Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.Staatenbund von Nordeuropa macht dieser Umstand eine Verbindung zum Schutze gemeinsamer Interessen Wer sich bemüht, gerecht zu richten, wer die reine Wahrheit sucht, wird Staatenbund von Nordeuropa macht dieser Umstand eine Verbindung zum Schutze gemeinsamer Interessen Wer sich bemüht, gerecht zu richten, wer die reine Wahrheit sucht, wird <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323848"/> <fw type="header" place="top"> Staatenbund von Nordeuropa</fw><lb/> <p xml:id="ID_1019" prev="#ID_1018"> macht dieser Umstand eine Verbindung zum Schutze gemeinsamer Interessen<lb/> nicht unmöglich. Denn ähnliche Verschiedenheiten bestanden unter den jetzt<lb/> verbündeten deutschen Staaten auch, ohne daß sie den Abschluß des Bündnisses auf<lb/> die Dauer gehindert hätten. Wenn es weiter zu Bedenken Anlaß geben sollte, daß<lb/> ein Teil der Bevölkerung in den in Rede stehenden Ländern zurzeit nicht<lb/> freundlich gegen Deutschland gesinnt ist. so ist dies gewiß sorgfältig zu beachten.<lb/> Entscheidendes Gewicht wird indessen auf die Volksstimmung kaum zu legen<lb/> sein. Solche Stimmungen wechseln. Um dies zu erkennen, braucht man nicht<lb/> auf die Zeit des Koriolan oder Julius Cäsar zurückzugehen. Es mag genügen,<lb/> an die wechselvolle Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und England<lb/> zu erinnern. Für die Masse liegt es nahe, Mißgriffe, die einzelne Beamte sich<lb/> zuschulden kommen lassen, dem ganzen Lande anzurechnen. Im allgemeinen<lb/> läßt sich schwerlich behaupten, Deutschland habe im letzten Menschenalter seit<lb/> dem Siege über Frankreich und der Aufrichtung des Reiches eine Neigung zu<lb/> Übergriffen gegen fremde Staaten oder zu ihrer Unterdrückung an den Tag<lb/> gelegt. Ein Versuch von kriegerischen Eroberungen auf Kosten der Nachbarn,<lb/> wie er fo häufig in der Geschichte namentlich von Frankreich und England<lb/> festzustellen ist, wird sich nicht nachweisen lassen. An Gelegenheiten hat es<lb/> bekanntlich nicht gefehlt. Sie blieben unbenutzt. Die Tatsache des dreiundvierzig-<lb/> jährigen Friedens von 1871 bis 1914 läßt sich nicht aus der Welt schaffen.<lb/> Sie liefert einen Beweis, der sich nicht entkräften läßt. Auch dafür sind die<lb/> Beweise vorhanden, daß Deutschland während der ganzen Regierungszeit Kaiser<lb/> Wilhelms des Zweiten eifrig, wenn nicht zu eifrig, bestrebt gewesen ist, durch<lb/> weites Entgegenkommen ein freundliches Einvernehmen mit allen Nachbarländern<lb/> zu erhalten. Wenn Zuverlässigkeit und Treue im Leben der Nationen noch<lb/> irgend Wert haben, — läßt sich behaupten, Deutschland habe seinen Bundes¬<lb/> genossen, Österreich oder Italien, die Treue gebrochen? Oder es habe um<lb/> eigenen Vorteils willen die Türkei ihren Feinden preisgegeben? Flöße Italien<lb/> den neutralen Staaten größeres Vertrauen ein als Deutschland? Und hat sich<lb/> bie deutsche Regierung im Sommer 1914 wirklich geirrt, wenn sie glaubte,<lb/> rings von Feinden umgeben zu sein? Hat sie dennoch geirrt, — war dieser<lb/> Irrtum so unverzeihlich, daß Deutschland jeden Anspruch auf Vertrauen ver-<lb/> loren hat?</p><lb/> <p xml:id="ID_1020"> Wer sich bemüht, gerecht zu richten, wer die reine Wahrheit sucht, wird<lb/> diese Fragen nicht zu ungunsten des Reiches beantworten können. Deswegen<lb/> darf die Hoffnung ausgesprochen werden, die geistigen Führer in den neutralen<lb/> Staaten möchten unbeeinflußt von wechselnden Volksstimmungen nach eigenem<lb/> Ermessen prüfen und entscheiden, ob es zum Nutzen oder Schaden ihres Landes<lb/> dienen wird, für den Fall des Friedens dem Staatenbundsgedanken näher zu<lb/> treten.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0309]
Staatenbund von Nordeuropa
macht dieser Umstand eine Verbindung zum Schutze gemeinsamer Interessen
nicht unmöglich. Denn ähnliche Verschiedenheiten bestanden unter den jetzt
verbündeten deutschen Staaten auch, ohne daß sie den Abschluß des Bündnisses auf
die Dauer gehindert hätten. Wenn es weiter zu Bedenken Anlaß geben sollte, daß
ein Teil der Bevölkerung in den in Rede stehenden Ländern zurzeit nicht
freundlich gegen Deutschland gesinnt ist. so ist dies gewiß sorgfältig zu beachten.
