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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Begrenzung der Staaten bilden. Die Begriffe Nation und Volk -- in dem
Sinne der Gesamtheit der Angehörigen eines Staates, Staatsvolk -- sollten
sich demgemäß decken. Eine Theorie, die ungeheuere praktische Bedeutung in
Geschichte und Politik gewonnen hat. Und zwar praktische Bedeutung in
zweierlei Hinsicht: einerseits als politisches Programm der Staaten als solcher
als öffentlich proklamiertes Ziel der Regierungen in der internationalen Politik;
und anderseits als Wunsch und Hoffnung in dem Streben der Völker.

Das Nationalitätsprinzip setzt, um wirkliche Kraft zu erhalten, bei seinen
Anhängern und Verfechtern einen gewissen Grad politischer Bildung und Auf¬
klärung voraus. Daher erklärt es sich, daß es Bedeutung erst in einer Zeit
gewonnen hat, in der der politische Blick größerer Kreise durch weitere Ver¬
breitung dieser Grundlagen geschärft war: eben im neunzehnten Jahrhundert.
Es ist ein seinem Wesen nach demokratischer Gedanke. Das Streben nach
nationaler Zusammenfassung ist bedingt durch eine gewisse Volkstümlichkeit.
Erst wenn politische Anteilnahme in breiteren Schichten erwacht und sich mit der
durch Erleichterung des Verkehrs und der durch Schule und Presse vermittelten
Kenntnis der Zustände außerhalb der eigenen Grenzpfähle verbindet, ist der
Boden des Prinzips vorbereitet und geschaffen. Solange diese Voraussetzungen
fehlen, und die Politik mehr oder weniger der Beruf einzelner oder eng um¬
grenzter herrschender Klassen bleibt, mag es wohl gelegentlich ein meist an
bestimmte Zwecke gebundener Gedanke besonders Aufgeklärter gewesen sein,
aber es fehlt ihm die eigentliche Unterlage. Gegenstand gewinnt es erst
dadurch, daß es die Willensrichtung aller oder doch der Mehrzahl derer wird,
die es angeht: der Nation in ihrer Gemeinschaft. Erst nachdem die Bluth¬
und Sprachgenossen sich eines Zusammenhanges gemeinsamer Joeen und Ziele,
auch gemeinsamer Gegensätze bewußt geworden sind, schlägt die eigentliche
Geburtsstunde des Nationalitätsprinzips als realpolitischen Programms.

Ganz verschieden sind die Äußerungen des Prinzips, die tatsächlichen
Folgerungen und Forderungen, die sich aus ihm herleiten. Sie werden bestimmt
durch das Verhältnis, in dem sich die Verteilung der Nationen in den be¬
stehenden politischen Staatsgebilden befindet.

Da, wo es dem Sinne nach erfüllt ist, wo Staat und Nation gewisser¬
maßen eins sind und denselben Begriff bilden -- wie beispielsweise in
Frankreich und England für Franzosen und Engländer -- wo also kein be¬
sonderer Kraftaufwand nach außen hin notwendig ist. zur Wahrung der
nationalen Eigenart, fehlt ihm das eigentliche aktive und offensive Ziel. Hier
kann es allenfalls innerpolitisch und kulturell in abgeleiteter, veränderter Form
in Betracht kommen, verliert aber seinen eigentlichen Charakter.

Anders da, wo national zusammengehörige Bevölkerungen staatlich geteilt
und zerrissen sind, oder wo nationale Minderheiten, die ihre. Eigenart zu er¬
halten bestrebt find, in einen Gegensatz geraten zu der Mehrzahl der Be¬
völkerung eines Staates, in den sie eingeschlossen sind. Hier beginnt die


Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Begrenzung der Staaten bilden. Die Begriffe Nation und Volk — in dem
Sinne der Gesamtheit der Angehörigen eines Staates, Staatsvolk — sollten
sich demgemäß decken. Eine Theorie, die ungeheuere praktische Bedeutung in
Geschichte und Politik gewonnen hat. Und zwar praktische Bedeutung in
zweierlei Hinsicht: einerseits als politisches Programm der Staaten als solcher
als öffentlich proklamiertes Ziel der Regierungen in der internationalen Politik;
und anderseits als Wunsch und Hoffnung in dem Streben der Völker.

Das Nationalitätsprinzip setzt, um wirkliche Kraft zu erhalten, bei seinen
Anhängern und Verfechtern einen gewissen Grad politischer Bildung und Auf¬
klärung voraus. Daher erklärt es sich, daß es Bedeutung erst in einer Zeit
gewonnen hat, in der der politische Blick größerer Kreise durch weitere Ver¬
breitung dieser Grundlagen geschärft war: eben im neunzehnten Jahrhundert.
Es ist ein seinem Wesen nach demokratischer Gedanke. Das Streben nach
nationaler Zusammenfassung ist bedingt durch eine gewisse Volkstümlichkeit.
Erst wenn politische Anteilnahme in breiteren Schichten erwacht und sich mit der
durch Erleichterung des Verkehrs und der durch Schule und Presse vermittelten
Kenntnis der Zustände außerhalb der eigenen Grenzpfähle verbindet, ist der
Boden des Prinzips vorbereitet und geschaffen. Solange diese Voraussetzungen
fehlen, und die Politik mehr oder weniger der Beruf einzelner oder eng um¬
grenzter herrschender Klassen bleibt, mag es wohl gelegentlich ein meist an
bestimmte Zwecke gebundener Gedanke besonders Aufgeklärter gewesen sein,
aber es fehlt ihm die eigentliche Unterlage. Gegenstand gewinnt es erst
dadurch, daß es die Willensrichtung aller oder doch der Mehrzahl derer wird,
die es angeht: der Nation in ihrer Gemeinschaft. Erst nachdem die Bluth¬
und Sprachgenossen sich eines Zusammenhanges gemeinsamer Joeen und Ziele,
auch gemeinsamer Gegensätze bewußt geworden sind, schlägt die eigentliche
Geburtsstunde des Nationalitätsprinzips als realpolitischen Programms.

