Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sollen die Dramatiker schweigen?

vielvermögend gemacht haben", ist ihm gerade ein Beweis, "daß hier ein stilles
neues Wachstum anhebt." Man fragt sich aber, warum soll dies Schaffen so
sehr in die Zukunft verlegt werden, warum soll man nicht erwarten dürfen,
daß es sich schon in der Gegenwart auswirke? Warum soll die Dramatik gegenüber
allen anderen Lebensäußerungen, die wir sich entfalten sehen, zurückbleiben? Man
könnte sagen, alles was heute die Dichter schaffen, und sei es im stillsten
Kämmerlein, sei es auch der grauesten und exotischsten Vorzeit entnommen, hänge
doch irgendwie mit den Begebnissen der Gegenwart zusammen, sei doch irgendwie
von dem Blutdurst und dem heroischen Atem unserer Zeit umwittert. Aber das
ist es nicht, was die Zeit fordert. Sie will, daß ihr die Dichtung gerade und
ohne Umwege und Umschweife ins Auge blicke und ihr den Spiegel der Kunst
vorhalte. Da unsere Dramatiker im Mobilmachungszustand stecken geblieben
sind, tragen sie eine Hauptschuld an der gegenwärtigen Ratlosigkeit und
Stagnation der Theater. Es erscheint verfehlt, mit dem Schaffen bis nach
dem Kriege zu warten. Gerade jenen Stimmen gegenüber, die die Lage nach
dem Krieg pessimistisch beurteilen, müssen zeitig Mahner und Geistesrufer auf¬
trete", die jener befürchteten Lähmung unseres Kulturlebens entgegentreten.
Es ist nicht einzusehen, warum es in künstlerischem Sinne verboten sein soll,
schon jetzt die ungeheure Mannigfaltigkeit innerer Probleme, in denen wir stehen,
dramatisch zu erfassen. Man macht die Verwirklichung eines Dramas unmöglich,
wenn man seine Hoffnungen immer wieder in die Zukunft verlegt. In
unserer ganzen Kulturepoche mästen wir unausgesetzt die Zukunft von unseren
Hoffnungen, unausgesetzt verurteilen wir die Gegenwart, indem wir alles
Heil von der Zukunft erwarten. Keine Ewigkeit aber wird erbringen, was die
Gegenwart ausgeschlagen hat. Nie wieder wird das Erleben dieser Zeit
in so brennender Deutlichkeit und Schmerzlichkeit vor uns stehen, wie gerade
jetzt. Von aller Zukunft dürfte nur eine Schwächung und Verdünnung der
Gefühle, von denen der heutige Deutsche durchrast ist, zu erwarten sein. Der
Zustand, in dem wir leben, ist kein Burgfrieden mehr, fondern er ist ein
"Kirchhofsfrieden". Dabei sei die Vermutung ganz zurückgewiesen, daß das
Schweigen der Dramatiker eine Mitursache habe in Bedenken vor der Zensur
-- ein so bedenkliches Symptom werden sie mit ihrem Schweigen nicht verraten
wollen. Von der Besorgnis, daß man ihr Schaffen mit der üblichen
Kriegspossenfabrikation verwechseln könnte, ist garnicht zu reden. Es ist
verständlich, daß sie sich mit ihrem Schaffen abheben wollen, aber das
Schweigen hat sie schon abgehoben, ihre Werke fallen jetzt nicht mehr ins
Getümmel. Also heraus mit neuen Stücken, ihr Dramatiker! Die Zeit strotzt
von Problemen, die nach Verwirklichung, Darstellung und Lösung verlangen,
erfüllt gerade jetzt und hier die Aufgaben der fortschreitenden Dichtung, damit
ihr nicht hinter dem dämonischen Lauf dieser Zeit zurückbleibt! Vergeßt auch
nicht, daß euch ein Amt überantwortet ist, eins von der Kunst und eins von
der Menschlichkeit! Bleibt auch jetzt Träger und Erfüller dieses Amtes! Laßt


Sollen die Dramatiker schweigen?

