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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

Zukunft seines Landes, mindestens nicht auf dem Wege über Paris und das
dortige Parlamentsreden und -treiben, sondern nur allenfalls auf dem Wege
über die Provinz, durch Neubelebung aller der Einzelherde des städtischen und
departementalen Gefüges, von der er sich eine ähnlich regenerierende Rück¬
wirkung auf das Ganze versprach, wie einst Preußen in seiner schlimmsten Zeit
eine Wiedergeburt auf dieser Grundlage erlebt hatte. Seinem Wirken in der
Provinz ist er denn auch noch einige Jahre treu geblieben, bis es sich mit
seiner Gesandtentätigkeit nicht mehr vereinigen ließ.

Die Entwicklung der jungen Republik vollzog sich schnell genug und mit
großer Entschiedenheit in Bahnen, welche von den Gobineau vorschwebenden
Richtlinien denkbar weitest abführten. Als er nach Jahren über diese Dinge
wieder das Wort ergriff (in der vorerwähnten Schrift über die dritte Republik),
nahm dies wie von selbst wiederum die Form eines schärfsten Protestes an.
Zwar sein zum Schluß nochmals mit der ganzen Energie des wahren Vater¬
landsfreundes ausgestoßener Ruf nach den Provinzen ist später vielfach auf¬
gegriffen worden, und der "Regionalismus" zählt im heutigen Frankreich eine
große Menge Anhänger. Aber herrschend blieb doch das Pariser System, die
Allmacht des Parlaments, das Drauflospolitisieren aller, die Ausbeutung einer
blind und wahllos ausgebildeten Demokratie durch im letzten Grunde rein
plutokratische Cliquen -- was alles Frankreich dahin geführt hat, wo wir es
heute sehen.

Nach alledem wird die eingangs wiedergegebene Frage, wie Gobineau sich
zum Kriege gestellt haben würde, sehr leicht zu beantworten sein. Kaum gesagt
zu werden braucht es, daß die abermalige blutige Auseinandersetzung mit
Deutschland ihm, insoweit er überhaupt noch als Franzose zu empfinden ver¬
möchte, den schwersten Stoß ins Herz gegeben haben würde. Für ihn war es
von Anfang an klar, daß Frankreich sich durch fortgesetzten Antagonismus gegen
das ihm als das zukunftsreichere erschienene Land um seine letzten großen
historischen Möglichkeiten bringen und ein gutes Stück weiter dem Abgrunde
zurollen müsse. Auch über die verhängnisvolle Rolle, die seine Bundesgenossen
dabei gespielt, würde er sich keinen Augenblick getäuscht haben. Vielleicht hätte
es ihm eine traurige Genugtuung gewährt, zu sehen, wie die Logik der Tat¬
sachen im letzten kritischen Augenblick die Logik der Doktrinen zuschanden macht
und ersetzt; hat doch Frankreich gerade 1914/15 wieder gezeigt, daß, wenn es
noch über Erwarten viel zu leisten vermochte, es dies hauptsächlich dem Zurück¬
greifen auf seine alten Kräfte, auf die nicht-parlamentarisch-demokratischen
Grundsätze und Methoden verdankt. Man denke unter anderem an Joffres
diktatorische Maßnahmen, wie sein Aufräumen mit den politischen Generalen.
Auch die alte berühmte straffe Bureaukratie hat sich diesmal offenbar besser
bewährt als 1870.

Aber alles in allem würde Gobineau die heutigen Ereignisse wohl mit
eher noch größerem Kummer und Abscheu betrachten, als die damaligen. Kein


Gobineau über Deutsche und Franzosen

Zukunft seines Landes, mindestens nicht auf dem Wege über Paris und das
dortige Parlamentsreden und -treiben, sondern nur allenfalls auf dem Wege
über die Provinz, durch Neubelebung aller der Einzelherde des städtischen und
departementalen Gefüges, von der er sich eine ähnlich regenerierende Rück¬
wirkung auf das Ganze versprach, wie einst Preußen in seiner schlimmsten Zeit
eine Wiedergeburt auf dieser Grundlage erlebt hatte. Seinem Wirken in der
Provinz ist er denn auch noch einige Jahre treu geblieben, bis es sich mit
seiner Gesandtentätigkeit nicht mehr vereinigen ließ.

Die Entwicklung der jungen Republik vollzog sich schnell genug und mit
großer Entschiedenheit in Bahnen, welche von den Gobineau vorschwebenden
Richtlinien denkbar weitest abführten. Als er nach Jahren über diese Dinge
wieder das Wort ergriff (in der vorerwähnten Schrift über die dritte Republik),
nahm dies wie von selbst wiederum die Form eines schärfsten Protestes an.
Zwar sein zum Schluß nochmals mit der ganzen Energie des wahren Vater¬
landsfreundes ausgestoßener Ruf nach den Provinzen ist später vielfach auf¬
gegriffen worden, und der „Regionalismus" zählt im heutigen Frankreich eine
große Menge Anhänger. Aber herrschend blieb doch das Pariser System, die
Allmacht des Parlaments, das Drauflospolitisieren aller, die Ausbeutung einer
blind und wahllos ausgebildeten Demokratie durch im letzten Grunde rein
plutokratische Cliquen — was alles Frankreich dahin geführt hat, wo wir es
heute sehen.

