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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der Dichterheld von Przemysl

Die hier abgedruckten Übersetzungen sind auf Grund der wörtlichen Ver¬
deutschungen durch Professer Kohlbach-Budapest den ungarischen Originalen
von dem Verfasser dieses Aufsatzes nachgeformt. Der Anklang an den
Urtext ist mit größter Sorgfalt angestrebt worden, so weit es die Ver¬
schiedenheit des Sprachcharakters zwischen Deutsch und Ungarisch zuließ. Die
ungarische Sprache, der ural-altaischen Sprachengruppe zugehörig, hat in Ban
und Klang mit den indogermanischen Sprachen nichts gemein, sie zeigt nur
Verwandtschaft mit dem Finnischen und einige Beziehungen zum Türkischen
durch Aufnahme von Lehnwörtern aus dieser Sprache. Für die Metrik von
wesentlichem Einfluß ist, daß im Ungarischen alle Wörter stark auf der ersten
Silbe betont werden. So ist es für den ungarischen Dichter schwierig, andere
als trochäische Verse zu bauen, wenn auch Formkünstler fertig gebracht haben,
selbst antike Versmaße ungarisch nachzubilden. Der Fluß des Verses wird
außerdem noch behindert, weil der grammatikalische Bau das Zeitwort mit sehr
viel Anhängesilben belastet und so die wichtigsten Satzteile zu wahren Wortschlangen
ausdehnt. Hier hat der deutsche Übersetzer, sofern er nur die Kunstform
beherrscht, einen Vorsprung vor dem ungarischen Dichter. Anders steht es mit
dem Klang. Zu den grammatikalischen Eigenheiten der ungarischen Sprache
gehört ihre sogenannte Vokalharmonie. Durch sie werden die vielfältigen Ableitungs-
silben vokalisch mit dem Vokal der Stammsilbe in Gleichklang gebracht, eine
Lautverschiebung, die stark den Wohlklang der ungarischen Sprache fördert.
Dagegen ist die Reimmöglichkeit am Ende des Verses gerade dadurch eingeengt,
mehr noch durch die silberreichen Wortschlangen mit ihrer gegen den Schluß immer
schwächer werdenden Tonkraft. Der ungarische Dichter behilft sich deshalb häufig
mit Assonanzen (Halbreimen) und verzichtet selbst darauf manchmal. Was der
Vers aber im ungarischen Gedicht durch ungenaue Reime einbüßt, gewinnt er
innerhalb des Laufes an Klangschönheit durch die Vokalharmonie und ferner
durch das Vorherrschen langgedehnter Vokale, die. in weiche Konsonanten eingebettet,
der ungarischen Lyrik zu musikalischen Wohllaut verhelfen. In der deutschen
Übertragung muß das durch volltönige Reime ersetzt werden.

Und das Schicksal des Dichters? Während man in Ungarn seine Verse
liebgewinnt, ihn als einen zweiten Petöfi preist und nun auch über Ungarns
Grenzen hinaus diese Kriegslieder voll Kraft und Schönheit weitertönen laßt,
schmachtet der Dichterheld in russischer Gefangenschaft, in Alatyr. einer kleinen
Kreisstadt südöstlich von Nischni-Nowgorod, an der Sura, einem Nebenfluß
der Wolga. Möge er bald befreit werden und neue, Frieden und Freude
kündende Lieder anstimmen.




Der Dichterheld von Przemysl

Die hier abgedruckten Übersetzungen sind auf Grund der wörtlichen Ver¬
deutschungen durch Professer Kohlbach-Budapest den ungarischen Originalen
von dem Verfasser dieses Aufsatzes nachgeformt. Der Anklang an den
Urtext ist mit größter Sorgfalt angestrebt worden, so weit es die Ver¬
schiedenheit des Sprachcharakters zwischen Deutsch und Ungarisch zuließ. Die
ungarische Sprache, der ural-altaischen Sprachengruppe zugehörig, hat in Ban
und Klang mit den indogermanischen Sprachen nichts gemein, sie zeigt nur
Verwandtschaft mit dem Finnischen und einige Beziehungen zum Türkischen
durch Aufnahme von Lehnwörtern aus dieser Sprache. Für die Metrik von
wesentlichem Einfluß ist, daß im Ungarischen alle Wörter stark auf der ersten
Silbe betont werden. So ist es für den ungarischen Dichter schwierig, andere
als trochäische Verse zu bauen, wenn auch Formkünstler fertig gebracht haben,
selbst antike Versmaße ungarisch nachzubilden. Der Fluß des Verses wird
außerdem noch behindert, weil der grammatikalische Bau das Zeitwort mit sehr
viel Anhängesilben belastet und so die wichtigsten Satzteile zu wahren Wortschlangen
ausdehnt. Hier hat der deutsche Übersetzer, sofern er nur die Kunstform
beherrscht, einen Vorsprung vor dem ungarischen Dichter. Anders steht es mit
dem Klang. Zu den grammatikalischen Eigenheiten der ungarischen Sprache
gehört ihre sogenannte Vokalharmonie. Durch sie werden die vielfältigen Ableitungs-
silben vokalisch mit dem Vokal der Stammsilbe in Gleichklang gebracht, eine
Lautverschiebung, die stark den Wohlklang der ungarischen Sprache fördert.
Dagegen ist die Reimmöglichkeit am Ende des Verses gerade dadurch eingeengt,
mehr noch durch die silberreichen Wortschlangen mit ihrer gegen den Schluß immer
schwächer werdenden Tonkraft. Der ungarische Dichter behilft sich deshalb häufig
mit Assonanzen (Halbreimen) und verzichtet selbst darauf manchmal. Was der
Vers aber im ungarischen Gedicht durch ungenaue Reime einbüßt, gewinnt er
innerhalb des Laufes an Klangschönheit durch die Vokalharmonie und ferner
durch das Vorherrschen langgedehnter Vokale, die. in weiche Konsonanten eingebettet,
der ungarischen Lyrik zu musikalischen Wohllaut verhelfen. In der deutschen
Übertragung muß das durch volltönige Reime ersetzt werden.

