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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Weltkrieg und Volkszahl

daß der Krieg wiederum auf französischem Boden geführt wird, daß ein Gebiet
von vielleicht 8 Millionen Einwohnern seit acht bis neun Monaten von den
Deutschen besetzt ist, daß die Masse der Flüchtlinge unter ungeheuren Ent¬
behrungen sich heimatlos irgendwo hinfristen muß, daß der Krieg mit ungeheurer
Erbitterung geführt wird und die Zivilbevölkerung vielfach mit verräterischen
Überfällen in den Krieg aktiv eingriff und demgemäß gestraft werden mußte,
so wird man die Menschenverluste Frankreichs in diesem Kriege auch auf das
vielfache des Krieges von 1870/71 schätzen müssen. Fünfmal 548000 würde
fast 2,2 Millionen wirklichen Menschenverlust ergeben, wozu noch der Ausfall
an Geburten käme, so daß man 2^/z Millionen annehmen könnte. Auf weniger
als 1^2 Million wird nach dem Vergleiche mit 1870 ihn niemand schätzen
können. Soll doch nach Blättermeldungen die Zahl der gefallenen französischen
Soldaten bis Ende Januar 1915 allein 450000 betragen, was nach dem
Gesagten wohl glaublich erscheint. Das bedeutet aber für Frankreich einen
ungeheuren, einen tatsächlich unersetzlichen Verlust von 3^ bis 6^ Prozent
seiner Volkszahl. Er wäre nicht unersetzlich, wenn Frankreich einen normalen
Geburtenüberschuß hätte. Aber nun rächt sich die künstliche Herabdrückung der
Geburtenzahl in schrecklicher Weise. Es zeigt sich, daß der Neumalthusianismus
tatsächlich nichts anderes als der Selbstmord des ganzen Volkes war. Denn
er schwächte nicht nur die Wehrkraft Frankreichs in bedenklichster Weise, sondern
führt nunmehr aller Voraussicht nach zum beschleunigten Aussterben des Volkes.
Denn daß so tief eingewurzelte Unsitten durch solche Katastrophen ausgerottet
werden sollten, ist schwer glaublich. Zu oft ist Frankreich vergeblich auf die
unausbleiblichen Folgen seines "Zweikindersystems" hingewiesen worden. Nun
ist die Katastrophe da, von der Frankreich sich nie wieder erholen kann. Um
das vorauszusehen, darf man nur an die tatsächliche Bevölkerungsbewegung
denken. 1911 fanden in Frankreich 307 788 Eheschließungen statt. Die Zahl
der Lebendgeborenen aber betrug nur 742114--2,4 auf eine Eheschließung,
im Departement Seine nur 1,73, in den Departements Gerf, Garonne, Tam
und Garonne, Gironde, Lot, Lot und Garonne. Uonne usw. nur 2 oder
darunter. Abgesehen von einigen Departements mit geringer kultureller
Entwicklung (Fmistöre usw.) ist das Zweikindersnstem ja durchgeführt, nur in
Departements mit sehr günstigem Altersaufbau infolge starker Zuwanderung
verschleiert. Bertillon redet von Departements, in denen auf zwei Wiegen drei
Gräber kommen. Daß das keine Übertreibung ist, zeigt das Jahr 1911. In diesem,

zählten die Departements

Lebendgeborene Sterbefälle
Lot......28824700
Gerf.....28024451
Garonne . . . .63709203
Tam und Garonne .25253949
Aonne.....42726168
Lot und Garonne .36045345

Weltkrieg und Volkszahl

daß der Krieg wiederum auf französischem Boden geführt wird, daß ein Gebiet
von vielleicht 8 Millionen Einwohnern seit acht bis neun Monaten von den
Deutschen besetzt ist, daß die Masse der Flüchtlinge unter ungeheuren Ent¬
behrungen sich heimatlos irgendwo hinfristen muß, daß der Krieg mit ungeheurer
Erbitterung geführt wird und die Zivilbevölkerung vielfach mit verräterischen
Überfällen in den Krieg aktiv eingriff und demgemäß gestraft werden mußte,
so wird man die Menschenverluste Frankreichs in diesem Kriege auch auf das
vielfache des Krieges von 1870/71 schätzen müssen. Fünfmal 548000 würde
fast 2,2 Millionen wirklichen Menschenverlust ergeben, wozu noch der Ausfall
an Geburten käme, so daß man 2^/z Millionen annehmen könnte. Auf weniger
als 1^2 Million wird nach dem Vergleiche mit 1870 ihn niemand schätzen
können. Soll doch nach Blättermeldungen die Zahl der gefallenen französischen
Soldaten bis Ende Januar 1915 allein 450000 betragen, was nach dem
Gesagten wohl glaublich erscheint. Das bedeutet aber für Frankreich einen
ungeheuren, einen tatsächlich unersetzlichen Verlust von 3^ bis 6^ Prozent
seiner Volkszahl. Er wäre nicht unersetzlich, wenn Frankreich einen normalen
Geburtenüberschuß hätte. Aber nun rächt sich die künstliche Herabdrückung der
Geburtenzahl in schrecklicher Weise. Es zeigt sich, daß der Neumalthusianismus
tatsächlich nichts anderes als der Selbstmord des ganzen Volkes war. Denn
er schwächte nicht nur die Wehrkraft Frankreichs in bedenklichster Weise, sondern
führt nunmehr aller Voraussicht nach zum beschleunigten Aussterben des Volkes.
Denn daß so tief eingewurzelte Unsitten durch solche Katastrophen ausgerottet
werden sollten, ist schwer glaublich. Zu oft ist Frankreich vergeblich auf die
unausbleiblichen Folgen seines „Zweikindersystems" hingewiesen worden. Nun
ist die Katastrophe da, von der Frankreich sich nie wieder erholen kann. Um
das vorauszusehen, darf man nur an die tatsächliche Bevölkerungsbewegung
denken. 1911 fanden in Frankreich 307 788 Eheschließungen statt. Die Zahl
der Lebendgeborenen aber betrug nur 742114--2,4 auf eine Eheschließung,
im Departement Seine nur 1,73, in den Departements Gerf, Garonne, Tam
und Garonne, Gironde, Lot, Lot und Garonne. Uonne usw. nur 2 oder
darunter. Abgesehen von einigen Departements mit geringer kultureller
Entwicklung (Fmistöre usw.) ist das Zweikindersnstem ja durchgeführt, nur in
Departements mit sehr günstigem Altersaufbau infolge starker Zuwanderung
verschleiert. Bertillon redet von Departements, in denen auf zwei Wiegen drei
Gräber kommen. Daß das keine Übertreibung ist, zeigt das Jahr 1911. In diesem,

