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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Englands Seelenkultur

während die Philosphie als die krönende Spitze des gesamten Kulturbaues die
wissenschaftliche Formulierung seiner sittlichen Weltanschauung darstellt. Seit
zwei Jahrhunderten hat das deutsche Volk auf diesen Gebieten, auf denen seine
starken Kräfte ruhen, unbestritten die Führung; wie stark jedoch wir eigentlich
sind, das hat uns aber erst der Weltkrieg so recht zum Bewußtsein gebracht,
in dem sich der sittliche Idealismus des deutschen Volkes in seiner ganzen
ungeahnten Spannungsweite offenbarte als eine lebendige, wirkende Kraft, als
das durch alle Zeiten unalternde Beispiel eines praktisch gewordenen Sittengesetzes.
Fürwahr,

In Fahrten und Nöten zeigt sich das Volk erst recht.

Daß aber gegen den Todfeind, der uns diese Nöte schuf, Deutschland in
glühendsten Maße auflodert, wird ihm kein billig Denkender verargen können,
zumal die Kampfesweise jenes an Hinterlist, Tücke und Verlogenheit wohl das-
ungeheuerlichste aufgeboten hat, was je in der Welt geschehen ist. Dadurch
aber wird dessen Wesensart für uns in die Sphäre psychologischen Interesses
gerückt, und wir werden veranlaßt, sie da aufzusuchen, wo sie sich am reinsten
darstellt, in Philosophie und Musik, vielleicht daß wir auch hier -- abgesehen
von dem ethnographischen Problem -- einen Schlüssel finden zu dem Rätsel
o ganz uugermanischer Ruchlosigkeit*).

Ohne Zweifel hat die Philosophie Englands Bedeutendes hervorgebracht
von Bacon bis herab zu Stuart Mill und Herbert Spencer, namentlich in
Hinsicht der Erkenntnistheorie, wenngleich diese Anerkennung schon hier ein¬
geschränkt werden muß durch die Feststellung, daß trotz der Entdeckung der
Apriorität gewisser Erkenntnisse durch Kant das spekulative Denken Englands
bis heut noch im Empirismus und Sensualismus verharrt. Gewiß bedeutete
die Annahme der Erfahrun als Quelle aller Erkenntnis einen gewaltigen
Fortschritt gegenüber der mittelalterlichen Philosophie, die die Erfahrung unter¬
schätzte; wenn aber die englische Philosophie in der Hauptsache noch heut sich
in möglichster Nähe der Erscheinung hält, zu deren Erklärung Prinzipien
benutzt werden, die selbst wieder im Bereich des erfahrbaren liegen, wenn
selbst ein so bedeutender Geist wie Herbert Spencer mit den der Natur¬
wissenschaft entnommenen Schemata der Konzentration, des Überganges, der
Mannigfaltigkeit usw. auch die Erscheinungen des geistigen Lebens zu erklären
versucht, so zeigt sich darin eine Überwertmig des Realen, die keineswegs bloß
in der großen Scheu der englischen Denker vor zu weit gehender Abstraktion
zu suchen ist, sondern ihre Wurzeln in der Wesensart des Volkes selber hat,
wie noch unverhohlener in der englischen Ethik hervortritt, die eigentlich nichts
anderes ist als Nützlichkeitsmoral. Schon Bacon, der schuftige Lordkanzler
Jakobs des Ersten bekundet sich in seiner steten Betonung des praktischen Nutzens



-) Sind die Engländer überhaupt noch Germanen im eigentlichen Wortsinne oder nicht
vielmehr nur keltoromanische Bastarde germanischen Blutes?
Englands Seelenkultur

während die Philosphie als die krönende Spitze des gesamten Kulturbaues die
wissenschaftliche Formulierung seiner sittlichen Weltanschauung darstellt. Seit
zwei Jahrhunderten hat das deutsche Volk auf diesen Gebieten, auf denen seine
starken Kräfte ruhen, unbestritten die Führung; wie stark jedoch wir eigentlich
sind, das hat uns aber erst der Weltkrieg so recht zum Bewußtsein gebracht,
in dem sich der sittliche Idealismus des deutschen Volkes in seiner ganzen
ungeahnten Spannungsweite offenbarte als eine lebendige, wirkende Kraft, als
das durch alle Zeiten unalternde Beispiel eines praktisch gewordenen Sittengesetzes.
Fürwahr,

In Fahrten und Nöten zeigt sich das Volk erst recht.

Daß aber gegen den Todfeind, der uns diese Nöte schuf, Deutschland in
glühendsten Maße auflodert, wird ihm kein billig Denkender verargen können,
zumal die Kampfesweise jenes an Hinterlist, Tücke und Verlogenheit wohl das-
ungeheuerlichste aufgeboten hat, was je in der Welt geschehen ist. Dadurch
aber wird dessen Wesensart für uns in die Sphäre psychologischen Interesses
gerückt, und wir werden veranlaßt, sie da aufzusuchen, wo sie sich am reinsten
darstellt, in Philosophie und Musik, vielleicht daß wir auch hier — abgesehen
von dem ethnographischen Problem — einen Schlüssel finden zu dem Rätsel
o ganz uugermanischer Ruchlosigkeit*).