Ganz verschieden sind die Äußerungen des Prinzips, die tatsächlichen
Folgerungen und Forderungen, die sich aus ihm herleiten. Sie werden bestimmt
durch das Verhältnis, in dem sich die Verteilung der Nationen in den be¬
stehenden politischen Staatsgebilden befindet.

Da, wo es dem Sinne nach erfüllt ist, wo Staat und Nation gewisser¬
maßen eins sind und denselben Begriff bilden — wie beispielsweise in
Frankreich und England für Franzosen und Engländer — wo also kein be¬
sonderer Kraftaufwand nach außen hin notwendig ist. zur Wahrung der
nationalen Eigenart, fehlt ihm das eigentliche aktive und offensive Ziel. Hier
kann es allenfalls innerpolitisch und kulturell in abgeleiteter, veränderter Form
in Betracht kommen, verliert aber seinen eigentlichen Charakter.

Anders da, wo national zusammengehörige Bevölkerungen staatlich geteilt
und zerrissen sind, oder wo nationale Minderheiten, die ihre. Eigenart zu er¬
halten bestrebt find, in einen Gegensatz geraten zu der Mehrzahl der Be¬
völkerung eines Staates, in den sie eingeschlossen sind. Hier beginnt die


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[0142] Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats Begrenzung der Staaten bilden. Die Begriffe Nation und Volk — in dem Sinne der Gesamtheit der Angehörigen eines Staates, Staatsvolk — sollten sich demgemäß decken. Eine Theorie, die ungeheuere praktische Bedeutung in Geschichte und Politik gewonnen hat. Und zwar praktische Bedeutung in zweierlei Hinsicht: einerseits als politisches Programm der Staaten als solcher als öffentlich proklamiertes Ziel der Regierungen in der internationalen Politik; und anderseits als Wunsch und Hoffnung in dem Streben der Völker. Das Nationalitätsprinzip setzt, um wirkliche Kraft zu erhalten, bei seinen Anhängern und Verfechtern einen gewissen Grad politischer Bildung und Auf¬ klärung voraus. Daher erklärt es sich, daß es Bedeutung erst in einer Zeit gewonnen hat, in der der politische Blick größerer Kreise durch weitere Ver¬ breitung dieser Grundlagen geschärft war: eben im neunzehnten Jahrhundert. Es ist ein seinem Wesen nach demokratischer Gedanke. Das Streben nach nationaler Zusammenfassung ist bedingt durch eine gewisse Volkstümlichkeit. Erst wenn politische Anteilnahme in breiteren Schichten erwacht und sich mit der durch Erleichterung des Verkehrs und der durch Schule und Presse vermittelten Kenntnis der Zustände außerhalb der eigenen Grenzpfähle verbindet, ist der Boden des Prinzips vorbereitet und geschaffen. Solange diese Voraussetzungen fehlen, und die Politik mehr oder weniger der Beruf einzelner oder eng um¬ grenzter herrschender Klassen bleibt, mag es wohl gelegentlich ein meist an bestimmte Zwecke gebundener Gedanke besonders Aufgeklärter gewesen sein, aber es fehlt ihm die eigentliche Unterlage. Gegenstand gewinnt es erst dadurch, daß es die Willensrichtung aller oder doch der Mehrzahl derer wird, die es angeht: der Nation in ihrer Gemeinschaft. Erst nachdem die Bluth¬ und Sprachgenossen sich eines Zusammenhanges gemeinsamer Joeen und Ziele, auch gemeinsamer Gegensätze bewußt geworden sind, schlägt die eigentliche Geburtsstunde des Nationalitätsprinzips als realpolitischen Programms. Ganz verschieden sind die Äußerungen des Prinzips, die tatsächlichen Folgerungen und Forderungen, die sich aus ihm herleiten. Sie werden bestimmt durch das Verhältnis, in dem sich die Verteilung der Nationen in den be¬ stehenden politischen Staatsgebilden befindet. Da, wo es dem Sinne nach erfüllt ist, wo Staat und Nation gewisser¬ maßen eins sind und denselben Begriff bilden — wie beispielsweise in Frankreich und England für Franzosen und Engländer — wo also kein be¬ sonderer Kraftaufwand nach außen hin notwendig ist. zur Wahrung der nationalen Eigenart, fehlt ihm das eigentliche aktive und offensive Ziel. Hier kann es allenfalls innerpolitisch und kulturell in abgeleiteter, veränderter Form in Betracht kommen, verliert aber seinen eigentlichen Charakter. Anders da, wo national zusammengehörige Bevölkerungen staatlich geteilt und zerrissen sind, oder wo nationale Minderheiten, die ihre. Eigenart zu er¬ halten bestrebt find, in einen Gegensatz geraten zu der Mehrzahl der Be¬ völkerung eines Staates, in den sie eingeschlossen sind. Hier beginnt die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/142>, abgerufen am 29.04.2024.