Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Staatenbund von Nordeuropa

zu dem Zeijpunkt gefährdet er überdies mit seiner Widerstandsunfähigkeit nicht
etwa nur sich selbst. Vielmehr bildet das Dasein eines einzelnen Kleinstaates
eine allgemeine Gefahr für den Frieden. Es ist eine traurige Wahrheit, daß
der Schwache die Begehrlichkeit des Starken reizt. Wieviel fehlte im Monat
August 1866, daß Napoleons Forderung, ihm Belgien zu überlassen, Krieg
zwischen zwei großen Reichen entzündete? Und wieviel fehlte im Beginn des
Jahres 1867, als der König der Niederlande sich bestimmen ließ, dem
französischen Kaiserreich das Großherzogtum Luxemburg zu verkaufen, daß um
dieses Zwergstaates willen ein europäischer Krieg ausbrach? Was für Unheil
Belgiens Schwäche über ganz Europa gebracht hat und in erster Linie über
dieses unglückliche Land selbst, das haben wir schaudernd miterlebt. Nur eine
Verkennung so großer Gefahren, eine Verkennung des Begriffes und der Auf¬
gaben des Staats gestattet das selbständige Dasein der Kleinstaaten. Wie
wirtschaftlich schwache Einzelpersonen für sich allein dem Kampf ums Dasein
nicht gewachsen, sondern genötigt sind, sich zusammenschließen und, nunmehr
widerstandsfähig geworden, in eine weitere Gemeinschaft mit Stärkeren zu
treten, fo find auch politisch schwache Staatsgebilde, wenn sie ihre Unabhängigkeit
sichern wollen, unweigerlich auf eine Vergesellschaftung angewiesen. In der
Erkenntnis dieser Wahrheit, mit weitem Blick und kluger Selbstbeherrschung
haben sich die erwähnten europäischen und nordamerikanischen Staaten zusammen¬
geschlossen und haben dies, soviel bekannt geworden, nie bereut. Es ist hier nicht
der Ort, alle segensreichen Wirkungen aufzuführen, die die Staatenvereinigung
mit sich bringt. Daß jeder einzelne Bürger für die Geltendmachung seiner
geistigen und wirtschaftlichen Kräfte nicht mehr auf den engen Raum eines kleinen
Landes beschränkt blieb, daß er als stolzes Glied eines mächtigen Staatenvereins
in einem großen Wirtschaftsgebiet Fähigkeiten entwickeln konnte, die bis dahin brach
lagen, das sei hier nur angedeutet. So ist denn auch nie bekannt geworden,
daß einer jener nordamerikanischen Staaten oder irgendein schweizerischer
Kanton den Eintritt in das Bundesverhältnis bedauert und angestrebt hätte,
die ehemalige Unabhängigkeit, dieses glänzende Elend, wiederzuerlangen. Nie
ist bekannt geworden, daß das Königreich Bauern Neigung verspürt hätte, seine
hohe Stellung als Mitglied des Deutschen Reiches aufzugeben und sich wieder,
wie einst, allen Gefahren internationaler Verwicklungen auszusetzen. Liegt es
doch für jeden denkenden Menschen auf der Hand, daß die Unabhängigkeit des
Kleinstaates nichts ist, als ein leerer Schein, nichts als eine kahle convenus,
und daß die Gefahren dieser Vereinzelung ins Ungemessene wachsen mit dem
Wachstum der Großmächte und mit der immer häufiger zu beobachtenden Ver¬
bindung der Großmächte untereinander. -- Inzwischen hat der große Gemein¬
schaftsgedanke selbst in dem Völkerkriege seine Wirkung geäußert. Er hat
Bündnisse auf beiden Seiten der kämpfenden Parteien hervorgerufen, er hat
die skandinavischen Länder zum Schutze ihrer gemeinsamen Interessen zusammen¬
geführt und er hat jetzt einen neuen großen Sieg davongetragen. Im Mai 1915


Staatenbund von Nordeuropa

zu dem Zeijpunkt gefährdet er überdies mit seiner Widerstandsunfähigkeit nicht
