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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Italienische oder slawische Irredenta?

Ansprüche ist die Prophezeiung schon erfüllt, die Robert Michels vor wenigen
Jahren gab: "Das letzte Ziel des Italien und Rußland einigenden Kampfes
birgt den Keim unentrinnbaren Gegensatzes zwischen beiden Kämpfenden in sich.
Die Verdrängung Österreichs von der Balkanhalbinsel würde den russischen und
italienischen Einfluß mit voller Gewalt aufeinanderprallen lassen."

Jstrien müßte also erst von Osterreich erobert, dann gegen Serbien,
Rußland verteidigt werden. Auch in und um Trieft würde Italien, wenn
es sich dort festsetzte, eine starke slawische Irredenta entstehen sehen. Es
schüfe sich in diesem militärisch schwer zu haltenden Gebiet eine Angriffsfläche,
für deren Wahrung es einen großen Teil seiner Kraft festlegen und damit
anderen Zwecken entziehen müßte. Die Küste würde dem doppelten Druck der
Slawen im Osten und der Deutschen im Norden unterliegen. Denn auch für
die deutsche Volkswirtschaft ist der zollfreie Zugang zum Mittelländischen Meer
eine Notwendigkeit; Bismarck schien das allgemein deutsche Interesse hier so
stark im Spiel, daß er sagte, der italienische Jrredentismus werde in Trieft
preußische Bajonette finden.

Die Herrschaft in jener Dreirassenecke Europas muß dem Nationalitäten¬
staat Osterreich leichter gelingen als einem reinen Nationalstaat. Gerade die
politischen Probleme, die sich an das von den italienischen Gefühlspolitikern
heiß begehrte Küstenland knüpfen, beweisen schlagend die Richtigkeit der Worte
Crispis, daß man Osterreich, wenn es nicht da wäre, schaffen müsse, daß sein
Bestehen für das Gleichgewicht Europas notwendig sei. Wie aus diesen Worten
hervorgeht, sehen die Denkenden in Italien, welche Bedeutung die Erhaltung
Österreichs auch für ihr eigenes Vaterland hat. Der Habsburgische Staat hat
sich gebildet als ein Deichverband der christlichen Völker gegen die Türken.
Indem er es sich heute zur Aufgabe setzt, den Völker- und Raffensplittern des
Donaüoeckens unter einer einheitlichen Staatsgewalt das friedliche Zusammen¬
leben zu ermöglichen, wird er für Germanen und Romanen ein Bollwerk
gegen die flämische Flut.




Italienische oder slawische Irredenta?

Ansprüche ist die Prophezeiung schon erfüllt, die Robert Michels vor wenigen
Jahren gab: „Das letzte Ziel des Italien und Rußland einigenden Kampfes
birgt den Keim unentrinnbaren Gegensatzes zwischen beiden Kämpfenden in sich.
Die Verdrängung Österreichs von der Balkanhalbinsel würde den russischen und
italienischen Einfluß mit voller Gewalt aufeinanderprallen lassen."

Jstrien müßte also erst von Osterreich erobert, dann gegen Serbien,
Rußland verteidigt werden. Auch in und um Trieft würde Italien, wenn
es sich dort festsetzte, eine starke slawische Irredenta entstehen sehen. Es
schüfe sich in diesem militärisch schwer zu haltenden Gebiet eine Angriffsfläche,
für deren Wahrung es einen großen Teil seiner Kraft festlegen und damit
anderen Zwecken entziehen müßte. Die Küste würde dem doppelten Druck der
Slawen im Osten und der Deutschen im Norden unterliegen. Denn auch für
die deutsche Volkswirtschaft ist der zollfreie Zugang zum Mittelländischen Meer
eine Notwendigkeit; Bismarck schien das allgemein deutsche Interesse hier so
stark im Spiel, daß er sagte, der italienische Jrredentismus werde in Trieft
preußische Bajonette finden.

Die Herrschaft in jener Dreirassenecke Europas muß dem Nationalitäten¬
staat Osterreich leichter gelingen als einem reinen Nationalstaat. Gerade die
politischen Probleme, die sich an das von den italienischen Gefühlspolitikern
heiß begehrte Küstenland knüpfen, beweisen schlagend die Richtigkeit der Worte
Crispis, daß man Osterreich, wenn es nicht da wäre, schaffen müsse, daß sein
Bestehen für das Gleichgewicht Europas notwendig sei. Wie aus diesen Worten
hervorgeht, sehen die Denkenden in Italien, welche Bedeutung die Erhaltung
Österreichs auch für ihr eigenes Vaterland hat. Der Habsburgische Staat hat
sich gebildet als ein Deichverband der christlichen Völker gegen die Türken.
Indem er es sich heute zur Aufgabe setzt, den Völker- und Raffensplittern des
Donaüoeckens unter einer einheitlichen Staatsgewalt das friedliche Zusammen¬
leben zu ermöglichen, wird er für Germanen und Romanen ein Bollwerk
gegen die flämische Flut.




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[0371] Italienische oder slawische Irredenta? Ansprüche ist die Prophezeiung schon erfüllt, die Robert Michels vor wenigen Jahren gab: „Das letzte Ziel des Italien und Rußland einigenden Kampfes birgt den Keim unentrinnbaren Gegensatzes zwischen beiden Kämpfenden in sich. Die Verdrängung Österreichs von der Balkanhalbinsel würde den russischen und italienischen Einfluß mit voller Gewalt aufeinanderprallen lassen." Jstrien müßte also erst von Osterreich erobert, dann gegen Serbien, Rußland verteidigt werden. Auch in und um Trieft würde Italien, wenn es sich dort festsetzte, eine starke slawische Irredenta entstehen sehen. Es schüfe sich in diesem militärisch schwer zu haltenden Gebiet eine Angriffsfläche, für deren Wahrung es einen großen Teil seiner Kraft festlegen und damit anderen Zwecken entziehen müßte. Die Küste würde dem doppelten Druck der Slawen im Osten und der Deutschen im Norden unterliegen. Denn auch für die deutsche Volkswirtschaft ist der zollfreie Zugang zum Mittelländischen Meer eine Notwendigkeit; Bismarck schien das allgemein deutsche Interesse hier so stark im Spiel, daß er sagte, der italienische Jrredentismus werde in Trieft preußische Bajonette finden. Die Herrschaft in jener Dreirassenecke Europas muß dem Nationalitäten¬ staat Osterreich leichter gelingen als einem reinen Nationalstaat. Gerade die politischen Probleme, die sich an das von den italienischen Gefühlspolitikern heiß begehrte Küstenland knüpfen, beweisen schlagend die Richtigkeit der Worte Crispis, daß man Osterreich, wenn es nicht da wäre, schaffen müsse, daß sein Bestehen für das Gleichgewicht Europas notwendig sei. Wie aus diesen Worten hervorgeht, sehen die Denkenden in Italien, welche Bedeutung die Erhaltung Österreichs auch für ihr eigenes Vaterland hat. Der Habsburgische Staat hat sich gebildet als ein Deichverband der christlichen Völker gegen die Türken. Indem er es sich heute zur Aufgabe setzt, den Völker- und Raffensplittern des Donaüoeckens unter einer einheitlichen Staatsgewalt das friedliche Zusammen¬ leben zu ermöglichen, wird er für Germanen und Romanen ein Bollwerk gegen die flämische Flut.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/371>, abgerufen am 27.04.2024.