Entscheidendes Gewicht wird indessen auf die Volksstimmung kaum zu legen
sein. Solche Stimmungen wechseln. Um dies zu erkennen, braucht man nicht
auf die Zeit des Koriolan oder Julius Cäsar zurückzugehen. Es mag genügen,
an die wechselvolle Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und England
zu erinnern. Für die Masse liegt es nahe, Mißgriffe, die einzelne Beamte sich
zuschulden kommen lassen, dem ganzen Lande anzurechnen. Im allgemeinen
läßt sich schwerlich behaupten, Deutschland habe im letzten Menschenalter seit
dem Siege über Frankreich und der Aufrichtung des Reiches eine Neigung zu
Übergriffen gegen fremde Staaten oder zu ihrer Unterdrückung an den Tag
gelegt. Ein Versuch von kriegerischen Eroberungen auf Kosten der Nachbarn,
wie er fo häufig in der Geschichte namentlich von Frankreich und England
festzustellen ist, wird sich nicht nachweisen lassen. An Gelegenheiten hat es
bekanntlich nicht gefehlt. Sie blieben unbenutzt. Die Tatsache des dreiundvierzig-
jährigen Friedens von 1871 bis 1914 läßt sich nicht aus der Welt schaffen.
Sie liefert einen Beweis, der sich nicht entkräften läßt. Auch dafür sind die
Beweise vorhanden, daß Deutschland während der ganzen Regierungszeit Kaiser
Wilhelms des Zweiten eifrig, wenn nicht zu eifrig, bestrebt gewesen ist, durch
weites Entgegenkommen ein freundliches Einvernehmen mit allen Nachbarländern
zu erhalten. Wenn Zuverlässigkeit und Treue im Leben der Nationen noch
irgend Wert haben, — läßt sich behaupten, Deutschland habe seinen Bundes¬
genossen, Österreich oder Italien, die Treue gebrochen? Oder es habe um
eigenen Vorteils willen die Türkei ihren Feinden preisgegeben? Flöße Italien
den neutralen Staaten größeres Vertrauen ein als Deutschland? Und hat sich
bie deutsche Regierung im Sommer 1914 wirklich geirrt, wenn sie glaubte,
rings von Feinden umgeben zu sein? Hat sie dennoch geirrt, — war dieser
Irrtum so unverzeihlich, daß Deutschland jeden Anspruch auf Vertrauen ver-
loren hat?
Wer sich bemüht, gerecht zu richten, wer die reine Wahrheit sucht, wird
diese Fragen nicht zu ungunsten des Reiches beantworten können. Deswegen
darf die Hoffnung ausgesprochen werden, die geistigen Führer in den neutralen
Staaten möchten unbeeinflußt von wechselnden Volksstimmungen nach eigenem
Ermessen prüfen und entscheiden, ob es zum Nutzen oder Schaden ihres Landes
dienen wird, für den Fall des Friedens dem Staatenbundsgedanken näher zu
treten.
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