vielvermögend gemacht haben", ist ihm gerade ein Beweis, „daß hier ein stilles
neues Wachstum anhebt." Man fragt sich aber, warum soll dies Schaffen so
sehr in die Zukunft verlegt werden, warum soll man nicht erwarten dürfen,
daß es sich schon in der Gegenwart auswirke? Warum soll die Dramatik gegenüber
allen anderen Lebensäußerungen, die wir sich entfalten sehen, zurückbleiben? Man
könnte sagen, alles was heute die Dichter schaffen, und sei es im stillsten
Kämmerlein, sei es auch der grauesten und exotischsten Vorzeit entnommen, hänge
doch irgendwie mit den Begebnissen der Gegenwart zusammen, sei doch irgendwie
von dem Blutdurst und dem heroischen Atem unserer Zeit umwittert. Aber das
ist es nicht, was die Zeit fordert. Sie will, daß ihr die Dichtung gerade und
ohne Umwege und Umschweife ins Auge blicke und ihr den Spiegel der Kunst
vorhalte. Da unsere Dramatiker im Mobilmachungszustand stecken geblieben
sind, tragen sie eine Hauptschuld an der gegenwärtigen Ratlosigkeit und
Stagnation der Theater. Es erscheint verfehlt, mit dem Schaffen bis nach
dem Kriege zu warten. Gerade jenen Stimmen gegenüber, die die Lage nach
dem Krieg pessimistisch beurteilen, müssen zeitig Mahner und Geistesrufer auf¬
trete», die jener befürchteten Lähmung unseres Kulturlebens entgegentreten.
Es ist nicht einzusehen, warum es in künstlerischem Sinne verboten sein soll,
schon jetzt die ungeheure Mannigfaltigkeit innerer Probleme, in denen wir stehen,
dramatisch zu erfassen. Man macht die Verwirklichung eines Dramas unmöglich,
wenn man seine Hoffnungen immer wieder in die Zukunft verlegt. In
unserer ganzen Kulturepoche mästen wir unausgesetzt die Zukunft von unseren
Hoffnungen, unausgesetzt verurteilen wir die Gegenwart, indem wir alles
Heil von der Zukunft erwarten. Keine Ewigkeit aber wird erbringen, was die
Gegenwart ausgeschlagen hat. Nie wieder wird das Erleben dieser Zeit
in so brennender Deutlichkeit und Schmerzlichkeit vor uns stehen, wie gerade
jetzt. Von aller Zukunft dürfte nur eine Schwächung und Verdünnung der
Gefühle, von denen der heutige Deutsche durchrast ist, zu erwarten sein. Der
Zustand, in dem wir leben, ist kein Burgfrieden mehr, fondern er ist ein
„Kirchhofsfrieden". Dabei sei die Vermutung ganz zurückgewiesen, daß das
Schweigen der Dramatiker eine Mitursache habe in Bedenken vor der Zensur
— ein so bedenkliches Symptom werden sie mit ihrem Schweigen nicht verraten
wollen. Von der Besorgnis, daß man ihr Schaffen mit der üblichen
Kriegspossenfabrikation verwechseln könnte, ist garnicht zu reden. Es ist
verständlich, daß sie sich mit ihrem Schaffen abheben wollen, aber das
Schweigen hat sie schon abgehoben, ihre Werke fallen jetzt nicht mehr ins
Getümmel. Also heraus mit neuen Stücken, ihr Dramatiker! Die Zeit strotzt
von Problemen, die nach Verwirklichung, Darstellung und Lösung verlangen,
erfüllt gerade jetzt und hier die Aufgaben der fortschreitenden Dichtung, damit
ihr nicht hinter dem dämonischen Lauf dieser Zeit zurückbleibt! Vergeßt auch
nicht, daß euch ein Amt überantwortet ist, eins von der Kunst und eins von
der Menschlichkeit! Bleibt auch jetzt Träger und Erfüller dieses Amtes! Laßt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0325" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323864"/>
