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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Arisis des deutschbaltischen Menschen

christianisiert. So könnte es scheinen, als wäre der einstmals durch Widerstände
rege gehaltene religiöse Eifer jetzt zur Ermattung verurteilt. Die Geschichte
sorgte für neue Wetzsteine. Der entschlossene Protestantismus vereinigte jetzt
das ganze Land, seine Einheitlichkeit überwölbte auch den nationalen Gegensatz.
Um so mehr konnte er zum festen Anker der baltischen Sonderart in den
folgenden Streitigkeiten werden, in denen das katholische Polen, das protestantische
Schweden, das griechische Rußland sich um den Erwerb des Landes bemühten.
An erster Stelle steht im Privilegium Sigismundi Augusti (1561), das Polen
dem Land erteilte, die Gewähr der Unantastbarkeit der Augsburgischen
Konfession. Und als Livland sich Peter dem Großen unterwarf (1710), wurde
die Aufrechterhaltung des evangelischen Glaubens ausdrücklich den eroberten
Provinzen für alle Zeiten zugestanden, freilich mit der Erweiterung, daß auch
der griechischen Kirche freie Religionsübung im Lande verstattet sein solle. So
bescheiden hielt die Orthodoxie ihren Einzug. Erst seit 1630 etwa begann sie
eine rührige Werbetätigkeit in dem bisher fraglos protestantischen Territorium
zu entfalten. Und zwar trat sie als unverhohlene Helferin der Russifizierung
auf. Denn sie begann jenes raffinierte Spiel kulturpolitischer Winkelzüge, durch
die die Regierung die religiös-kulturelle Einheit des Landes zu untergraben
suchte, um daraus für seine Verrussung zu vorteilen. Die famosen Praktiken
ihrer Sendboten können hier nur angedeutet werden. Durch trügerische Land¬
ab gehste in Mißwachsjahren wurde die keltisch-chemische Unterschicht zum
Konfesfionswechse! verlockt. Der Rückweg wurde den Enttäuschten und deren
Nachkommen durch ein Gesetz verbaut, das den Austritt aus der Staatskirche
unterbindet. Über 200 Kriminalprozesse gegen lutherische Geistliche, welche
Kinder der etwa 35 000 "Bekehrten" evangelisch tauften, unendliche Gewissens¬
nöte waren die Folgen dieser verwerflichen Maßregeln, zumal unter dem
Deutschenhasser Alexander dem Dritten alte Konfesstonslisteu wieder ausgegraben
und in Kraft gesetzt wurden, nachdem der liberalere Alexander der Zweite
schon einmal die Zwangsgesetze aufgehoben hatte. Erst das Oktobermanifest von
1905 brachte einige freiheitliche Erleichterungen in das herrschende System
despotischer religiöser Intoleranz.

So wuchsen durch alle baltische Geschichte aneinander Druck und Widerdruck.
Es möchte eine reizvolle Aufgabe sein, aus der trotzigen Lebensform des
katholischen Livland den heimlichen Protestantismus herauszuschälen. In ihm
kam die Seele des Landes zu sich selbst. Kolonisatorenleben steht unter dem
Zeichen des Kampfes, der unerschrockenen persönlichen Behauptung gegenüber
übermächtig andringenden Gewalten. Wo empfänden wir diesen Geist kräftiger,
als in den Trutzliedern der deutschen und niederländischen Protestanten, in der
Sprachseele, aus der Luthers Bibelwort geboren ist, in der strengen Tonfügung
des norddeutschen Kantors Johann Sebastian Bach? In diesem Protestanten¬
geist auch findet das Haus und sein harmonisch gegliedertes Dasein erstmals
das Ja der Religion. Das Baltikum kennt kaum dörfliche Niederlassungen.


Die Arisis des deutschbaltischen Menschen

christianisiert. So könnte es scheinen, als wäre der einstmals durch Widerstände
rege gehaltene religiöse Eifer jetzt zur Ermattung verurteilt. Die Geschichte
sorgte für neue Wetzsteine. Der entschlossene Protestantismus vereinigte jetzt
das ganze Land, seine Einheitlichkeit überwölbte auch den nationalen Gegensatz.
Um so mehr konnte er zum festen Anker der baltischen Sonderart in den
folgenden Streitigkeiten werden, in denen das katholische Polen, das protestantische
Schweden, das griechische Rußland sich um den Erwerb des Landes bemühten.
An erster Stelle steht im Privilegium Sigismundi Augusti (1561), das Polen
dem Land erteilte, die Gewähr der Unantastbarkeit der Augsburgischen
Konfession. Und als Livland sich Peter dem Großen unterwarf (1710), wurde
die Aufrechterhaltung des evangelischen Glaubens ausdrücklich den eroberten
Provinzen für alle Zeiten zugestanden, freilich mit der Erweiterung, daß auch
der griechischen Kirche freie Religionsübung im Lande verstattet sein solle. So
bescheiden hielt die Orthodoxie ihren Einzug. Erst seit 1630 etwa begann sie
eine rührige Werbetätigkeit in dem bisher fraglos protestantischen Territorium
zu entfalten. Und zwar trat sie als unverhohlene Helferin der Russifizierung
auf. Denn sie begann jenes raffinierte Spiel kulturpolitischer Winkelzüge, durch
die die Regierung die religiös-kulturelle Einheit des Landes zu untergraben
suchte, um daraus für seine Verrussung zu vorteilen. Die famosen Praktiken
ihrer Sendboten können hier nur angedeutet werden. Durch trügerische Land¬
ab gehste in Mißwachsjahren wurde die keltisch-chemische Unterschicht zum
Konfesfionswechse! verlockt. Der Rückweg wurde den Enttäuschten und deren
Nachkommen durch ein Gesetz verbaut, das den Austritt aus der Staatskirche
unterbindet. Über 200 Kriminalprozesse gegen lutherische Geistliche, welche
Kinder der etwa 35 000 „Bekehrten" evangelisch tauften, unendliche Gewissens¬
nöte waren die Folgen dieser verwerflichen Maßregeln, zumal unter dem
Deutschenhasser Alexander dem Dritten alte Konfesstonslisteu wieder ausgegraben
und in Kraft gesetzt wurden, nachdem der liberalere Alexander der Zweite
schon einmal die Zwangsgesetze aufgehoben hatte. Erst das Oktobermanifest von
1905 brachte einige freiheitliche Erleichterungen in das herrschende System
despotischer religiöser Intoleranz.

So wuchsen durch alle baltische Geschichte aneinander Druck und Widerdruck.
Es möchte eine reizvolle Aufgabe sein, aus der trotzigen Lebensform des
katholischen Livland den heimlichen Protestantismus herauszuschälen. In ihm
kam die Seele des Landes zu sich selbst. Kolonisatorenleben steht unter dem
Zeichen des Kampfes, der unerschrockenen persönlichen Behauptung gegenüber
übermächtig andringenden Gewalten. Wo empfänden wir diesen Geist kräftiger,
als in den Trutzliedern der deutschen und niederländischen Protestanten, in der
Sprachseele, aus der Luthers Bibelwort geboren ist, in der strengen Tonfügung
des norddeutschen Kantors Johann Sebastian Bach? In diesem Protestanten¬
geist auch findet das Haus und sein harmonisch gegliedertes Dasein erstmals
das Ja der Religion. Das Baltikum kennt kaum dörfliche Niederlassungen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/350>, abgerufen am 02.05.2024.