Nach alledem wird die eingangs wiedergegebene Frage, wie Gobineau sich
zum Kriege gestellt haben würde, sehr leicht zu beantworten sein. Kaum gesagt
zu werden braucht es, daß die abermalige blutige Auseinandersetzung mit
Deutschland ihm, insoweit er überhaupt noch als Franzose zu empfinden ver¬
möchte, den schwersten Stoß ins Herz gegeben haben würde. Für ihn war es
von Anfang an klar, daß Frankreich sich durch fortgesetzten Antagonismus gegen
das ihm als das zukunftsreichere erschienene Land um seine letzten großen
historischen Möglichkeiten bringen und ein gutes Stück weiter dem Abgrunde
zurollen müsse. Auch über die verhängnisvolle Rolle, die seine Bundesgenossen
dabei gespielt, würde er sich keinen Augenblick getäuscht haben. Vielleicht hätte
es ihm eine traurige Genugtuung gewährt, zu sehen, wie die Logik der Tat¬
sachen im letzten kritischen Augenblick die Logik der Doktrinen zuschanden macht
und ersetzt; hat doch Frankreich gerade 1914/15 wieder gezeigt, daß, wenn es
noch über Erwarten viel zu leisten vermochte, es dies hauptsächlich dem Zurück¬
greifen auf seine alten Kräfte, auf die nicht-parlamentarisch-demokratischen
Grundsätze und Methoden verdankt. Man denke unter anderem an Joffres
diktatorische Maßnahmen, wie sein Aufräumen mit den politischen Generalen.
Auch die alte berühmte straffe Bureaukratie hat sich diesmal offenbar besser
bewährt als 1870.

Aber alles in allem würde Gobineau die heutigen Ereignisse wohl mit
eher noch größerem Kummer und Abscheu betrachten, als die damaligen. Kein


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[0102] Gobineau über Deutsche und Franzosen Zukunft seines Landes, mindestens nicht auf dem Wege über Paris und das dortige Parlamentsreden und -treiben, sondern nur allenfalls auf dem Wege über die Provinz, durch Neubelebung aller der Einzelherde des städtischen und departementalen Gefüges, von der er sich eine ähnlich regenerierende Rück¬ wirkung auf das Ganze versprach, wie einst Preußen in seiner schlimmsten Zeit eine Wiedergeburt auf dieser Grundlage erlebt hatte. Seinem Wirken in der Provinz ist er denn auch noch einige Jahre treu geblieben, bis es sich mit seiner Gesandtentätigkeit nicht mehr vereinigen ließ. Die Entwicklung der jungen Republik vollzog sich schnell genug und mit großer Entschiedenheit in Bahnen, welche von den Gobineau vorschwebenden Richtlinien denkbar weitest abführten. Als er nach Jahren über diese Dinge wieder das Wort ergriff (in der vorerwähnten Schrift über die dritte Republik), nahm dies wie von selbst wiederum die Form eines schärfsten Protestes an. Zwar sein zum Schluß nochmals mit der ganzen Energie des wahren Vater¬ landsfreundes ausgestoßener Ruf nach den Provinzen ist später vielfach auf¬ gegriffen worden, und der „Regionalismus" zählt im heutigen Frankreich eine große Menge Anhänger. Aber herrschend blieb doch das Pariser System, die Allmacht des Parlaments, das Drauflospolitisieren aller, die Ausbeutung einer blind und wahllos ausgebildeten Demokratie durch im letzten Grunde rein plutokratische Cliquen — was alles Frankreich dahin geführt hat, wo wir es heute sehen. Nach alledem wird die eingangs wiedergegebene Frage, wie Gobineau sich zum Kriege gestellt haben würde, sehr leicht zu beantworten sein. Kaum gesagt zu werden braucht es, daß die abermalige blutige Auseinandersetzung mit Deutschland ihm, insoweit er überhaupt noch als Franzose zu empfinden ver¬ möchte, den schwersten Stoß ins Herz gegeben haben würde. Für ihn war es von Anfang an klar, daß Frankreich sich durch fortgesetzten Antagonismus gegen das ihm als das zukunftsreichere erschienene Land um seine letzten großen historischen Möglichkeiten bringen und ein gutes Stück weiter dem Abgrunde zurollen müsse. Auch über die verhängnisvolle Rolle, die seine Bundesgenossen dabei gespielt, würde er sich keinen Augenblick getäuscht haben. Vielleicht hätte es ihm eine traurige Genugtuung gewährt, zu sehen, wie die Logik der Tat¬ sachen im letzten kritischen Augenblick die Logik der Doktrinen zuschanden macht und ersetzt; hat doch Frankreich gerade 1914/15 wieder gezeigt, daß, wenn es noch über Erwarten viel zu leisten vermochte, es dies hauptsächlich dem Zurück¬ greifen auf seine alten Kräfte, auf die nicht-parlamentarisch-demokratischen Grundsätze und Methoden verdankt. Man denke unter anderem an Joffres diktatorische Maßnahmen, wie sein Aufräumen mit den politischen Generalen. Auch die alte berühmte straffe Bureaukratie hat sich diesmal offenbar besser bewährt als 1870. Aber alles in allem würde Gobineau die heutigen Ereignisse wohl mit eher noch größerem Kummer und Abscheu betrachten, als die damaligen. Kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/102>, abgerufen am 29.04.2024.