Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Rückgang der englischen Kohlenausfuhr und ihre Folgen

eines seiner Kohlenreviere, das (1912) über 22 Prozent der ganzen Kohlen¬
erzeugung des europäischen Rußland deckte, das Dombrowa-Becken an der
Dreikaiser-Ecke, ist seit Anfang August dauernd in deutscher und österreichischer
Hand. Wenn nun auch Rußland vielfach die Kohle durch Holz, Torf und
Naphthaprodukte ersetzen kann, so leidet es doch unter einer ausgesprochenen
Kohlennot, um so mehr als auch im Donez-Becken, Rußlands wichtigstem
Kohlengebiet, die Produktion infolge Mangels an Arbeitskräften um 30 Prozent
gegenüber der normalen Leistung (1912 21300000 Tonnen) gefallen ist.
Neuerdings ist sie noch geringer geworden und betrug im März 80000000
gegen 135000000 Pud im Vorjahr. Zu diesem Ausfall von mindestens etwa
7000000 Tonnen im Jahr kommt aber ein weiterer von mindestens der
doppelten Höhe durch Fortfall der deutschen und österreichischen sowie eines
großen Teiles der englischen Kohleneinfuhr. Im November 1914. im letzten
Monat, wo der Hafen Archangelsk noch offen war, erhielt Rußland von
England nur 2000 Tonnen Kohlen gegenüber 379000 Tonnen im November
1913. Später hat auch diese letzte bescheidene Zufuhr aufgehört; was Amerika,
Japan, China über Wladiwostok oder Fusan nach dem europäischen Rußland
zu bringen vermochten, war wegen der ungeheuer hohen Bahnfracht nicht der
Rede wert, und auch die russische Kohlenzufuhr vom Donez-Becken floß nur
sehr spärlich, da verringerte Erzeugung, überlastete Bahnen, empfindlichster
Wagenmangel die Versorgung erschwerten, außerdem auch die Haltung der
Bergwerksbesitzer, die aus der Kohlenteuerung reichen Gewinn ziehen und alles
tun, um die vorhandene Kohlennot zu erhalten und, wenn möglich, noch zu
steigern. Petersburg erhielt im Februar 1915 statt der 1300 Waggons
Kohlen, deren es durchschnittlich im Monat bedarf, nur 96. Die Straßen¬
bahnen in Petersburg und Moskau mußten im März wegen Kohlenmangels
der elektrischen Zentralen den Betrieb einstellen, und die vorhandenen Kohlen
waren unverhältnismäßig teuer: in Moskau kostet Anthrazit unter Mittelsorte
58^ Mark die Tonne, in Petersburg Koth 75 Mark gegen 43^ Mark
im Vorjahr. Anfangs April sah sich die Regierung genötigt, alle privaten
Kohlenvorräte zu beschlagnahmen. Natürlich hoffte nun alles auf Erleichterung
der Kohlennot nach Eintritt des Frühlings und Wiedereröffnung des Hafens
Archangelsk. Dieser Hafen ist zwar schon Anfang April, infolge der Tätigkeit
der großen Eisbrecher, wieder benutzbar geworden, aber die ersehnte Erleichte¬
rung wird trotzdem ausbleiben, weil eben England gar keine Neigung haben
wird, die jetzt doppelt und dreifach wertwollen Kohlen in sehr großen Mengen
einem Bundesgenossen zuzuwenden, dessen Freundschaft nur so lange von Wert
war, als man noch militärische Hoffnungen auf seine Millionenheere setzen
konnte. Wie soll man da in England große Lust verspüren, das kostbare
Brennmaterial, das man im Lande selbst schon hier und da doppelt so teuer
wie im Frieden bezahlt, in sehr großen Mengen nach dem entlegenen und
unwirtlichen Archangelsk zu schaffen, zumal auch die verfügbaren Schiffsräume


Der Rückgang der englischen Kohlenausfuhr und ihre Folgen

eines seiner Kohlenreviere, das (1912) über 22 Prozent der ganzen Kohlen¬
erzeugung des europäischen Rußland deckte, das Dombrowa-Becken an der
Dreikaiser-Ecke, ist seit Anfang August dauernd in deutscher und österreichischer
Hand. Wenn nun auch Rußland vielfach die Kohle durch Holz, Torf und
Naphthaprodukte ersetzen kann, so leidet es doch unter einer ausgesprochenen
Kohlennot, um so mehr als auch im Donez-Becken, Rußlands wichtigstem
Kohlengebiet, die Produktion infolge Mangels an Arbeitskräften um 30 Prozent
gegenüber der normalen Leistung (1912 21300000 Tonnen) gefallen ist.