          <fw type="header" place="top"> Sollen die Dramatiker schweigen?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1067" prev="#ID_1066" next="#ID_1068"> vielvermögend gemacht haben", ist ihm gerade ein Beweis, &#x201E;daß hier ein stilles<lb/>
neues Wachstum anhebt." Man fragt sich aber, warum soll dies Schaffen so<lb/>
sehr in die Zukunft verlegt werden, warum soll man nicht erwarten dürfen,<lb/>
daß es sich schon in der Gegenwart auswirke? Warum soll die Dramatik gegenüber<lb/>
allen anderen Lebensäußerungen, die wir sich entfalten sehen, zurückbleiben? Man<lb/>
könnte sagen, alles was heute die Dichter schaffen, und sei es im stillsten<lb/>
Kämmerlein, sei es auch der grauesten und exotischsten Vorzeit entnommen, hänge<lb/>
doch irgendwie mit den Begebnissen der Gegenwart zusammen, sei doch irgendwie<lb/>
von dem Blutdurst und dem heroischen Atem unserer Zeit umwittert. Aber das<lb/>
ist es nicht, was die Zeit fordert. Sie will, daß ihr die Dichtung gerade und<lb/>
ohne Umwege und Umschweife ins Auge blicke und ihr den Spiegel der Kunst<lb/>
vorhalte. Da unsere Dramatiker im Mobilmachungszustand stecken geblieben<lb/>
sind, tragen sie eine Hauptschuld an der gegenwärtigen Ratlosigkeit und<lb/>
Stagnation der Theater. Es erscheint verfehlt, mit dem Schaffen bis nach<lb/>
dem Kriege zu warten. Gerade jenen Stimmen gegenüber, die die Lage nach<lb/>
dem Krieg pessimistisch beurteilen, müssen zeitig Mahner und Geistesrufer auf¬<lb/>
trete», die jener befürchteten Lähmung unseres Kulturlebens entgegentreten.<lb/>
Es ist nicht einzusehen, warum es in künstlerischem Sinne verboten sein soll,<lb/>
schon jetzt die ungeheure Mannigfaltigkeit innerer Probleme, in denen wir stehen,<lb/>
dramatisch zu erfassen. Man macht die Verwirklichung eines Dramas unmöglich,<lb/>
wenn man seine Hoffnungen immer wieder in die Zukunft verlegt. In<lb/>
unserer ganzen Kulturepoche mästen wir unausgesetzt die Zukunft von unseren<lb/>
Hoffnungen, unausgesetzt verurteilen wir die Gegenwart, indem wir alles<lb/>
Heil von der Zukunft erwarten. Keine Ewigkeit aber wird erbringen, was die<lb/>
Gegenwart ausgeschlagen hat. Nie wieder wird das Erleben dieser Zeit<lb/>
in so brennender Deutlichkeit und Schmerzlichkeit vor uns stehen, wie gerade<lb/>
jetzt. Von aller Zukunft dürfte nur eine Schwächung und Verdünnung der<lb/>
Gefühle, von denen der heutige Deutsche durchrast ist, zu erwarten sein. Der<lb/>
Zustand, in dem wir leben, ist kein Burgfrieden mehr, fondern er ist ein<lb/>
&#x201E;Kirchhofsfrieden". Dabei sei die Vermutung ganz zurückgewiesen, daß das<lb/>
Schweigen der Dramatiker eine Mitursache habe in Bedenken vor der Zensur<lb/>
&#x2014; ein so bedenkliches Symptom werden sie mit ihrem Schweigen nicht verraten<lb/>
wollen. Von der Besorgnis, daß man ihr Schaffen mit der üblichen<lb/>
Kriegspossenfabrikation verwechseln könnte, ist garnicht zu reden. Es ist<lb/>
verständlich, daß sie sich mit ihrem Schaffen abheben wollen, aber das<lb/>
Schweigen hat sie schon abgehoben, ihre Werke fallen jetzt nicht mehr ins<lb/>
Getümmel. Also heraus mit neuen Stücken, ihr Dramatiker! Die Zeit strotzt<lb/>
von Problemen, die nach Verwirklichung, Darstellung und Lösung verlangen,<lb/>
erfüllt gerade jetzt und hier die Aufgaben der fortschreitenden Dichtung, damit<lb/>
ihr nicht hinter dem dämonischen Lauf dieser Zeit zurückbleibt! Vergeßt auch<lb/>
nicht, daß euch ein Amt überantwortet ist, eins von der Kunst und eins von<lb/>