Ohne Zweifel hat die Philosophie Englands Bedeutendes hervorgebracht
von Bacon bis herab zu Stuart Mill und Herbert Spencer, namentlich in
Hinsicht der Erkenntnistheorie, wenngleich diese Anerkennung schon hier ein¬
geschränkt werden muß durch die Feststellung, daß trotz der Entdeckung der
Apriorität gewisser Erkenntnisse durch Kant das spekulative Denken Englands
bis heut noch im Empirismus und Sensualismus verharrt. Gewiß bedeutete
die Annahme der Erfahrun als Quelle aller Erkenntnis einen gewaltigen
Fortschritt gegenüber der mittelalterlichen Philosophie, die die Erfahrung unter¬
schätzte; wenn aber die englische Philosophie in der Hauptsache noch heut sich
in möglichster Nähe der Erscheinung hält, zu deren Erklärung Prinzipien
benutzt werden, die selbst wieder im Bereich des erfahrbaren liegen, wenn
selbst ein so bedeutender Geist wie Herbert Spencer mit den der Natur¬
wissenschaft entnommenen Schemata der Konzentration, des Überganges, der
Mannigfaltigkeit usw. auch die Erscheinungen des geistigen Lebens zu erklären
versucht, so zeigt sich darin eine Überwertmig des Realen, die keineswegs bloß
in der großen Scheu der englischen Denker vor zu weit gehender Abstraktion
zu suchen ist, sondern ihre Wurzeln in der Wesensart des Volkes selber hat,
wie noch unverhohlener in der englischen Ethik hervortritt, die eigentlich nichts
anderes ist als Nützlichkeitsmoral. Schon Bacon, der schuftige Lordkanzler
Jakobs des Ersten bekundet sich in seiner steten Betonung des praktischen Nutzens



-) Sind die Engländer überhaupt noch Germanen im eigentlichen Wortsinne oder nicht
vielmehr nur keltoromanische Bastarde germanischen Blutes?
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[0392] Englands Seelenkultur während die Philosphie als die krönende Spitze des gesamten Kulturbaues die wissenschaftliche Formulierung seiner sittlichen Weltanschauung darstellt. Seit zwei Jahrhunderten hat das deutsche Volk auf diesen Gebieten, auf denen seine starken Kräfte ruhen, unbestritten die Führung; wie stark jedoch wir eigentlich sind, das hat uns aber erst der Weltkrieg so recht zum Bewußtsein gebracht, in dem sich der sittliche Idealismus des deutschen Volkes in seiner ganzen ungeahnten Spannungsweite offenbarte als eine lebendige, wirkende Kraft, als das durch alle Zeiten unalternde Beispiel eines praktisch gewordenen Sittengesetzes. Fürwahr, In Fahrten und Nöten zeigt sich das Volk erst recht. Daß aber gegen den Todfeind, der uns diese Nöte schuf, Deutschland in glühendsten Maße auflodert, wird ihm kein billig Denkender verargen können, zumal die Kampfesweise jenes an Hinterlist, Tücke und Verlogenheit wohl das- ungeheuerlichste aufgeboten hat, was je in der Welt geschehen ist. Dadurch aber wird dessen Wesensart für uns in die Sphäre psychologischen Interesses gerückt, und wir werden veranlaßt, sie da aufzusuchen, wo sie sich am reinsten darstellt, in Philosophie und Musik, vielleicht daß wir auch hier — abgesehen von dem ethnographischen Problem — einen Schlüssel finden zu dem Rätsel o ganz uugermanischer Ruchlosigkeit*). Ohne Zweifel hat die Philosophie Englands Bedeutendes hervorgebracht von Bacon bis herab zu Stuart Mill und Herbert Spencer, namentlich in Hinsicht der Erkenntnistheorie, wenngleich diese Anerkennung schon hier ein¬ geschränkt werden muß durch die Feststellung, daß trotz der Entdeckung der Apriorität gewisser Erkenntnisse durch Kant das spekulative Denken Englands bis heut noch im Empirismus und Sensualismus verharrt. Gewiß bedeutete die Annahme der Erfahrun als Quelle aller Erkenntnis einen gewaltigen Fortschritt gegenüber der mittelalterlichen Philosophie, die die Erfahrung unter¬ schätzte; wenn aber die englische Philosophie in der Hauptsache noch heut sich in möglichster Nähe der Erscheinung hält, zu deren Erklärung Prinzipien benutzt werden, die selbst wieder im Bereich des erfahrbaren liegen, wenn selbst ein so bedeutender Geist wie Herbert Spencer mit den der Natur¬ wissenschaft entnommenen Schemata der Konzentration, des Überganges, der Mannigfaltigkeit usw. auch die Erscheinungen des geistigen Lebens zu erklären versucht, so zeigt sich darin eine Überwertmig des Realen, die keineswegs bloß in der großen Scheu der englischen Denker vor zu weit gehender Abstraktion zu suchen ist, sondern ihre Wurzeln in der Wesensart des Volkes selber hat, wie noch unverhohlener in der englischen Ethik hervortritt, die eigentlich nichts anderes ist als Nützlichkeitsmoral. Schon Bacon, der schuftige Lordkanzler Jakobs des Ersten bekundet sich in seiner steten Betonung des praktischen Nutzens -) Sind die Engländer überhaupt noch Germanen im eigentlichen Wortsinne oder nicht vielmehr nur keltoromanische Bastarde germanischen Blutes?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/392>, abgerufen am 17.06.2024.