Und das Schicksal des Dichters? Während man in Ungarn seine Verse
liebgewinnt, ihn als einen zweiten Petöfi preist und nun auch über Ungarns
Grenzen hinaus diese Kriegslieder voll Kraft und Schönheit weitertönen laßt,
schmachtet der Dichterheld in russischer Gefangenschaft, in Alatyr. einer kleinen
Kreisstadt südöstlich von Nischni-Nowgorod, an der Sura, einem Nebenfluß
der Wolga. Möge er bald befreit werden und neue, Frieden und Freude
kündende Lieder anstimmen.




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[0295] Der Dichterheld von Przemysl Die hier abgedruckten Übersetzungen sind auf Grund der wörtlichen Ver¬ deutschungen durch Professer Kohlbach-Budapest den ungarischen Originalen von dem Verfasser dieses Aufsatzes nachgeformt. Der Anklang an den Urtext ist mit größter Sorgfalt angestrebt worden, so weit es die Ver¬ schiedenheit des Sprachcharakters zwischen Deutsch und Ungarisch zuließ. Die ungarische Sprache, der ural-altaischen Sprachengruppe zugehörig, hat in Ban und Klang mit den indogermanischen Sprachen nichts gemein, sie zeigt nur Verwandtschaft mit dem Finnischen und einige Beziehungen zum Türkischen durch Aufnahme von Lehnwörtern aus dieser Sprache. Für die Metrik von wesentlichem Einfluß ist, daß im Ungarischen alle Wörter stark auf der ersten Silbe betont werden. So ist es für den ungarischen Dichter schwierig, andere als trochäische Verse zu bauen, wenn auch Formkünstler fertig gebracht haben, selbst antike Versmaße ungarisch nachzubilden. Der Fluß des Verses wird außerdem noch behindert, weil der grammatikalische Bau das Zeitwort mit sehr viel Anhängesilben belastet und so die wichtigsten Satzteile zu wahren Wortschlangen ausdehnt. Hier hat der deutsche Übersetzer, sofern er nur die Kunstform beherrscht, einen Vorsprung vor dem ungarischen Dichter. Anders steht es mit dem Klang. Zu den grammatikalischen Eigenheiten der ungarischen Sprache gehört ihre sogenannte Vokalharmonie. Durch sie werden die vielfältigen Ableitungs- silben vokalisch mit dem Vokal der Stammsilbe in Gleichklang gebracht, eine Lautverschiebung, die stark den Wohlklang der ungarischen Sprache fördert. Dagegen ist die Reimmöglichkeit am Ende des Verses gerade dadurch eingeengt, mehr noch durch die silberreichen Wortschlangen mit ihrer gegen den Schluß immer schwächer werdenden Tonkraft. Der ungarische Dichter behilft sich deshalb häufig mit Assonanzen (Halbreimen) und verzichtet selbst darauf manchmal. Was der Vers aber im ungarischen Gedicht durch ungenaue Reime einbüßt, gewinnt er innerhalb des Laufes an Klangschönheit durch die Vokalharmonie und ferner durch das Vorherrschen langgedehnter Vokale, die. in weiche Konsonanten eingebettet, der ungarischen Lyrik zu musikalischen Wohllaut verhelfen. In der deutschen Übertragung muß das durch volltönige Reime ersetzt werden. Und das Schicksal des Dichters? Während man in Ungarn seine Verse liebgewinnt, ihn als einen zweiten Petöfi preist und nun auch über Ungarns Grenzen hinaus diese Kriegslieder voll Kraft und Schönheit weitertönen laßt, schmachtet der Dichterheld in russischer Gefangenschaft, in Alatyr. einer kleinen Kreisstadt südöstlich von Nischni-Nowgorod, an der Sura, einem Nebenfluß der Wolga. Möge er bald befreit werden und neue, Frieden und Freude kündende Lieder anstimmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/295>, abgerufen am 17.06.2024.