etwa nur sich selbst. Vielmehr bildet das Dasein eines einzelnen Kleinstaates
eine allgemeine Gefahr für den Frieden. Es ist eine traurige Wahrheit, daß
der Schwache die Begehrlichkeit des Starken reizt. Wieviel fehlte im Monat
August 1866, daß Napoleons Forderung, ihm Belgien zu überlassen, Krieg
zwischen zwei großen Reichen entzündete? Und wieviel fehlte im Beginn des
Jahres 1867, als der König der Niederlande sich bestimmen ließ, dem
französischen Kaiserreich das Großherzogtum Luxemburg zu verkaufen, daß um
dieses Zwergstaates willen ein europäischer Krieg ausbrach? Was für Unheil
Belgiens Schwäche über ganz Europa gebracht hat und in erster Linie über
dieses unglückliche Land selbst, das haben wir schaudernd miterlebt. Nur eine
Verkennung so großer Gefahren, eine Verkennung des Begriffes und der Auf¬
gaben des Staats gestattet das selbständige Dasein der Kleinstaaten. Wie
wirtschaftlich schwache Einzelpersonen für sich allein dem Kampf ums Dasein
nicht gewachsen, sondern genötigt sind, sich zusammenschließen und, nunmehr
widerstandsfähig geworden, in eine weitere Gemeinschaft mit Stärkeren zu
treten, fo find auch politisch schwache Staatsgebilde, wenn sie ihre Unabhängigkeit
sichern wollen, unweigerlich auf eine Vergesellschaftung angewiesen. In der
Erkenntnis dieser Wahrheit, mit weitem Blick und kluger Selbstbeherrschung
haben sich die erwähnten europäischen und nordamerikanischen Staaten zusammen¬
geschlossen und haben dies, soviel bekannt geworden, nie bereut. Es ist hier nicht
der Ort, alle segensreichen Wirkungen aufzuführen, die die Staatenvereinigung
mit sich bringt. Daß jeder einzelne Bürger für die Geltendmachung seiner
geistigen und wirtschaftlichen Kräfte nicht mehr auf den engen Raum eines kleinen
Landes beschränkt blieb, daß er als stolzes Glied eines mächtigen Staatenvereins
in einem großen Wirtschaftsgebiet Fähigkeiten entwickeln konnte, die bis dahin brach
lagen, das sei hier nur angedeutet. So ist denn auch nie bekannt geworden,
daß einer jener nordamerikanischen Staaten oder irgendein schweizerischer
Kanton den Eintritt in das Bundesverhältnis bedauert und angestrebt hätte,
die ehemalige Unabhängigkeit, dieses glänzende Elend, wiederzuerlangen. Nie
ist bekannt geworden, daß das Königreich Bauern Neigung verspürt hätte, seine
hohe Stellung als Mitglied des Deutschen Reiches aufzugeben und sich wieder,
wie einst, allen Gefahren internationaler Verwicklungen auszusetzen. Liegt es
doch für jeden denkenden Menschen auf der Hand, daß die Unabhängigkeit des
Kleinstaates nichts ist, als ein leerer Schein, nichts als eine kahle convenus,
und daß die Gefahren dieser Vereinzelung ins Ungemessene wachsen mit dem
Wachstum der Großmächte und mit der immer häufiger zu beobachtenden Ver¬
bindung der Großmächte untereinander. — Inzwischen hat der große Gemein¬
schaftsgedanke selbst in dem Völkerkriege seine Wirkung geäußert. Er hat
Bündnisse auf beiden Seiten der kämpfenden Parteien hervorgerufen, er hat
die skandinavischen Länder zum Schutze ihrer gemeinsamen Interessen zusammen¬
geführt und er hat jetzt einen neuen großen Sieg davongetragen. Im Mai 1915


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323846"/>
          <fw type="header" place="top"> Staatenbund von Nordeuropa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1015" prev="#ID_1014" next="#ID_1016"> zu dem Zeijpunkt gefährdet er überdies mit seiner Widerstandsunfähigkeit nicht<lb/>
