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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der Krieg und der Neubau der höheren Schule

Vergangenheit ist auch unter anderem Aufgabe des Sprachunterrichts, ins¬
besondere wenn er, der heutigen Tendenz folgend, nicht die Beherrschung der
Sprache allein, sondern die Vertrautheit mit der Eigenart und dem Werden
der französischen, der englischen Kultur als sein höchstes Ziel ansieht. Dasselbe
Ziel müßte natürlich dem deutschen Unterricht gesteckt werden.

Hier muß auf einen Mißstand hingewiesen werden, der nach dem Kriege
wohl mit Bestimmtheit sein Ende finden wird. Was nämlich hier von den
neueren Sprachen gesagt ist, und was für die alten Sprachen von jeher als
selbstverständlich gegolten hat, daß die Sprachstunden auch die wissenschaftliche,
philosophische, künstlerische Kultur jener Fremdvölker dem Schüler erschließen
sollen -- daß also neben den Dichtern klassische Philosophen, Historiker,
Publizisten zu den Schülern reden dürften, das galt und gilt bis heute tat¬
sächlich nicht für den Deutschunterricht. Natürlich hat es Deutschlehrer gegeben,
die ihre Aufgabe so weit faßten, aber die Gefahr, an der unzulänglichen Stunden¬
zahl ihres Faches zu scheitern, hat dahin geführt, daß zumeist in der Einseitigkeit
der Betrachtung dichterischer Werke verharrt wird, gerade als ob bei uns
Deutschen keine volkscharakteristische Literatur unpoetischer Art existierte. So¬
lange dieser Zustand dauerte, konnte auch von den wohlgemeinten Versuchen
einiger Verlage, geeignetes Material zur Beleuchtung aller Seiten unseres
geistigen Lebens dem Unterricht zuzuführen (zum Beispiel durch das wertvolle Lese¬
buch für die Oberklassen von Schönfelder, bei Diesterweg in Frankfurt; zahlreiche
kleine Handausgaben von Velhagen und Klasing und andere) kein ausgiebiger
Gebrauch gemacht wurden; auch dem Aufsatzunterricht entgingen hierdurch wert¬
volle stilistische Vorbilder.

Die Umgestaltung des Deutschunterrichts, wie sie hier angestrebt wird,
würde zu einem neuen Ziele führen, zur Gewinnung eines möglichst allseitigen
Bildes unserer kulturellen Umwelt auf der Grundlage des Verständnisses
für ihr Werden. Sollte dieser Zielsetzung ein Teil der bisher üblichen literarisch-
ästhetischen Erörterungen über Dichtwerke zum Opfer fallen müssen, so würde
ich das im Interesse aller Beteiligten, auch des Dichters, begrüßen. Diesem
erweiterten Deutschunterricht würde sich ein Geschichtsunterricht anschließen, dessen
Ergebnis das Verständnis unserer politischen Umwelt wäre.

In diesen beiden Fächern läge der Schwerpunkt; auf ihre Ziele müßte
die gesamte sprachlich-geschichtliche Fächergruppe einschließlich des wichtigen
wirtschaftlich-politischen Zweiges der Geographie abgestimmt werden. Der
naturwissenschaftliche Unterricht aber würde diese Einheit in derselben Weise
ergänzen, wie in der Gesamtwissenschaft Geistes- und Naturwissenschaften die
beiden Hälften bilden, die auf der Stufe der Philosophie zur Synthese streben.
Ich stehe auch nicht an zu fordern, daß, wo immer die vorhandenen Lehrkräfte
derartiges ermöglichen, die Schule die Verpflichtung übernimmt, den Schülern
Einblick in die wichtigsten Probleme zu gewahren, die Natur und Menschenleben
durchwalten und im Einzelsubjekt nach Lösung drängen.


Der Krieg und der Neubau der höheren Schule

Vergangenheit ist auch unter anderem Aufgabe des Sprachunterrichts, ins¬
besondere wenn er, der heutigen Tendenz folgend, nicht die Beherrschung der
Sprache allein, sondern die Vertrautheit mit der Eigenart und dem Werden
der französischen, der englischen Kultur als sein höchstes Ziel ansieht. Dasselbe
Ziel müßte natürlich dem deutschen Unterricht gesteckt werden.

Hier muß auf einen Mißstand hingewiesen werden, der nach dem Kriege
wohl mit Bestimmtheit sein Ende finden wird. Was nämlich hier von den
neueren Sprachen gesagt ist, und was für die alten Sprachen von jeher als
selbstverständlich gegolten hat, daß die Sprachstunden auch die wissenschaftliche,
philosophische, künstlerische Kultur jener Fremdvölker dem Schüler erschließen
sollen — daß also neben den Dichtern klassische Philosophen, Historiker,
Publizisten zu den Schülern reden dürften, das galt und gilt bis heute tat¬
sächlich nicht für den Deutschunterricht. Natürlich hat es Deutschlehrer gegeben,
die ihre Aufgabe so weit faßten, aber die Gefahr, an der unzulänglichen Stunden¬
zahl ihres Faches zu scheitern, hat dahin geführt, daß zumeist in der Einseitigkeit
der Betrachtung dichterischer Werke verharrt wird, gerade als ob bei uns
Deutschen keine volkscharakteristische Literatur unpoetischer Art existierte. So¬
lange dieser Zustand dauerte, konnte auch von den wohlgemeinten Versuchen
einiger Verlage, geeignetes Material zur Beleuchtung aller Seiten unseres
geistigen Lebens dem Unterricht zuzuführen (zum Beispiel durch das wertvolle Lese¬
buch für die Oberklassen von Schönfelder, bei Diesterweg in Frankfurt; zahlreiche
kleine Handausgaben von Velhagen und Klasing und andere) kein ausgiebiger
Gebrauch gemacht wurden; auch dem Aufsatzunterricht entgingen hierdurch wert¬
volle stilistische Vorbilder.

