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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Ostfront des Weltkrieges

erscheinen, daß England und Frankreich mit der Gefahr von Osten her gemein-
same Sache gemacht haben. Nicht länger leitet die Staatskunst des edlen
Gladstone die Weltmission Englands.

Hinter dem Weltkriege stehen viele Faktoren, doch betrachtet man das
blutige Drama mit der Geschichte im Gedächtnisse und seinem Freiheitsgefühle
im Sinne, dann ist Rußland mit seiner unersättlichen Expansionspolitik und
der brutalen Unterjochung seiner Grenzvölker die Macht, welche die schwere
Krisis in Europa hervorgerufen hat. Im tiefsten Inneren gesehen ist der
Weltkrieg ein Wahnsinn, aber wenn russische Staatskunst aus einem solchen
Unglücke Vorteil ziehen will, so kann der Geist der Geschichte nicht umhin, sich
der entstandenen Lage zu bedienen und ihr einen Sinn zu geben.

Was ist denn der Hauptsinn des Weltkrieges? Europa zu einer neuen
Kulturepoche zu sammeln, in welcher das Zusammenwirken der nationalfreien
Staaten stärker betont wird als der Gegensatz zwischen ihnen. Organisatorisch
ausgedrückt bedeutet dies, daß ein europäischer Staatenverband mit ethnologisch
bestimmter Grenze zwischen Europa und Asien zustandekomme. Dies bedeutet
seinerseits, daß Rußland dem europäischen Staatenverband die Länder, die es
von Europa erobert hat, also Finnland, die Ostseeprovinzen, Polen und die
Ukraina zurückgebe, um sich selbst in seiner moskowitischen Einheit und seiner
asiatischen Mission wiederzufinden. Petersburg muß wieder nach Moskau verlegt
werden. Das "europäische" Rußland ist ein Chaos, in das erst Ordnung
kommen kann, wenn die fremden Länder abgetrennt worden sind.

Jeder Kenner der russischen Politik muß mit Professor Rudolf Gucken,
dessen weitblickende Kulturphilosophie in den Ukrainischen Nachrichten zum
Ausdruck gekommen ist, vollständig einig sein, wenn er konstatiert, daß selbst
nach einem siegreichen Kriege der Zentralmächte "das russische Riesenreich mit
seiner halbasiatischen, alles nivellierenden Art und seinen ungeheueren Massen
eine große Gefahr für Zentraleuropa bleiben wird, wenn es nicht gelingt, die
von Rußland nach Westen zu unterworfenen Völker von ihm abzulösen, selb¬
ständig zu machen und in irgendwelchem Zusammenhang mit Zentraleuropa zu
bringen", und hinzufügt: "insofern entscheidet das Schicksal dieser Völker auch
über das Schicksal Europas".




Die Ostfront des Weltkrieges

erscheinen, daß England und Frankreich mit der Gefahr von Osten her gemein-
same Sache gemacht haben. Nicht länger leitet die Staatskunst des edlen
Gladstone die Weltmission Englands.

Hinter dem Weltkriege stehen viele Faktoren, doch betrachtet man das
blutige Drama mit der Geschichte im Gedächtnisse und seinem Freiheitsgefühle
im Sinne, dann ist Rußland mit seiner unersättlichen Expansionspolitik und
der brutalen Unterjochung seiner Grenzvölker die Macht, welche die schwere
Krisis in Europa hervorgerufen hat. Im tiefsten Inneren gesehen ist der
Weltkrieg ein Wahnsinn, aber wenn russische Staatskunst aus einem solchen
Unglücke Vorteil ziehen will, so kann der Geist der Geschichte nicht umhin, sich
der entstandenen Lage zu bedienen und ihr einen Sinn zu geben.