etwa nur sich selbst. Vielmehr bildet das Dasein eines einzelnen Kleinstaates<lb/>
eine allgemeine Gefahr für den Frieden. Es ist eine traurige Wahrheit, daß<lb/>
der Schwache die Begehrlichkeit des Starken reizt. Wieviel fehlte im Monat<lb/>
August 1866, daß Napoleons Forderung, ihm Belgien zu überlassen, Krieg<lb/>
zwischen zwei großen Reichen entzündete? Und wieviel fehlte im Beginn des<lb/>
Jahres 1867, als der König der Niederlande sich bestimmen ließ, dem<lb/>
französischen Kaiserreich das Großherzogtum Luxemburg zu verkaufen, daß um<lb/>
dieses Zwergstaates willen ein europäischer Krieg ausbrach? Was für Unheil<lb/>
Belgiens Schwäche über ganz Europa gebracht hat und in erster Linie über<lb/>
dieses unglückliche Land selbst, das haben wir schaudernd miterlebt. Nur eine<lb/>
Verkennung so großer Gefahren, eine Verkennung des Begriffes und der Auf¬<lb/>
gaben des Staats gestattet das selbständige Dasein der Kleinstaaten. Wie<lb/>
wirtschaftlich schwache Einzelpersonen für sich allein dem Kampf ums Dasein<lb/>
nicht gewachsen, sondern genötigt sind, sich zusammenschließen und, nunmehr<lb/>
widerstandsfähig geworden, in eine weitere Gemeinschaft mit Stärkeren zu<lb/>
treten, fo find auch politisch schwache Staatsgebilde, wenn sie ihre Unabhängigkeit<lb/>
sichern wollen, unweigerlich auf eine Vergesellschaftung angewiesen. In der<lb/>
Erkenntnis dieser Wahrheit, mit weitem Blick und kluger Selbstbeherrschung<lb/>
haben sich die erwähnten europäischen und nordamerikanischen Staaten zusammen¬<lb/>
geschlossen und haben dies, soviel bekannt geworden, nie bereut. Es ist hier nicht<lb/>
der Ort, alle segensreichen Wirkungen aufzuführen, die die Staatenvereinigung<lb/>
mit sich bringt. Daß jeder einzelne Bürger für die Geltendmachung seiner<lb/>
geistigen und wirtschaftlichen Kräfte nicht mehr auf den engen Raum eines kleinen<lb/>
Landes beschränkt blieb, daß er als stolzes Glied eines mächtigen Staatenvereins<lb/>
in einem großen Wirtschaftsgebiet Fähigkeiten entwickeln konnte, die bis dahin brach<lb/>
lagen, das sei hier nur angedeutet. So ist denn auch nie bekannt geworden,<lb/>
daß einer jener nordamerikanischen Staaten oder irgendein schweizerischer<lb/>
Kanton den Eintritt in das Bundesverhältnis bedauert und angestrebt hätte,<lb/>
die ehemalige Unabhängigkeit, dieses glänzende Elend, wiederzuerlangen. Nie<lb/>
ist bekannt geworden, daß das Königreich Bauern Neigung verspürt hätte, seine<lb/>
hohe Stellung als Mitglied des Deutschen Reiches aufzugeben und sich wieder,<lb/>
wie einst, allen Gefahren internationaler Verwicklungen auszusetzen. Liegt es<lb/>
doch für jeden denkenden Menschen auf der Hand, daß die Unabhängigkeit des<lb/>
Kleinstaates nichts ist, als ein leerer Schein, nichts als eine kahle convenus,<lb/>
und daß die Gefahren dieser Vereinzelung ins Ungemessene wachsen mit dem<lb/>
Wachstum der Großmächte und mit der immer häufiger zu beobachtenden Ver¬<lb/>
bindung der Großmächte untereinander. &#x2014; Inzwischen hat der große Gemein¬<lb/>
schaftsgedanke selbst in dem Völkerkriege seine Wirkung geäußert. Er hat<lb/>
Bündnisse auf beiden Seiten der kämpfenden Parteien hervorgerufen, er hat<lb/>
die skandinavischen Länder zum Schutze ihrer gemeinsamen Interessen zusammen¬<lb/>