Die Umgestaltung des Deutschunterrichts, wie sie hier angestrebt wird,
würde zu einem neuen Ziele führen, zur Gewinnung eines möglichst allseitigen
Bildes unserer kulturellen Umwelt auf der Grundlage des Verständnisses
für ihr Werden. Sollte dieser Zielsetzung ein Teil der bisher üblichen literarisch-
ästhetischen Erörterungen über Dichtwerke zum Opfer fallen müssen, so würde
ich das im Interesse aller Beteiligten, auch des Dichters, begrüßen. Diesem
erweiterten Deutschunterricht würde sich ein Geschichtsunterricht anschließen, dessen
Ergebnis das Verständnis unserer politischen Umwelt wäre.

In diesen beiden Fächern läge der Schwerpunkt; auf ihre Ziele müßte
die gesamte sprachlich-geschichtliche Fächergruppe einschließlich des wichtigen
wirtschaftlich-politischen Zweiges der Geographie abgestimmt werden. Der
naturwissenschaftliche Unterricht aber würde diese Einheit in derselben Weise
ergänzen, wie in der Gesamtwissenschaft Geistes- und Naturwissenschaften die
beiden Hälften bilden, die auf der Stufe der Philosophie zur Synthese streben.
Ich stehe auch nicht an zu fordern, daß, wo immer die vorhandenen Lehrkräfte
derartiges ermöglichen, die Schule die Verpflichtung übernimmt, den Schülern
Einblick in die wichtigsten Probleme zu gewahren, die Natur und Menschenleben
durchwalten und im Einzelsubjekt nach Lösung drängen.


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[0154] Der Krieg und der Neubau der höheren Schule Vergangenheit ist auch unter anderem Aufgabe des Sprachunterrichts, ins¬ besondere wenn er, der heutigen Tendenz folgend, nicht die Beherrschung der Sprache allein, sondern die Vertrautheit mit der Eigenart und dem Werden der französischen, der englischen Kultur als sein höchstes Ziel ansieht. Dasselbe Ziel müßte natürlich dem deutschen Unterricht gesteckt werden. Hier muß auf einen Mißstand hingewiesen werden, der nach dem Kriege wohl mit Bestimmtheit sein Ende finden wird. Was nämlich hier von den neueren Sprachen gesagt ist, und was für die alten Sprachen von jeher als selbstverständlich gegolten hat, daß die Sprachstunden auch die wissenschaftliche, philosophische, künstlerische Kultur jener Fremdvölker dem Schüler erschließen sollen — daß also neben den Dichtern klassische Philosophen, Historiker, Publizisten zu den Schülern reden dürften, das galt und gilt bis heute tat¬ sächlich nicht für den Deutschunterricht. Natürlich hat es Deutschlehrer gegeben, die ihre Aufgabe so weit faßten, aber die Gefahr, an der unzulänglichen Stunden¬ zahl ihres Faches zu scheitern, hat dahin geführt, daß zumeist in der Einseitigkeit der Betrachtung dichterischer Werke verharrt wird, gerade als ob bei uns Deutschen keine volkscharakteristische Literatur unpoetischer Art existierte. So¬ lange dieser Zustand dauerte, konnte auch von den wohlgemeinten Versuchen einiger Verlage, geeignetes Material zur Beleuchtung aller Seiten unseres geistigen Lebens dem Unterricht zuzuführen (zum Beispiel durch das wertvolle Lese¬ buch für die Oberklassen von Schönfelder, bei Diesterweg in Frankfurt; zahlreiche kleine Handausgaben von Velhagen und Klasing und andere) kein ausgiebiger Gebrauch gemacht wurden; auch dem Aufsatzunterricht entgingen hierdurch wert¬ volle stilistische Vorbilder. Die Umgestaltung des Deutschunterrichts, wie sie hier angestrebt wird, würde zu einem neuen Ziele führen, zur Gewinnung eines möglichst allseitigen Bildes unserer kulturellen Umwelt auf der Grundlage des Verständnisses für ihr Werden. Sollte dieser Zielsetzung ein Teil der bisher üblichen literarisch- ästhetischen Erörterungen über Dichtwerke zum Opfer fallen müssen, so würde ich das im Interesse aller Beteiligten, auch des Dichters, begrüßen. Diesem erweiterten Deutschunterricht würde sich ein Geschichtsunterricht anschließen, dessen Ergebnis das Verständnis unserer politischen Umwelt wäre. In diesen beiden Fächern läge der Schwerpunkt; auf ihre Ziele müßte die gesamte sprachlich-geschichtliche Fächergruppe einschließlich des wichtigen wirtschaftlich-politischen Zweiges der Geographie abgestimmt werden. Der naturwissenschaftliche Unterricht aber würde diese Einheit in derselben Weise ergänzen, wie in der Gesamtwissenschaft Geistes- und Naturwissenschaften die beiden Hälften bilden, die auf der Stufe der Philosophie zur Synthese streben. Ich stehe auch nicht an zu fordern, daß, wo immer die vorhandenen Lehrkräfte derartiges ermöglichen, die Schule die Verpflichtung übernimmt, den Schülern Einblick in die wichtigsten Probleme zu gewahren, die Natur und Menschenleben durchwalten und im Einzelsubjekt nach Lösung drängen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/154>, abgerufen am 09.06.2024.