Neuerdings ist sie noch geringer geworden und betrug im März 80000000
gegen 135000000 Pud im Vorjahr. Zu diesem Ausfall von mindestens etwa
7000000 Tonnen im Jahr kommt aber ein weiterer von mindestens der
doppelten Höhe durch Fortfall der deutschen und österreichischen sowie eines
großen Teiles der englischen Kohleneinfuhr. Im November 1914. im letzten
Monat, wo der Hafen Archangelsk noch offen war, erhielt Rußland von
England nur 2000 Tonnen Kohlen gegenüber 379000 Tonnen im November
1913. Später hat auch diese letzte bescheidene Zufuhr aufgehört; was Amerika,
Japan, China über Wladiwostok oder Fusan nach dem europäischen Rußland
zu bringen vermochten, war wegen der ungeheuer hohen Bahnfracht nicht der
Rede wert, und auch die russische Kohlenzufuhr vom Donez-Becken floß nur
sehr spärlich, da verringerte Erzeugung, überlastete Bahnen, empfindlichster
Wagenmangel die Versorgung erschwerten, außerdem auch die Haltung der
Bergwerksbesitzer, die aus der Kohlenteuerung reichen Gewinn ziehen und alles
tun, um die vorhandene Kohlennot zu erhalten und, wenn möglich, noch zu
steigern. Petersburg erhielt im Februar 1915 statt der 1300 Waggons
Kohlen, deren es durchschnittlich im Monat bedarf, nur 96. Die Straßen¬
bahnen in Petersburg und Moskau mußten im März wegen Kohlenmangels
der elektrischen Zentralen den Betrieb einstellen, und die vorhandenen Kohlen
waren unverhältnismäßig teuer: in Moskau kostet Anthrazit unter Mittelsorte
58^ Mark die Tonne, in Petersburg Koth 75 Mark gegen 43^ Mark
im Vorjahr. Anfangs April sah sich die Regierung genötigt, alle privaten
Kohlenvorräte zu beschlagnahmen. Natürlich hoffte nun alles auf Erleichterung
der Kohlennot nach Eintritt des Frühlings und Wiedereröffnung des Hafens
Archangelsk. Dieser Hafen ist zwar schon Anfang April, infolge der Tätigkeit
der großen Eisbrecher, wieder benutzbar geworden, aber die ersehnte Erleichte¬
rung wird trotzdem ausbleiben, weil eben England gar keine Neigung haben
wird, die jetzt doppelt und dreifach wertwollen Kohlen in sehr großen Mengen
einem Bundesgenossen zuzuwenden, dessen Freundschaft nur so lange von Wert
war, als man noch militärische Hoffnungen auf seine Millionenheere setzen
konnte. Wie soll man da in England große Lust verspüren, das kostbare
Brennmaterial, das man im Lande selbst schon hier und da doppelt so teuer
wie im Frieden bezahlt, in sehr großen Mengen nach dem entlegenen und
unwirtlichen Archangelsk zu schaffen, zumal auch die verfügbaren Schiffsräume


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323724"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Rückgang der englischen Kohlenausfuhr und ihre Folgen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_585" prev="#ID_584" next="#ID_586"> eines seiner Kohlenreviere, das (1912) über 22 Prozent der ganzen Kohlen¬<lb/>
erzeugung des europäischen Rußland deckte, das Dombrowa-Becken an der<lb/>
Dreikaiser-Ecke, ist seit Anfang August dauernd in deutscher und österreichischer<lb/>
Hand. Wenn nun auch Rußland vielfach die Kohle durch Holz, Torf und<lb/>
Naphthaprodukte ersetzen kann, so leidet es doch unter einer ausgesprochenen<lb/>
