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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

rückten und die gesamte russische Beamtenschaft in wilder panikartiger Flucht
floh, da flohen mit ihnen die Tausende von den schlimmen Elementen des
lettischen Volles: die ganzen niederen Beamten bis zu den Portiers der
offiziellen Institutionen abwärts, der russische Postdirektor und der lewsche
Postbote, die russischen Gerichtspräsidenten und die lettischen Schreiber und
Kanzlisten, die lettischen Rechtsanwälte. Redakteure usw. und das ganze
böse Geschmeiß, denn was sollen die unter deutschem Regiment? Was aber
gut im Volke war. der Bauer vom flachen Lande, der hofft, daß Gott Frieden
und gerechtes neues Regiment geben werde -- er denkt wie der große Chronist
der baltischen Lande, der in seiner berühmten livländischen Chronik den Helden-
kampf des Ordens gegen die Russen schildert und diese mit den Worten
beginnt: "Es ist gewißlich wahr und münniglich bekannt, daß der Moskowiter
alle Zeit der Feind der Christenheit gewesen."

Es sind hier im obigen die Erfahrungen gewissenhaft mitgeteilt, tue alle
deutschen Großgrundbesitzer und Pastoren in diesen Kriegsmonaten an rhren
lettischen Heimatsgenossen gemacht haben. Genau so lauten auch die Infor¬
mationen von Livland her. Kein deutscher Balle zweifelt daran, daß in einer
bis zwei Generationen unter deutscher Regierung der lettische Bauer sprachlich
germanisiert ist. Nun hat Kurland, das so groß wie Belgien ist, auf dem
flachen Lande mit Ausschluß der Städte etwa 450000 Bewohner, von ihnen
sind etwa 400000 Letten. Kurland ist nächst Kostroma das schwächstbevölkerte
Gouvernement des europäischen Rußlands. Der Grund ist wohl darin zu
suchen, daß ein Drittel des Landes staatliche Domänen sind, auch sind große
Teile der deutschen Latifundien wenig besiedelt. Da in den Domänen fast gar
kein Kapital investiert ist. also keine Werte durch Aufteilung zerstört werden,
so bieten sie ein weites Feld für deutsche Ansiedluugstätigkeit. In den letzten
sechs Jahren vor dem Kriege ist es einigen deutschen Großgrundbesitzern Kur¬
lands gelungen, zur Stärkung des Deutschtums im Lande etwa 15000 deutsche
Seelen aus den deutschen Bauerkolonien Rußlands in Kurland besitzlich zu
machen. Sie gedeihen glänzend, und unter den etwa 2000000 deutschen
Bauern in Rußland ist eine gewaltige Bewegung entstanden, die Hoffnung,
daß die baltischen Provinzen vom Deutschen Reich genommen werden, und sie
selbst dann dort oder sonst im Deutschen Reiche eine feste Heimat finden
mögen. Denn der Zar hat am 2. Februar dieses Jahres ihre Untertanen¬
treue und ihre hundertjährige Kulturarbeit in Rußland damit gelohnt, daß er
das Gesetz unterschrieb, laut welchem sie alle im Laufe von zehn Monaten
ihren Besitz aufzugeben haben und ausgesiedelt werden aus Haus und Hof mit
Weib und Kind, während ihre Brüder und Söhne unter den Fahnen desselben
Zaren im Kampf gegen ihre Stammesgenossen verbluten müssen. Aus Wol-
hynien und den Gouvernements östlich der Weichsel sind Hunderttausende mit
Weib und Kind bereits ins Elend getrieben worden. Nun will der letzte
deutsche Kolonist aus Nußland mit Friedensschluß fort, und er hofft auf Hilfe


Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

rückten und die gesamte russische Beamtenschaft in wilder panikartiger Flucht
floh, da flohen mit ihnen die Tausende von den schlimmen Elementen des
lettischen Volles: die ganzen niederen Beamten bis zu den Portiers der
offiziellen Institutionen abwärts, der russische Postdirektor und der lewsche
Postbote, die russischen Gerichtspräsidenten und die lettischen Schreiber und
Kanzlisten, die lettischen Rechtsanwälte. Redakteure usw. und das ganze
böse Geschmeiß, denn was sollen die unter deutschem Regiment? Was aber
gut im Volke war. der Bauer vom flachen Lande, der hofft, daß Gott Frieden
und gerechtes neues Regiment geben werde — er denkt wie der große Chronist
der baltischen Lande, der in seiner berühmten livländischen Chronik den Helden-
kampf des Ordens gegen die Russen schildert und diese mit den Worten
beginnt: „Es ist gewißlich wahr und münniglich bekannt, daß der Moskowiter
alle Zeit der Feind der Christenheit gewesen."

Es sind hier im obigen die Erfahrungen gewissenhaft mitgeteilt, tue alle
deutschen Großgrundbesitzer und Pastoren in diesen Kriegsmonaten an rhren
lettischen Heimatsgenossen gemacht haben. Genau so lauten auch die Infor¬
mationen von Livland her. Kein deutscher Balle zweifelt daran, daß in einer
bis zwei Generationen unter deutscher Regierung der lettische Bauer sprachlich
germanisiert ist. Nun hat Kurland, das so groß wie Belgien ist, auf dem
flachen Lande mit Ausschluß der Städte etwa 450000 Bewohner, von ihnen
sind etwa 400000 Letten. Kurland ist nächst Kostroma das schwächstbevölkerte
Gouvernement des europäischen Rußlands. Der Grund ist wohl darin zu
suchen, daß ein Drittel des Landes staatliche Domänen sind, auch sind große
Teile der deutschen Latifundien wenig besiedelt. Da in den Domänen fast gar
kein Kapital investiert ist. also keine Werte durch Aufteilung zerstört werden,
so bieten sie ein weites Feld für deutsche Ansiedluugstätigkeit. In den letzten
sechs Jahren vor dem Kriege ist es einigen deutschen Großgrundbesitzern Kur¬
lands gelungen, zur Stärkung des Deutschtums im Lande etwa 15000 deutsche
Seelen aus den deutschen Bauerkolonien Rußlands in Kurland besitzlich zu
machen. Sie gedeihen glänzend, und unter den etwa 2000000 deutschen
Bauern in Rußland ist eine gewaltige Bewegung entstanden, die Hoffnung,
daß die baltischen Provinzen vom Deutschen Reich genommen werden, und sie
selbst dann dort oder sonst im Deutschen Reiche eine feste Heimat finden
mögen. Denn der Zar hat am 2. Februar dieses Jahres ihre Untertanen¬
treue und ihre hundertjährige Kulturarbeit in Rußland damit gelohnt, daß er
das Gesetz unterschrieb, laut welchem sie alle im Laufe von zehn Monaten
ihren Besitz aufzugeben haben und ausgesiedelt werden aus Haus und Hof mit
Weib und Kind, während ihre Brüder und Söhne unter den Fahnen desselben
Zaren im Kampf gegen ihre Stammesgenossen verbluten müssen. Aus Wol-
hynien und den Gouvernements östlich der Weichsel sind Hunderttausende mit
Weib und Kind bereits ins Elend getrieben worden. Nun will der letzte
deutsche Kolonist aus Nußland mit Friedensschluß fort, und er hofft auf Hilfe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/37>, abgerufen am 10.06.2024.