geführt und er hat jetzt einen neuen großen Sieg davongetragen. Im Mai 1915</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0307] Staatenbund von Nordeuropa zu dem Zeijpunkt gefährdet er überdies mit seiner Widerstandsunfähigkeit nicht etwa nur sich selbst. Vielmehr bildet das Dasein eines einzelnen Kleinstaates eine allgemeine Gefahr für den Frieden. Es ist eine traurige Wahrheit, daß der Schwache die Begehrlichkeit des Starken reizt. Wieviel fehlte im Monat August 1866, daß Napoleons Forderung, ihm Belgien zu überlassen, Krieg zwischen zwei großen Reichen entzündete? Und wieviel fehlte im Beginn des Jahres 1867, als der König der Niederlande sich bestimmen ließ, dem französischen Kaiserreich das Großherzogtum Luxemburg zu verkaufen, daß um dieses Zwergstaates willen ein europäischer Krieg ausbrach? Was für Unheil Belgiens Schwäche über ganz Europa gebracht hat und in erster Linie über dieses unglückliche Land selbst, das haben wir schaudernd miterlebt. Nur eine Verkennung so großer Gefahren, eine Verkennung des Begriffes und der Auf¬ gaben des Staats gestattet das selbständige Dasein der Kleinstaaten. Wie wirtschaftlich schwache Einzelpersonen für sich allein dem Kampf ums Dasein nicht gewachsen, sondern genötigt sind, sich zusammenschließen und, nunmehr widerstandsfähig geworden, in eine weitere Gemeinschaft mit Stärkeren zu treten, fo find auch politisch schwache Staatsgebilde, wenn sie ihre Unabhängigkeit sichern wollen, unweigerlich auf eine Vergesellschaftung angewiesen. In der Erkenntnis dieser Wahrheit, mit weitem Blick und kluger Selbstbeherrschung haben sich die erwähnten europäischen und nordamerikanischen Staaten zusammen¬ geschlossen und haben dies, soviel bekannt geworden, nie bereut. Es ist hier nicht der Ort, alle segensreichen Wirkungen aufzuführen, die die Staatenvereinigung mit sich bringt. Daß jeder einzelne Bürger für die Geltendmachung seiner geistigen und wirtschaftlichen Kräfte nicht mehr auf den engen Raum eines kleinen Landes beschränkt blieb, daß er als stolzes Glied eines mächtigen Staatenvereins in einem großen Wirtschaftsgebiet Fähigkeiten entwickeln konnte, die bis dahin brach lagen, das sei hier nur angedeutet. So ist denn auch nie bekannt geworden, daß einer jener nordamerikanischen Staaten oder irgendein schweizerischer Kanton den Eintritt in das Bundesverhältnis bedauert und angestrebt hätte, die ehemalige Unabhängigkeit, dieses glänzende Elend, wiederzuerlangen. Nie ist bekannt geworden, daß das Königreich Bauern Neigung verspürt hätte, seine hohe Stellung als Mitglied des Deutschen Reiches aufzugeben und sich wieder, wie einst, allen Gefahren internationaler Verwicklungen auszusetzen. Liegt es doch für jeden denkenden Menschen auf der Hand, daß die Unabhängigkeit des Kleinstaates nichts ist, als ein leerer Schein, nichts als eine kahle convenus, und daß die Gefahren dieser Vereinzelung ins Ungemessene wachsen mit dem Wachstum der Großmächte und mit der immer häufiger zu beobachtenden Ver¬ bindung der Großmächte untereinander. — Inzwischen hat der große Gemein¬ schaftsgedanke selbst in dem Völkerkriege seine Wirkung geäußert. Er hat Bündnisse auf beiden Seiten der kämpfenden Parteien hervorgerufen, er hat die skandinavischen Länder zum Schutze ihrer gemeinsamen Interessen zusammen¬ geführt und er hat jetzt einen neuen großen Sieg davongetragen. Im Mai 1915

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/307
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/307>, abgerufen am 05.05.2024.