Kohlennot, um so mehr als auch im Donez-Becken, Rußlands wichtigstem<lb/>
Kohlengebiet, die Produktion infolge Mangels an Arbeitskräften um 30 Prozent<lb/>
gegenüber der normalen Leistung (1912 21300000 Tonnen) gefallen ist.<lb/>
Neuerdings ist sie noch geringer geworden und betrug im März 80000000<lb/>
gegen 135000000 Pud im Vorjahr. Zu diesem Ausfall von mindestens etwa<lb/>
7000000 Tonnen im Jahr kommt aber ein weiterer von mindestens der<lb/>
doppelten Höhe durch Fortfall der deutschen und österreichischen sowie eines<lb/>
großen Teiles der englischen Kohleneinfuhr. Im November 1914. im letzten<lb/>
Monat, wo der Hafen Archangelsk noch offen war, erhielt Rußland von<lb/>
England nur 2000 Tonnen Kohlen gegenüber 379000 Tonnen im November<lb/>
1913. Später hat auch diese letzte bescheidene Zufuhr aufgehört; was Amerika,<lb/>
Japan, China über Wladiwostok oder Fusan nach dem europäischen Rußland<lb/>
zu bringen vermochten, war wegen der ungeheuer hohen Bahnfracht nicht der<lb/>
Rede wert, und auch die russische Kohlenzufuhr vom Donez-Becken floß nur<lb/>
sehr spärlich, da verringerte Erzeugung, überlastete Bahnen, empfindlichster<lb/>
Wagenmangel die Versorgung erschwerten, außerdem auch die Haltung der<lb/>
Bergwerksbesitzer, die aus der Kohlenteuerung reichen Gewinn ziehen und alles<lb/>
tun, um die vorhandene Kohlennot zu erhalten und, wenn möglich, noch zu<lb/>
steigern. Petersburg erhielt im Februar 1915 statt der 1300 Waggons<lb/>
Kohlen, deren es durchschnittlich im Monat bedarf, nur 96. Die Straßen¬<lb/>
bahnen in Petersburg und Moskau mußten im März wegen Kohlenmangels<lb/>
der elektrischen Zentralen den Betrieb einstellen, und die vorhandenen Kohlen<lb/>
waren unverhältnismäßig teuer: in Moskau kostet Anthrazit unter Mittelsorte<lb/>
58^ Mark die Tonne, in Petersburg Koth 75 Mark gegen 43^ Mark<lb/>
im Vorjahr. Anfangs April sah sich die Regierung genötigt, alle privaten<lb/>
Kohlenvorräte zu beschlagnahmen. Natürlich hoffte nun alles auf Erleichterung<lb/>
der Kohlennot nach Eintritt des Frühlings und Wiedereröffnung des Hafens<lb/>
Archangelsk. Dieser Hafen ist zwar schon Anfang April, infolge der Tätigkeit<lb/>
der großen Eisbrecher, wieder benutzbar geworden, aber die ersehnte Erleichte¬<lb/>
rung wird trotzdem ausbleiben, weil eben England gar keine Neigung haben<lb/>
wird, die jetzt doppelt und dreifach wertwollen Kohlen in sehr großen Mengen<lb/>
einem Bundesgenossen zuzuwenden, dessen Freundschaft nur so lange von Wert<lb/>
war, als man noch militärische Hoffnungen auf seine Millionenheere setzen<lb/>
konnte. Wie soll man da in England große Lust verspüren, das kostbare<lb/>
Brennmaterial, das man im Lande selbst schon hier und da doppelt so teuer<lb/>
wie im Frieden bezahlt, in sehr großen Mengen nach dem entlegenen und<lb/>
