abkommen, zu dem sich der belgische General hatte verleiten lassen, folgten eine Reihe weiterer Besprechungen, in denen der Kriegsplan im einzelnen ausgebaut wurde. Der englische Bevollmächtigte stellte das Ergebnis der Ausschiffungen in Boulogne, Calais und Cherbourg fest und konnte auf Grund dessen zusagen, daß das erste Korps am zehnten, das zweite am fünfzehnten Tage ausgeschifft würde. Die englische Verpflegungsbasis solle von der französischen Küste nach Antwerpen verlegt werden, sobald die Nordsee von allen deutschen Schiffen gesäubert sei. — Noch härter bedrängte der Nachfolger Barnadistons, Oberstleutnant Bridges, den Chef des belgischen Generalstabs, General Jungbluth. Die denkwürdige Unterredung fand am 23. April 19l2 statt. Der Militärattache erklärte, seine Regierung hätte während der letzten Ereignisse^) 160 000 Mann landen lassen, auch wenn Belgien keine Hilfe verlangt hätte. General Jungbluth erwiderte zurückhaltend, dies könne doch nicht ohne belgische Zustimmung geschehen; Belgien sei vollkommen in der Lage, einen Durchmarsch der Deutschen selbst zu verhindern. Bridges entgegnete kurz, das sei nicht möglich, und wiederholte die Erklärung, England hätte seine Truppen auf jeden Fall in Belgien ge- Bridges spielt anscheinend auf die Kriegsgefahr an, die im Sommer 1911 wegen Marokko entstand.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/59>, abgerufen am 14.05.2024.