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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Arists des deutschbaltischen Menschen

gekehrte Seite baltischer Forschung ist*). Dies führt unsere Betrachtung auf
das geistige Leben des Landes zurück. Es ist ganz erstaunlich, welche Fülle
lokalhistorischer Einzelarbeit in den zahlreichen gelehrten Gesellschaften deK
Baltikums in der außerakademischen Studiersmbe des Pastorats, des Lehrer-
uud Juristenstandes, aber auch des befitzlichen Adels geleistet worden ist. Auch
das Interesse für Familienforschung ist stark entwickelt. Es ist dies alles der
natürliche Ausfluß der nationalen Beharrlichkeit, die der vorgeschobene Wacht¬
posten deutscher Art forderte und stets wach erhielt. Es ist zugleich ein Zeichen,
wie wenig hier die Bildung freischwebender Selbstzweck virtuoser Gelehrsamkeit,
wie tief sie in das Gemeinschaftsleben eingesenkt war, keineswegs sich dabei
an platt-nutzhafte Zwecksetzungen prostituierend. Zugleich gab diese Bildungs¬
form, ohne unweibltcher Emanzipation Vorschub zu leisten, in: allgemeinen der
Frau einen ungewöhnlich großen Anteil an den Dingen des Geistes. Diese
durchgreifende Bildung war der ideale Kitt, der das ständisch auseinanderstrebende
Deutschtum im gemeinsamen Kulturwillen band, sie war Ausdruck einer scheuen
Liebe zum einheimischen Volkstum der Unterschicht, in deren fremde Art sich
besonders der Geistliche hineinzufinden hatte, sie war der Stolz des Landes
und seine zäh behauptete Hoffnung. Mir äußerte ein deutscher Philosoph, wir
Ballen hätten alle etwas vom Dilettanten. Es war nicht als Vorwurf gemeint
und es ist auch kein Vorwurf. Es ist die Anerkennung der Tatsache, daß die
baltische Bildung sich das erhalten hat, was dem modern-arbeitsteiligen
spezialisierten Wissen zu entschwinden droht: die Harmonie mit der Sphäre des
Vitalen, die Weite des Blickes und die Distanz vom einzelnen, die edle Muße-
haftigkeit und Unberuflichkeit des Geistigen und seine absolute Ferne von aller
kapitalistischen "Rechenhaftigkeit".

Welchen Zweig baltischen Kulturlebens man in seiner Entwicklung verfolgen
mag: immer zeigt die Kurve dieselbe Form. Mit hoffnungsvollen Aufstieg
setzt sie ein. Es folgt ein Schwanken, sie beginnt sich zu wellen, und sie senkt
sich in entsetzlichen Kriegszeiten bis zum Nordischen Krieg hin in trostlose Tiefen
hinab, um wie durch ein Wunder doch immer noch die Wendung nach oben
zu nehmen. Darauf nach ihrem tiefsten Sturz ein erst zaghaftes, bald jedoch
frohgemuteres Aufsteigen bis zum neuen Höhepunkt unter der Regierung
Alexanders des Zweiten. Dann aber ein jäher Bruch um die Mitte der
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts: der berüchtigte Rusfifizierungsukas
des panslawistischen Alexander des Dritten. Erst heute hat die Geschichte die
welthistorische Probe auf das Exempel der wachsenden Scheelsucht des Zarismus
gegenüber dem aufblühenden Deutschen Reich geliefert. Das baltische Land,
dies Faustpfand des deutschen Geistes im moskowitischen Machtbereich, hat
diese Wut schon über fünfundzwanzig Jahre lang auszubaden gehabt. Die



^ Daß das baltische Land in Karl Ernst von Baer, Ernst von Bergmann, von Bunge
und Ostwald auch in der Naturforschung Wesentliches geleistet hat, ist dabei nicht übersehen.
Die Arists des deutschbaltischen Menschen

gekehrte Seite baltischer Forschung ist*). Dies führt unsere Betrachtung auf
das geistige Leben des Landes zurück. Es ist ganz erstaunlich, welche Fülle
lokalhistorischer Einzelarbeit in den zahlreichen gelehrten Gesellschaften deK
Baltikums in der außerakademischen Studiersmbe des Pastorats, des Lehrer-
uud Juristenstandes, aber auch des befitzlichen Adels geleistet worden ist. Auch
das Interesse für Familienforschung ist stark entwickelt. Es ist dies alles der
natürliche Ausfluß der nationalen Beharrlichkeit, die der vorgeschobene Wacht¬
posten deutscher Art forderte und stets wach erhielt. Es ist zugleich ein Zeichen,
wie wenig hier die Bildung freischwebender Selbstzweck virtuoser Gelehrsamkeit,
wie tief sie in das Gemeinschaftsleben eingesenkt war, keineswegs sich dabei
an platt-nutzhafte Zwecksetzungen prostituierend. Zugleich gab diese Bildungs¬
form, ohne unweibltcher Emanzipation Vorschub zu leisten, in: allgemeinen der
Frau einen ungewöhnlich großen Anteil an den Dingen des Geistes. Diese
durchgreifende Bildung war der ideale Kitt, der das ständisch auseinanderstrebende
Deutschtum im gemeinsamen Kulturwillen band, sie war Ausdruck einer scheuen
Liebe zum einheimischen Volkstum der Unterschicht, in deren fremde Art sich
besonders der Geistliche hineinzufinden hatte, sie war der Stolz des Landes
und seine zäh behauptete Hoffnung. Mir äußerte ein deutscher Philosoph, wir
Ballen hätten alle etwas vom Dilettanten. Es war nicht als Vorwurf gemeint
und es ist auch kein Vorwurf. Es ist die Anerkennung der Tatsache, daß die
baltische Bildung sich das erhalten hat, was dem modern-arbeitsteiligen
spezialisierten Wissen zu entschwinden droht: die Harmonie mit der Sphäre des
Vitalen, die Weite des Blickes und die Distanz vom einzelnen, die edle Muße-
haftigkeit und Unberuflichkeit des Geistigen und seine absolute Ferne von aller
kapitalistischen „Rechenhaftigkeit".

