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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Immanuel Kant über Politik, Krieg und Frieden

mit der gemeinen Wirklichkeit paktiert, am wenigsten im Moralischen. Das Wort:
du kannst, denn du sollst I gilt ihm zuletzt auch im Politischen. Darum soll sein
Entwurf zum ewigen Frieden nicht ein realpolitischer Traktat über Mögliches und
Erreichbares, noch weniger ein philosophischer Traum über Unmögliches und
Unerreichbares, sondern die Aufstellung eines sittlichen Ideals sein, dem wir mit
allen Kräften und gegen alle Hemmungen und Widerstände unbeirrt nachzustreben
haben. Aus diesem Gedanken heraus schließt er seine kleine Schrift über "Theorie
und Praxis" mit dem Bekenntnis: "Ich meinerseits vertraue doch auf die Theorie,
die von dem Rechtsprinzip ausgeht, wie das Verhältnis unter Menschen und
Staaten sein soll, und die den Erdengöttern die Moxime anpreist, in ihren
Streitigkeiten jederzeit so zu verfahren, daß ein solcher allgemeiner Völkerstaat
dadurch eingeleitet werde."

Als Kant diese Worte schrieb, war er ein Greis von nahezu siebzig Jahren,
der eine politisch außerordentlich reiche und wild bewegte Zeit überschaute. Was
er danach noch erlebte, vor allem der Aufgang der napoleonischen Zeit, war auch
kaum geeignet, seine Hoffnung auf den dauernden Völkerfrieden sonderlich zu
stärken. Auch er mag erfahren haben, was so mancher erfahren hat, der in die
Zeiten und Völker schaut, daß von allen großen Resignationen, die uns die Ge¬
schichte auferlegt, die auf den ewigen Frieden die größte und schwerste ist. Wir
sind heute nahezu ein und ein viertel Jahrhundert über jene Zeit hinausgeschritten,
haben Kriegsleid und Friedensglück, Aufstieg und Niedergang der Nationen und
dazu alle Formen und Schattierungen von Friedenstheorien und Schiedsgerichts¬
vorschlägen erlebt, und stehen augenblicklich in dem furchtbarsten Kriege, den die
Welt gesehen hat. Ob aus ihm das Morgenrot des ewigen Friedens aufleuchten
wird? Wir wissen es nicht und mögen es über all der Flut von Haß, Lüge
und Gemeinheit, die heute die Völker auseinander reißt, gründlich bezweifeln;
aber das wissen wir, daß dieser Krieg mit einem Siege endet, der wenigstens
unserm deutschen Volke wenn nicht einen ewigen, so doch einen langen, ersehnten
Frieden bringen wird.




Immanuel Kant über Politik, Krieg und Frieden

mit der gemeinen Wirklichkeit paktiert, am wenigsten im Moralischen. Das Wort:
du kannst, denn du sollst I gilt ihm zuletzt auch im Politischen. Darum soll sein
Entwurf zum ewigen Frieden nicht ein realpolitischer Traktat über Mögliches und
Erreichbares, noch weniger ein philosophischer Traum über Unmögliches und
Unerreichbares, sondern die Aufstellung eines sittlichen Ideals sein, dem wir mit
allen Kräften und gegen alle Hemmungen und Widerstände unbeirrt nachzustreben
haben. Aus diesem Gedanken heraus schließt er seine kleine Schrift über „Theorie
und Praxis" mit dem Bekenntnis: „Ich meinerseits vertraue doch auf die Theorie,
die von dem Rechtsprinzip ausgeht, wie das Verhältnis unter Menschen und
Staaten sein soll, und die den Erdengöttern die Moxime anpreist, in ihren
Streitigkeiten jederzeit so zu verfahren, daß ein solcher allgemeiner Völkerstaat
dadurch eingeleitet werde."

Als Kant diese Worte schrieb, war er ein Greis von nahezu siebzig Jahren,
der eine politisch außerordentlich reiche und wild bewegte Zeit überschaute. Was
er danach noch erlebte, vor allem der Aufgang der napoleonischen Zeit, war auch
kaum geeignet, seine Hoffnung auf den dauernden Völkerfrieden sonderlich zu
stärken. Auch er mag erfahren haben, was so mancher erfahren hat, der in die
Zeiten und Völker schaut, daß von allen großen Resignationen, die uns die Ge¬
schichte auferlegt, die auf den ewigen Frieden die größte und schwerste ist. Wir
sind heute nahezu ein und ein viertel Jahrhundert über jene Zeit hinausgeschritten,
haben Kriegsleid und Friedensglück, Aufstieg und Niedergang der Nationen und
dazu alle Formen und Schattierungen von Friedenstheorien und Schiedsgerichts¬
vorschlägen erlebt, und stehen augenblicklich in dem furchtbarsten Kriege, den die
Welt gesehen hat. Ob aus ihm das Morgenrot des ewigen Friedens aufleuchten
wird? Wir wissen es nicht und mögen es über all der Flut von Haß, Lüge
und Gemeinheit, die heute die Völker auseinander reißt, gründlich bezweifeln;
aber das wissen wir, daß dieser Krieg mit einem Siege endet, der wenigstens
unserm deutschen Volke wenn nicht einen ewigen, so doch einen langen, ersehnten
Frieden bringen wird.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/30>, abgerufen am 17.06.2024.