zählten die Departements

Lebendgeborene Sterbefälle
Lot......28824700
Gerf.....28024451
Garonne . . . .63709203
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[0223] Weltkrieg und Volkszahl daß der Krieg wiederum auf französischem Boden geführt wird, daß ein Gebiet von vielleicht 8 Millionen Einwohnern seit acht bis neun Monaten von den Deutschen besetzt ist, daß die Masse der Flüchtlinge unter ungeheuren Ent¬ behrungen sich heimatlos irgendwo hinfristen muß, daß der Krieg mit ungeheurer Erbitterung geführt wird und die Zivilbevölkerung vielfach mit verräterischen Überfällen in den Krieg aktiv eingriff und demgemäß gestraft werden mußte, so wird man die Menschenverluste Frankreichs in diesem Kriege auch auf das vielfache des Krieges von 1870/71 schätzen müssen. Fünfmal 548000 würde fast 2,2 Millionen wirklichen Menschenverlust ergeben, wozu noch der Ausfall an Geburten käme, so daß man 2^/z Millionen annehmen könnte. Auf weniger als 1^2 Million wird nach dem Vergleiche mit 1870 ihn niemand schätzen können. Soll doch nach Blättermeldungen die Zahl der gefallenen französischen Soldaten bis Ende Januar 1915 allein 450000 betragen, was nach dem Gesagten wohl glaublich erscheint. Das bedeutet aber für Frankreich einen ungeheuren, einen tatsächlich unersetzlichen Verlust von 3^ bis 6^ Prozent seiner Volkszahl. Er wäre nicht unersetzlich, wenn Frankreich einen normalen Geburtenüberschuß hätte. Aber nun rächt sich die künstliche Herabdrückung der Geburtenzahl in schrecklicher Weise. Es zeigt sich, daß der Neumalthusianismus tatsächlich nichts anderes als der Selbstmord des ganzen Volkes war. Denn er schwächte nicht nur die Wehrkraft Frankreichs in bedenklichster Weise, sondern führt nunmehr aller Voraussicht nach zum beschleunigten Aussterben des Volkes. Denn daß so tief eingewurzelte Unsitten durch solche Katastrophen ausgerottet werden sollten, ist schwer glaublich. Zu oft ist Frankreich vergeblich auf die unausbleiblichen Folgen seines „Zweikindersystems" hingewiesen worden. Nun ist die Katastrophe da, von der Frankreich sich nie wieder erholen kann. Um das vorauszusehen, darf man nur an die tatsächliche Bevölkerungsbewegung denken. 1911 fanden in Frankreich 307 788 Eheschließungen statt. Die Zahl der Lebendgeborenen aber betrug nur 742114--2,4 auf eine Eheschließung, im Departement Seine nur 1,73, in den Departements Gerf, Garonne, Tam und Garonne, Gironde, Lot, Lot und Garonne. Uonne usw. nur 2 oder darunter. Abgesehen von einigen Departements mit geringer kultureller Entwicklung (Fmistöre usw.) ist das Zweikindersnstem ja durchgeführt, nur in Departements mit sehr günstigem Altersaufbau infolge starker Zuwanderung verschleiert. Bertillon redet von Departements, in denen auf zwei Wiegen drei Gräber kommen. Daß das keine Übertreibung ist, zeigt das Jahr 1911. In diesem, zählten die Departements Lebendgeborene Sterbefälle Lot......28824700 Gerf.....28024451 Garonne . . . .63709203 Tam und Garonne .25253949 Aonne.....42726168 Lot und Garonne .36045345

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/223>, abgerufen am 29.05.2024.