Welchen Zweig baltischen Kulturlebens man in seiner Entwicklung verfolgen
mag: immer zeigt die Kurve dieselbe Form. Mit hoffnungsvollen Aufstieg
setzt sie ein. Es folgt ein Schwanken, sie beginnt sich zu wellen, und sie senkt
sich in entsetzlichen Kriegszeiten bis zum Nordischen Krieg hin in trostlose Tiefen
hinab, um wie durch ein Wunder doch immer noch die Wendung nach oben
zu nehmen. Darauf nach ihrem tiefsten Sturz ein erst zaghaftes, bald jedoch
frohgemuteres Aufsteigen bis zum neuen Höhepunkt unter der Regierung
Alexanders des Zweiten. Dann aber ein jäher Bruch um die Mitte der
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts: der berüchtigte Rusfifizierungsukas
des panslawistischen Alexander des Dritten. Erst heute hat die Geschichte die
welthistorische Probe auf das Exempel der wachsenden Scheelsucht des Zarismus
gegenüber dem aufblühenden Deutschen Reich geliefert. Das baltische Land,
dies Faustpfand des deutschen Geistes im moskowitischen Machtbereich, hat
diese Wut schon über fünfundzwanzig Jahre lang auszubaden gehabt. Die



^ Daß das baltische Land in Karl Ernst von Baer, Ernst von Bergmann, von Bunge
und Ostwald auch in der Naturforschung Wesentliches geleistet hat, ist dabei nicht übersehen.
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[0354] Die Arists des deutschbaltischen Menschen gekehrte Seite baltischer Forschung ist*). Dies führt unsere Betrachtung auf das geistige Leben des Landes zurück. Es ist ganz erstaunlich, welche Fülle lokalhistorischer Einzelarbeit in den zahlreichen gelehrten Gesellschaften deK Baltikums in der außerakademischen Studiersmbe des Pastorats, des Lehrer- uud Juristenstandes, aber auch des befitzlichen Adels geleistet worden ist. Auch das Interesse für Familienforschung ist stark entwickelt. Es ist dies alles der natürliche Ausfluß der nationalen Beharrlichkeit, die der vorgeschobene Wacht¬ posten deutscher Art forderte und stets wach erhielt. Es ist zugleich ein Zeichen, wie wenig hier die Bildung freischwebender Selbstzweck virtuoser Gelehrsamkeit, wie tief sie in das Gemeinschaftsleben eingesenkt war, keineswegs sich dabei an platt-nutzhafte Zwecksetzungen prostituierend. Zugleich gab diese Bildungs¬ form, ohne unweibltcher Emanzipation Vorschub zu leisten, in: allgemeinen der Frau einen ungewöhnlich großen Anteil an den Dingen des Geistes. Diese durchgreifende Bildung war der ideale Kitt, der das ständisch auseinanderstrebende Deutschtum im gemeinsamen Kulturwillen band, sie war Ausdruck einer scheuen Liebe zum einheimischen Volkstum der Unterschicht, in deren fremde Art sich besonders der Geistliche hineinzufinden hatte, sie war der Stolz des Landes und seine zäh behauptete Hoffnung. Mir äußerte ein deutscher Philosoph, wir Ballen hätten alle etwas vom Dilettanten. Es war nicht als Vorwurf gemeint und es ist auch kein Vorwurf. Es ist die Anerkennung der Tatsache, daß die baltische Bildung sich das erhalten hat, was dem modern-arbeitsteiligen spezialisierten Wissen zu entschwinden droht: die Harmonie mit der Sphäre des Vitalen, die Weite des Blickes und die Distanz vom einzelnen, die edle Muße- haftigkeit und Unberuflichkeit des Geistigen und seine absolute Ferne von aller kapitalistischen „Rechenhaftigkeit". Welchen Zweig baltischen Kulturlebens man in seiner Entwicklung verfolgen mag: immer zeigt die Kurve dieselbe Form. Mit hoffnungsvollen Aufstieg setzt sie ein. Es folgt ein Schwanken, sie beginnt sich zu wellen, und sie senkt sich in entsetzlichen Kriegszeiten bis zum Nordischen Krieg hin in trostlose Tiefen hinab, um wie durch ein Wunder doch immer noch die Wendung nach oben zu nehmen. Darauf nach ihrem tiefsten Sturz ein erst zaghaftes, bald jedoch frohgemuteres Aufsteigen bis zum neuen Höhepunkt unter der Regierung Alexanders des Zweiten. Dann aber ein jäher Bruch um die Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts: der berüchtigte Rusfifizierungsukas des panslawistischen Alexander des Dritten. Erst heute hat die Geschichte die welthistorische Probe auf das Exempel der wachsenden Scheelsucht des Zarismus gegenüber dem aufblühenden Deutschen Reich geliefert. Das baltische Land, dies Faustpfand des deutschen Geistes im moskowitischen Machtbereich, hat diese Wut schon über fünfundzwanzig Jahre lang auszubaden gehabt. Die ^ Daß das baltische Land in Karl Ernst von Baer, Ernst von Bergmann, von Bunge und Ostwald auch in der Naturforschung Wesentliches geleistet hat, ist dabei nicht übersehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/354>, abgerufen am 04.05.2024.