unwirtlichen Archangelsk zu schaffen, zumal auch die verfügbaren Schiffsräume</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0185] Der Rückgang der englischen Kohlenausfuhr und ihre Folgen eines seiner Kohlenreviere, das (1912) über 22 Prozent der ganzen Kohlen¬ erzeugung des europäischen Rußland deckte, das Dombrowa-Becken an der Dreikaiser-Ecke, ist seit Anfang August dauernd in deutscher und österreichischer Hand. Wenn nun auch Rußland vielfach die Kohle durch Holz, Torf und Naphthaprodukte ersetzen kann, so leidet es doch unter einer ausgesprochenen Kohlennot, um so mehr als auch im Donez-Becken, Rußlands wichtigstem Kohlengebiet, die Produktion infolge Mangels an Arbeitskräften um 30 Prozent gegenüber der normalen Leistung (1912 21300000 Tonnen) gefallen ist. Neuerdings ist sie noch geringer geworden und betrug im März 80000000 gegen 135000000 Pud im Vorjahr. Zu diesem Ausfall von mindestens etwa 7000000 Tonnen im Jahr kommt aber ein weiterer von mindestens der doppelten Höhe durch Fortfall der deutschen und österreichischen sowie eines großen Teiles der englischen Kohleneinfuhr. Im November 1914. im letzten Monat, wo der Hafen Archangelsk noch offen war, erhielt Rußland von England nur 2000 Tonnen Kohlen gegenüber 379000 Tonnen im November 1913. Später hat auch diese letzte bescheidene Zufuhr aufgehört; was Amerika, Japan, China über Wladiwostok oder Fusan nach dem europäischen Rußland zu bringen vermochten, war wegen der ungeheuer hohen Bahnfracht nicht der Rede wert, und auch die russische Kohlenzufuhr vom Donez-Becken floß nur sehr spärlich, da verringerte Erzeugung, überlastete Bahnen, empfindlichster Wagenmangel die Versorgung erschwerten, außerdem auch die Haltung der Bergwerksbesitzer, die aus der Kohlenteuerung reichen Gewinn ziehen und alles tun, um die vorhandene Kohlennot zu erhalten und, wenn möglich, noch zu steigern. Petersburg erhielt im Februar 1915 statt der 1300 Waggons Kohlen, deren es durchschnittlich im Monat bedarf, nur 96. Die Straßen¬ bahnen in Petersburg und Moskau mußten im März wegen Kohlenmangels der elektrischen Zentralen den Betrieb einstellen, und die vorhandenen Kohlen waren unverhältnismäßig teuer: in Moskau kostet Anthrazit unter Mittelsorte 58^ Mark die Tonne, in Petersburg Koth 75 Mark gegen 43^ Mark im Vorjahr. Anfangs April sah sich die Regierung genötigt, alle privaten Kohlenvorräte zu beschlagnahmen. Natürlich hoffte nun alles auf Erleichterung der Kohlennot nach Eintritt des Frühlings und Wiedereröffnung des Hafens Archangelsk. Dieser Hafen ist zwar schon Anfang April, infolge der Tätigkeit der großen Eisbrecher, wieder benutzbar geworden, aber die ersehnte Erleichte¬ rung wird trotzdem ausbleiben, weil eben England gar keine Neigung haben wird, die jetzt doppelt und dreifach wertwollen Kohlen in sehr großen Mengen einem Bundesgenossen zuzuwenden, dessen Freundschaft nur so lange von Wert war, als man noch militärische Hoffnungen auf seine Millionenheere setzen konnte. Wie soll man da in England große Lust verspüren, das kostbare Brennmaterial, das man im Lande selbst schon hier und da doppelt so teuer wie im Frieden bezahlt, in sehr großen Mengen nach dem entlegenen und unwirtlichen Archangelsk zu schaffen, zumal auch die verfügbaren Schiffsräume

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/185
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/185>, abgerufen am 19.05.2024.