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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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vom unbekannten Geibel

fremdsprachlichen Schulbuch haben. Von den meist über ihr poetisches Verdienst
gerühmten Freiheitsdichtern ist Geibel an Fülle keiner, an Kraft nur Arndt zu ver¬
gleichen. Gewiß läuft in den früheren Stücken bewußte oder unbewußte Nachahmung
des Mittelalters mit unter, gewiß ist manches heute stofflich veraltet, aber wo ist
zum Beispiel in unserer jüngsten Kriegslyrik irgend etwas, das an repräsentativer
Kraft, an Größe der Gesinnung und formaler Vollendung dem empfindungs¬
gesättigten Sonett "beim Ausbruch des Krieges mit Dänemark", in dem sich
langgestaute Hoffnung in kraftvollen Sätzen Luft macht und heiße Freude über
die endlich gekommene Zeit des Handelns brennt, wo etwas, das den Rhythmus
freudig wogender Volksmassen deutlicher zum Ausdruck brächte als das im
lautesten Jubel noch ernst wuchtige Lied von Düppel, wo etwas bestimmter und
kühner als das Lied "Was wir wollen" mit seinem eisernen, auch heute wieder
passenden Refrain, und welche Siegessymphonie in dem "Hochzeitslied an Deutsch¬
land". Es ist nicht die Stimmung des Augenblicks, die uns diese Dinge wieder
schätzen lehrt! sie gehören, ganz abgesehen von ihrer jetzigen Aktualität zu
dem besten, was wir von deutscher Poesie haben, es ist nicht die edle Gesinnung
allein, die uns anspricht, sondern in mindestens gleichem Maße die schlechthin
vollendete Form. Hier war Geibel der gegebene Mann. Die Entwicklung
Deutschlands zum Kaiserreich war die einzige Hoffnung, die dem verwöhnten
Liebling des Glückes erst nach langem bangen Harren reifte, neben seiner
formalen Stellung die einzige, die den ganzen Menschen wirklich und dauernd
ergriffen hatte. Er, der sein Leben laug im Genusse königlicher Pensionen stand,
war gleichsam zum Sänger des Volkes schicksalsbestimmt und er entzog sich nicht,
wann immer die Stimmung des Volkes nach Ausdruck verlangte. Dabei fügte
es das Glück, das nur verschwindend wenigen der Heutigen vergönnt ist, daß
er zeitlebens über den Parteien stehen konnte und den eigentlichen Ereignissen
fern genug war. um, statt am Detail zu kleben, nur den großen Allgemein¬
heiten in schlagenden Wendungen und einfachen Bildern, die von allen, dem
Höchsten, wie dem Geringsten mitempfunden werden, Ausdruck zu geben. Hier
kam ihm seine musikalische Begabung, der Instinkt des Liederdichters zu Hilfe:
kein einziges fast der Stücke in den "Heroldsrufen" bleibt als Lesegedicht im
Buche stecken, kein einziges ist bloß der Ausdruck eines einzelnen, an den
einzelnen sich wendend, alle fordern sie das Echo der Masse.

Dieser Geibel zum mindesten ist nicht veraltet. Vielleicht wird man
versuchen, von hier aus wieder ein neues Verhältnis zu dem Vielgeschmähten,
nur halb Gekannten zu gewinnen.




vom unbekannten Geibel

fremdsprachlichen Schulbuch haben. Von den meist über ihr poetisches Verdienst
gerühmten Freiheitsdichtern ist Geibel an Fülle keiner, an Kraft nur Arndt zu ver¬
gleichen. Gewiß läuft in den früheren Stücken bewußte oder unbewußte Nachahmung
des Mittelalters mit unter, gewiß ist manches heute stofflich veraltet, aber wo ist
zum Beispiel in unserer jüngsten Kriegslyrik irgend etwas, das an repräsentativer
Kraft, an Größe der Gesinnung und formaler Vollendung dem empfindungs¬
gesättigten Sonett „beim Ausbruch des Krieges mit Dänemark", in dem sich
langgestaute Hoffnung in kraftvollen Sätzen Luft macht und heiße Freude über
die endlich gekommene Zeit des Handelns brennt, wo etwas, das den Rhythmus
freudig wogender Volksmassen deutlicher zum Ausdruck brächte als das im
lautesten Jubel noch ernst wuchtige Lied von Düppel, wo etwas bestimmter und
kühner als das Lied „Was wir wollen" mit seinem eisernen, auch heute wieder
passenden Refrain, und welche Siegessymphonie in dem „Hochzeitslied an Deutsch¬
land". Es ist nicht die Stimmung des Augenblicks, die uns diese Dinge wieder
schätzen lehrt! sie gehören, ganz abgesehen von ihrer jetzigen Aktualität zu
dem besten, was wir von deutscher Poesie haben, es ist nicht die edle Gesinnung
allein, die uns anspricht, sondern in mindestens gleichem Maße die schlechthin
vollendete Form. Hier war Geibel der gegebene Mann. Die Entwicklung
Deutschlands zum Kaiserreich war die einzige Hoffnung, die dem verwöhnten
Liebling des Glückes erst nach langem bangen Harren reifte, neben seiner
formalen Stellung die einzige, die den ganzen Menschen wirklich und dauernd
ergriffen hatte. Er, der sein Leben laug im Genusse königlicher Pensionen stand,
war gleichsam zum Sänger des Volkes schicksalsbestimmt und er entzog sich nicht,
wann immer die Stimmung des Volkes nach Ausdruck verlangte. Dabei fügte
es das Glück, das nur verschwindend wenigen der Heutigen vergönnt ist, daß
er zeitlebens über den Parteien stehen konnte und den eigentlichen Ereignissen
fern genug war. um, statt am Detail zu kleben, nur den großen Allgemein¬
heiten in schlagenden Wendungen und einfachen Bildern, die von allen, dem
Höchsten, wie dem Geringsten mitempfunden werden, Ausdruck zu geben. Hier
kam ihm seine musikalische Begabung, der Instinkt des Liederdichters zu Hilfe:
kein einziges fast der Stücke in den „Heroldsrufen" bleibt als Lesegedicht im
Buche stecken, kein einziges ist bloß der Ausdruck eines einzelnen, an den
einzelnen sich wendend, alle fordern sie das Echo der Masse.

Dieser Geibel zum mindesten ist nicht veraltet. Vielleicht wird man
versuchen, von hier aus wieder ein neues Verhältnis zu dem Vielgeschmähten,
nur halb Gekannten zu gewinnen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/265>, abgerufen am 07.05.2024.