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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Belgiens Verfassung und Staatsleben

Staates keine einzige errungen, obgleich sie nur Gent verlangten und die freien
Universitäten Löwen (katholisch) und Brüssel (liberal) auch im vlämischen
Sprachgebiete, nur Lüttich im französischen lag.

Die Bestrebungen der Vlamen beschränkten sich nur aus das vlämische
Sprachgebiet und auf Gleichberechtigung beider Sprachen bei den obersten
Organen des Staates. Die Alleinherrschaft des Französischen im wallonischen
Gebiete tastete kein Mensch an. Trotzdem erregte jede neue Forderung
der Vlamen, die doch nur die französische Sprache aus dem niederdeutschen
Sprachgebiete verdrängen sollte, bei den Wallonen einen Sturm der Entrüstung.
Offen stellten sie die Gegenforderung der administrativen Trennung des Staates
in zwei Teile auf, wenn die Wünsche der Vlamen erfüllt würden, also dieselbe,
mit der man den Abfall Belgiens von den Niederlanden begonnen hatte. Das
Leben in einem halbvlämischen Staate, in dem das Französische nicht allein
herrschte, erschien den Wallonen einfach unerträglich. Hinter der administrativen
Trennung stand natürlich noch mehr, man schielte nicht, man schaute über die
französischen Grenzen.

Die Forderungen der Vlamen, die sich als Teil eines niederdeutschen Zehn¬
millionenvolkes fühlten und die belgische Revolution von 1830 als eine politische
Torheit erkannten, waren nicht mehr zurückzudrängen. Für die Wallonen
war die restlose Erfüllung unannehmbar. Damit stand die englisch-französische
Kunstschöpfung von 1830 vor dem nationalen Zusammenbruch.

"Gewogen, gewogen und zu leicht befundenI" Das war das Ver¬
dammungsurteil für Belgiens nächste Zukunft. Von sozialer Revolution und
nationalem Auseinanderfallen gleichzeitig bedroht, wäre der belgische Staat
über kurz oder lang an innerer Zersetzung untergegangen. Die deutsche Er¬
oberung verschaffte ihm wenigstens das, worauf er allein noch hoffen konnte:
eine anständige Todesart unter den Mächten der Erde, obgleich er nie zu
ihnen gehört hatte.




Belgiens Verfassung und Staatsleben

Staates keine einzige errungen, obgleich sie nur Gent verlangten und die freien
Universitäten Löwen (katholisch) und Brüssel (liberal) auch im vlämischen
Sprachgebiete, nur Lüttich im französischen lag.

Die Bestrebungen der Vlamen beschränkten sich nur aus das vlämische
Sprachgebiet und auf Gleichberechtigung beider Sprachen bei den obersten
Organen des Staates. Die Alleinherrschaft des Französischen im wallonischen
Gebiete tastete kein Mensch an. Trotzdem erregte jede neue Forderung
der Vlamen, die doch nur die französische Sprache aus dem niederdeutschen
Sprachgebiete verdrängen sollte, bei den Wallonen einen Sturm der Entrüstung.
Offen stellten sie die Gegenforderung der administrativen Trennung des Staates
in zwei Teile auf, wenn die Wünsche der Vlamen erfüllt würden, also dieselbe,
mit der man den Abfall Belgiens von den Niederlanden begonnen hatte. Das
Leben in einem halbvlämischen Staate, in dem das Französische nicht allein
herrschte, erschien den Wallonen einfach unerträglich. Hinter der administrativen
Trennung stand natürlich noch mehr, man schielte nicht, man schaute über die
französischen Grenzen.

Die Forderungen der Vlamen, die sich als Teil eines niederdeutschen Zehn¬
millionenvolkes fühlten und die belgische Revolution von 1830 als eine politische
Torheit erkannten, waren nicht mehr zurückzudrängen. Für die Wallonen
war die restlose Erfüllung unannehmbar. Damit stand die englisch-französische
Kunstschöpfung von 1830 vor dem nationalen Zusammenbruch.

„Gewogen, gewogen und zu leicht befundenI" Das war das Ver¬
dammungsurteil für Belgiens nächste Zukunft. Von sozialer Revolution und
nationalem Auseinanderfallen gleichzeitig bedroht, wäre der belgische Staat
über kurz oder lang an innerer Zersetzung untergegangen. Die deutsche Er¬
oberung verschaffte ihm wenigstens das, worauf er allein noch hoffen konnte:
eine anständige Todesart unter den Mächten der Erde, obgleich er nie zu
ihnen gehört hatte.




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[0417] Belgiens Verfassung und Staatsleben Staates keine einzige errungen, obgleich sie nur Gent verlangten und die freien Universitäten Löwen (katholisch) und Brüssel (liberal) auch im vlämischen Sprachgebiete, nur Lüttich im französischen lag. Die Bestrebungen der Vlamen beschränkten sich nur aus das vlämische Sprachgebiet und auf Gleichberechtigung beider Sprachen bei den obersten Organen des Staates. Die Alleinherrschaft des Französischen im wallonischen Gebiete tastete kein Mensch an. Trotzdem erregte jede neue Forderung der Vlamen, die doch nur die französische Sprache aus dem niederdeutschen Sprachgebiete verdrängen sollte, bei den Wallonen einen Sturm der Entrüstung. Offen stellten sie die Gegenforderung der administrativen Trennung des Staates in zwei Teile auf, wenn die Wünsche der Vlamen erfüllt würden, also dieselbe, mit der man den Abfall Belgiens von den Niederlanden begonnen hatte. Das Leben in einem halbvlämischen Staate, in dem das Französische nicht allein herrschte, erschien den Wallonen einfach unerträglich. Hinter der administrativen Trennung stand natürlich noch mehr, man schielte nicht, man schaute über die französischen Grenzen. Die Forderungen der Vlamen, die sich als Teil eines niederdeutschen Zehn¬ millionenvolkes fühlten und die belgische Revolution von 1830 als eine politische Torheit erkannten, waren nicht mehr zurückzudrängen. Für die Wallonen war die restlose Erfüllung unannehmbar. Damit stand die englisch-französische Kunstschöpfung von 1830 vor dem nationalen Zusammenbruch. „Gewogen, gewogen und zu leicht befundenI" Das war das Ver¬ dammungsurteil für Belgiens nächste Zukunft. Von sozialer Revolution und nationalem Auseinanderfallen gleichzeitig bedroht, wäre der belgische Staat über kurz oder lang an innerer Zersetzung untergegangen. Die deutsche Er¬ oberung verschaffte ihm wenigstens das, worauf er allein noch hoffen konnte: eine anständige Todesart unter den Mächten der Erde, obgleich er nie zu ihnen gehört hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/417>, abgerufen am 06.05.2024.