der Menschlichkeit! Bleibt auch jetzt Träger und Erfüller dieses Amtes! Laßt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0325] Sollen die Dramatiker schweigen? vielvermögend gemacht haben", ist ihm gerade ein Beweis, „daß hier ein stilles neues Wachstum anhebt." Man fragt sich aber, warum soll dies Schaffen so sehr in die Zukunft verlegt werden, warum soll man nicht erwarten dürfen, daß es sich schon in der Gegenwart auswirke? Warum soll die Dramatik gegenüber allen anderen Lebensäußerungen, die wir sich entfalten sehen, zurückbleiben? Man könnte sagen, alles was heute die Dichter schaffen, und sei es im stillsten Kämmerlein, sei es auch der grauesten und exotischsten Vorzeit entnommen, hänge doch irgendwie mit den Begebnissen der Gegenwart zusammen, sei doch irgendwie von dem Blutdurst und dem heroischen Atem unserer Zeit umwittert. Aber das ist es nicht, was die Zeit fordert. Sie will, daß ihr die Dichtung gerade und ohne Umwege und Umschweife ins Auge blicke und ihr den Spiegel der Kunst vorhalte. Da unsere Dramatiker im Mobilmachungszustand stecken geblieben sind, tragen sie eine Hauptschuld an der gegenwärtigen Ratlosigkeit und Stagnation der Theater. Es erscheint verfehlt, mit dem Schaffen bis nach dem Kriege zu warten. Gerade jenen Stimmen gegenüber, die die Lage nach dem Krieg pessimistisch beurteilen, müssen zeitig Mahner und Geistesrufer auf¬ trete», die jener befürchteten Lähmung unseres Kulturlebens entgegentreten. Es ist nicht einzusehen, warum es in künstlerischem Sinne verboten sein soll, schon jetzt die ungeheure Mannigfaltigkeit innerer Probleme, in denen wir stehen, dramatisch zu erfassen. Man macht die Verwirklichung eines Dramas unmöglich, wenn man seine Hoffnungen immer wieder in die Zukunft verlegt. In unserer ganzen Kulturepoche mästen wir unausgesetzt die Zukunft von unseren Hoffnungen, unausgesetzt verurteilen wir die Gegenwart, indem wir alles Heil von der Zukunft erwarten. Keine Ewigkeit aber wird erbringen, was die Gegenwart ausgeschlagen hat. Nie wieder wird das Erleben dieser Zeit in so brennender Deutlichkeit und Schmerzlichkeit vor uns stehen, wie gerade jetzt. Von aller Zukunft dürfte nur eine Schwächung und Verdünnung der Gefühle, von denen der heutige Deutsche durchrast ist, zu erwarten sein. Der Zustand, in dem wir leben, ist kein Burgfrieden mehr, fondern er ist ein „Kirchhofsfrieden". Dabei sei die Vermutung ganz zurückgewiesen, daß das Schweigen der Dramatiker eine Mitursache habe in Bedenken vor der Zensur — ein so bedenkliches Symptom werden sie mit ihrem Schweigen nicht verraten wollen. Von der Besorgnis, daß man ihr Schaffen mit der üblichen Kriegspossenfabrikation verwechseln könnte, ist garnicht zu reden. Es ist verständlich, daß sie sich mit ihrem Schaffen abheben wollen, aber das Schweigen hat sie schon abgehoben, ihre Werke fallen jetzt nicht mehr ins Getümmel. Also heraus mit neuen Stücken, ihr Dramatiker! Die Zeit strotzt von Problemen, die nach Verwirklichung, Darstellung und Lösung verlangen, erfüllt gerade jetzt und hier die Aufgaben der fortschreitenden Dichtung, damit ihr nicht hinter dem dämonischen Lauf dieser Zeit zurückbleibt! Vergeßt auch nicht, daß euch ein Amt überantwortet ist, eins von der Kunst und eins von der Menschlichkeit! Bleibt auch jetzt Träger und Erfüller dieses Amtes! Laßt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/325
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/325>, abgerufen am 29.04.2024.