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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

vor allem der Untergang der antiken Kulturwelt gezeigt, jenes merkwürdige
kulturgeschichtliche Phänomen, das den Trägern der zweiten großen Kulturepoche
Europas, die mit dem Auftreten der Germanen und des Christentums beginnt,
recht eigentlich als ein Mene Tekel oder als die bei Strafe des Untergangs
zu lösende Fragestellung entgegentritt.

Die Einheit der 78 Millionen Deutscher, die heute im Kampf liegen gegen
die übrige Welt, wie die Preußen Friedrichs des Großen gegen Europa, ist
bekanntlich nicht eine befehlsmäßige, eine politische Einheit. Zwölf Millionen
davon sind österreichische Untertanen; und selbst innerhalb des deutschen Reichs
treten die tapferen Fäuste von sieben Millionen Bayern, Franken und Schwaben
erst im letzten Moment, nämlich mit der Mobilmachung, unter den unmittelbaren
Befehl unseres Kaisers. Die Gemeinschaft der Lebensunterlagen und der Lebens¬
ziele, die Kulturgemeinschaft, bildet die tiefergehende und darum auch durch
äußere Feinde nicht auf die Dauer zerstörbare Grundlage unserer Volkseinheit.

Was heißt nun deutsche Kultur? In welchem Verhältnis steht sie zu den
heute neben ihr bestehenden Kulturgemeinschaften, wie etwa der französischen,
zu früheren Epochen, wie zur antiken Kultur?

Wer im letzten Jahrzehnt als Deutscher im Elsaß lebte -- seitdem von
Köller im Jahre 1902, um einen bequemen Landtag zu haben, die staatlichen
Handhaben gegenüber der Presse aufgegeben hatte und damit die mit
französischem Geld unterhaltene elsässische Hetzpresse entfesselt hatte, -- mußte in
Betrachtungen über das Verhältnis und das Alter der französischen und der
deutschen Kultur, über die "Mentalität" der Deutschen gegenüber den Franzosen
und ähnliches einen unglaublichen Wust von Entstellungen und hahnebüchenen
Unrichtigkeiten genießen. Die immer wiederholten Behauptungen und Forde¬
rungen mußten schließlich, wie jeder standhaft wiederholte Unsinn, auf schwächere
Naturen auch auf deutscher Seite einen gewissen Eindruck machen. Selbst
Altdeutsche hatten in der schwülen Luft der südlichen Rheinebene die
Schwächlichkeit, von der für den Kulturaustausch zwischen Deutschland und
Frankreich notwendigen Vermittlerstellung des Elsasses zu sprechen und möglichste
Nachgiebigkeit gegen den französischen Einfluß, die Begünstigung von Zwei¬
sprachigkeit, Doppelkultur und Ähnlichem zu verteidigen oder gar zu fordern.

Die gegenseitige Mitteilung von Kulturgütern unter verschiedenen Nationen
hat solche geographische Zwischengebilde gewiß nicht nötig; diese wirken vielmehr
als Quelle von Reibungen auch auf den Kulturaustausch nur schädlich. Zwischen
Italien und Deutschland, zwischen Deutschland und England hat solche Kultur¬
vermittlung früher in ausgedehntem Maße stattgefunden, ohne daß man dazu
eine gemischte deutsch-italienische oder deutsch-englische Provinz für nötig gehalten
hätte. In dem Einfluß der deutschen Reformationsgedanken auf England, in
der Stellung Shakespeares, der für die Deutschen heute mehr bedeutet wie für
die Engländer, in dem Wirken Carlyles und seiner Vermittlung Goethes und
der deutschen Klassiker an die Engländer hat dieser deutsch-englische Kultur-


von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

vor allem der Untergang der antiken Kulturwelt gezeigt, jenes merkwürdige
kulturgeschichtliche Phänomen, das den Trägern der zweiten großen Kulturepoche
Europas, die mit dem Auftreten der Germanen und des Christentums beginnt,
recht eigentlich als ein Mene Tekel oder als die bei Strafe des Untergangs
zu lösende Fragestellung entgegentritt.

Die Einheit der 78 Millionen Deutscher, die heute im Kampf liegen gegen
die übrige Welt, wie die Preußen Friedrichs des Großen gegen Europa, ist
bekanntlich nicht eine befehlsmäßige, eine politische Einheit. Zwölf Millionen
davon sind österreichische Untertanen; und selbst innerhalb des deutschen Reichs
treten die tapferen Fäuste von sieben Millionen Bayern, Franken und Schwaben
erst im letzten Moment, nämlich mit der Mobilmachung, unter den unmittelbaren
Befehl unseres Kaisers. Die Gemeinschaft der Lebensunterlagen und der Lebens¬
ziele, die Kulturgemeinschaft, bildet die tiefergehende und darum auch durch
äußere Feinde nicht auf die Dauer zerstörbare Grundlage unserer Volkseinheit.

Was heißt nun deutsche Kultur? In welchem Verhältnis steht sie zu den
heute neben ihr bestehenden Kulturgemeinschaften, wie etwa der französischen,
zu früheren Epochen, wie zur antiken Kultur?

Wer im letzten Jahrzehnt als Deutscher im Elsaß lebte — seitdem von
Köller im Jahre 1902, um einen bequemen Landtag zu haben, die staatlichen
Handhaben gegenüber der Presse aufgegeben hatte und damit die mit
französischem Geld unterhaltene elsässische Hetzpresse entfesselt hatte, — mußte in
Betrachtungen über das Verhältnis und das Alter der französischen und der
deutschen Kultur, über die „Mentalität" der Deutschen gegenüber den Franzosen
und ähnliches einen unglaublichen Wust von Entstellungen und hahnebüchenen
Unrichtigkeiten genießen. Die immer wiederholten Behauptungen und Forde¬
rungen mußten schließlich, wie jeder standhaft wiederholte Unsinn, auf schwächere
Naturen auch auf deutscher Seite einen gewissen Eindruck machen. Selbst
Altdeutsche hatten in der schwülen Luft der südlichen Rheinebene die
Schwächlichkeit, von der für den Kulturaustausch zwischen Deutschland und
Frankreich notwendigen Vermittlerstellung des Elsasses zu sprechen und möglichste
Nachgiebigkeit gegen den französischen Einfluß, die Begünstigung von Zwei¬
sprachigkeit, Doppelkultur und Ähnlichem zu verteidigen oder gar zu fordern.

Die gegenseitige Mitteilung von Kulturgütern unter verschiedenen Nationen
hat solche geographische Zwischengebilde gewiß nicht nötig; diese wirken vielmehr
als Quelle von Reibungen auch auf den Kulturaustausch nur schädlich. Zwischen
Italien und Deutschland, zwischen Deutschland und England hat solche Kultur¬
vermittlung früher in ausgedehntem Maße stattgefunden, ohne daß man dazu
eine gemischte deutsch-italienische oder deutsch-englische Provinz für nötig gehalten
hätte. In dem Einfluß der deutschen Reformationsgedanken auf England, in
der Stellung Shakespeares, der für die Deutschen heute mehr bedeutet wie für
die Engländer, in dem Wirken Carlyles und seiner Vermittlung Goethes und
der deutschen Klassiker an die Engländer hat dieser deutsch-englische Kultur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/248>, abgerufen am 24.05.2024.