Was ist denn der Hauptsinn des Weltkrieges? Europa zu einer neuen
Kulturepoche zu sammeln, in welcher das Zusammenwirken der nationalfreien
Staaten stärker betont wird als der Gegensatz zwischen ihnen. Organisatorisch
ausgedrückt bedeutet dies, daß ein europäischer Staatenverband mit ethnologisch
bestimmter Grenze zwischen Europa und Asien zustandekomme. Dies bedeutet
seinerseits, daß Rußland dem europäischen Staatenverband die Länder, die es
von Europa erobert hat, also Finnland, die Ostseeprovinzen, Polen und die
Ukraina zurückgebe, um sich selbst in seiner moskowitischen Einheit und seiner
asiatischen Mission wiederzufinden. Petersburg muß wieder nach Moskau verlegt
werden. Das „europäische" Rußland ist ein Chaos, in das erst Ordnung
kommen kann, wenn die fremden Länder abgetrennt worden sind.

Jeder Kenner der russischen Politik muß mit Professor Rudolf Gucken,
dessen weitblickende Kulturphilosophie in den Ukrainischen Nachrichten zum
Ausdruck gekommen ist, vollständig einig sein, wenn er konstatiert, daß selbst
nach einem siegreichen Kriege der Zentralmächte „das russische Riesenreich mit
seiner halbasiatischen, alles nivellierenden Art und seinen ungeheueren Massen
eine große Gefahr für Zentraleuropa bleiben wird, wenn es nicht gelingt, die
von Rußland nach Westen zu unterworfenen Völker von ihm abzulösen, selb¬
ständig zu machen und in irgendwelchem Zusammenhang mit Zentraleuropa zu
bringen", und hinzufügt: „insofern entscheidet das Schicksal dieser Völker auch
über das Schicksal Europas".




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[0257] Die Ostfront des Weltkrieges erscheinen, daß England und Frankreich mit der Gefahr von Osten her gemein- same Sache gemacht haben. Nicht länger leitet die Staatskunst des edlen Gladstone die Weltmission Englands. Hinter dem Weltkriege stehen viele Faktoren, doch betrachtet man das blutige Drama mit der Geschichte im Gedächtnisse und seinem Freiheitsgefühle im Sinne, dann ist Rußland mit seiner unersättlichen Expansionspolitik und der brutalen Unterjochung seiner Grenzvölker die Macht, welche die schwere Krisis in Europa hervorgerufen hat. Im tiefsten Inneren gesehen ist der Weltkrieg ein Wahnsinn, aber wenn russische Staatskunst aus einem solchen Unglücke Vorteil ziehen will, so kann der Geist der Geschichte nicht umhin, sich der entstandenen Lage zu bedienen und ihr einen Sinn zu geben. Was ist denn der Hauptsinn des Weltkrieges? Europa zu einer neuen Kulturepoche zu sammeln, in welcher das Zusammenwirken der nationalfreien Staaten stärker betont wird als der Gegensatz zwischen ihnen. Organisatorisch ausgedrückt bedeutet dies, daß ein europäischer Staatenverband mit ethnologisch bestimmter Grenze zwischen Europa und Asien zustandekomme. Dies bedeutet seinerseits, daß Rußland dem europäischen Staatenverband die Länder, die es von Europa erobert hat, also Finnland, die Ostseeprovinzen, Polen und die Ukraina zurückgebe, um sich selbst in seiner moskowitischen Einheit und seiner asiatischen Mission wiederzufinden. Petersburg muß wieder nach Moskau verlegt werden. Das „europäische" Rußland ist ein Chaos, in das erst Ordnung kommen kann, wenn die fremden Länder abgetrennt worden sind. Jeder Kenner der russischen Politik muß mit Professor Rudolf Gucken, dessen weitblickende Kulturphilosophie in den Ukrainischen Nachrichten zum Ausdruck gekommen ist, vollständig einig sein, wenn er konstatiert, daß selbst nach einem siegreichen Kriege der Zentralmächte „das russische Riesenreich mit seiner halbasiatischen, alles nivellierenden Art und seinen ungeheueren Massen eine große Gefahr für Zentraleuropa bleiben wird, wenn es nicht gelingt, die von Rußland nach Westen zu unterworfenen Völker von ihm abzulösen, selb¬ ständig zu machen und in irgendwelchem Zusammenhang mit Zentraleuropa zu bringen", und hinzufügt: „insofern entscheidet das Schicksal dieser Völker auch über das Schicksal Europas".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/257>, abgerufen am 10.06.2024.