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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Englands Seelenkultur

die ganze Äußerlichkeit des englischen Musiklebens liegt offen zutage, und die
vernichtenden Urteile Richard Wagners über dasselbe erfahren durch die in dem
erwähnten Buch von Schmitz mitgeteilten Beobachtungen neue Bestätigung.

Trotzdem hat es auch später, namentlich seit dem neunzehnten Jahrhundert
dort nicht an einheimischen Komponisten gefehlt; aber weder W. V. Wallace,
der erfolgreichste Opernkomponist Englands, noch W. Sterndale Bennett, der
sogenannte Begründer einer englischen Schule -- von kleineren ganz zu schweigen--
weisen irgendwelche nationale Sonderart auf, kaum irgendwelche persönliche.
Und auch die neueren, die wirklich bedeutenderes und eigenes zu sagen haben,
wie Granville Bavtock und Cyrill Scott, sind wie die Mehrzahl der britischen
Tondichter an der deutschen Schule gebidet -- was sie ohne diese geworden
wären, muß dahingestellt bleiben. Ausgezeichnete Koloristen, wie sie sind, bot
ihnen überdies bei hrer Fahrt in musikalisches Neuland der jungfräuliche Boden
ihres Kolonialreiches unermeßliche Schätze fremdartiger Rhythmen, Reize und
Stimmungen, desgleichen das Land der Chrysanthemen, mit dem sich übrigens
bereits vor etwa fünfundzwanzig Jahren in Sullwans "Mikado" und Sidncu Jones
"Geisha" die Seele des stolzen Albion in Wahlverwandtschaft zusammengefunden
hatte. Aber für die Entwicklung der Musik bedeuten "Mikado" und "Geisha"
ebensowenig wie das mit den letzten Mitteln eines ungeheuerlichen Im¬
pressionismus wirkende Mustkdrama "Strandrecht" von Ethel Smith. Auch
die musikalische Exotik, die unleugbar weittragende Anregung zu geben vermag,
wird als Selbstzweck uns Abendländern nur mehr eine fremdartige Seltsamkeit
bleiben und nie einem Volke die aus dem heimischen Boden gesogene Kraft
ersetzen können und die Sangesfähigkeit der Seele, so ihm diese mangelt. Auch
hier sind wir die Stärkeren und Begnadeteren. Nicht allein weil wir die
müßten tondichterischen Ethiker mit Stolz die unseren nennen, sondern weil unserem
Volke die Musik unabweisbares Lebensbedürfnis ist. Soweit die deutsche Zunge
klingt, durch zwei Jahrtausende Kulturentwicklung ein deutlich vernehmbares
Tönen und Singen, von den rauhen Heldenliedern zum Preise Ariovists und
Arnims bis herab zu der Musik in den Schützengräben. Mit Rührung ver¬
nehmen wir, wie unsere Getreuen da draußen singen und musizieren, so gut
es angehen will, sehen wir die dankbare Freude unserer Verwundeten über
dargebotene musikalische Genüsse. Mit Rührung, aber nicht mit Verwunderung,
weil es uns selbstverständlich erscheint, weil die Musik unserer Seele ebenso
eingeboren ist, wie das metaphysische Bedürfnis. Musik in sich haben -- von der
spezifischen Einzelbegabnng ist hier nicht die Rede -- heißt alle Erdschwere abstreifen
können, ist die Fähigkeit höchster Herzenserhebung, welcher Art sie auch sei.

Von dem Standpunkt der dargelegten Betrachtungen erscheint somit der
Riesenkampf, in dem England eingestandenermaßen Deutschland vernichten,
oder, weil es besser klingt, den weltbedrohenden germanischen Militarismus
niederringen will, nicht sowohl bloß ein Ringen um die Macht, sondern als ein
Kampf zweier grundverschiedener seelischer Kulturen überhaupt. Welcher Art


Englands Seelenkultur

die ganze Äußerlichkeit des englischen Musiklebens liegt offen zutage, und die
vernichtenden Urteile Richard Wagners über dasselbe erfahren durch die in dem
erwähnten Buch von Schmitz mitgeteilten Beobachtungen neue Bestätigung.

Trotzdem hat es auch später, namentlich seit dem neunzehnten Jahrhundert
dort nicht an einheimischen Komponisten gefehlt; aber weder W. V. Wallace,
der erfolgreichste Opernkomponist Englands, noch W. Sterndale Bennett, der
sogenannte Begründer einer englischen Schule — von kleineren ganz zu schweigen—
weisen irgendwelche nationale Sonderart auf, kaum irgendwelche persönliche.
Und auch die neueren, die wirklich bedeutenderes und eigenes zu sagen haben,
wie Granville Bavtock und Cyrill Scott, sind wie die Mehrzahl der britischen
Tondichter an der deutschen Schule gebidet — was sie ohne diese geworden
wären, muß dahingestellt bleiben. Ausgezeichnete Koloristen, wie sie sind, bot
ihnen überdies bei hrer Fahrt in musikalisches Neuland der jungfräuliche Boden
ihres Kolonialreiches unermeßliche Schätze fremdartiger Rhythmen, Reize und
Stimmungen, desgleichen das Land der Chrysanthemen, mit dem sich übrigens
bereits vor etwa fünfundzwanzig Jahren in Sullwans „Mikado" und Sidncu Jones
„Geisha" die Seele des stolzen Albion in Wahlverwandtschaft zusammengefunden
hatte. Aber für die Entwicklung der Musik bedeuten „Mikado" und „Geisha"
ebensowenig wie das mit den letzten Mitteln eines ungeheuerlichen Im¬
pressionismus wirkende Mustkdrama „Strandrecht" von Ethel Smith. Auch
die musikalische Exotik, die unleugbar weittragende Anregung zu geben vermag,
wird als Selbstzweck uns Abendländern nur mehr eine fremdartige Seltsamkeit
bleiben und nie einem Volke die aus dem heimischen Boden gesogene Kraft
ersetzen können und die Sangesfähigkeit der Seele, so ihm diese mangelt. Auch
hier sind wir die Stärkeren und Begnadeteren. Nicht allein weil wir die
müßten tondichterischen Ethiker mit Stolz die unseren nennen, sondern weil unserem
Volke die Musik unabweisbares Lebensbedürfnis ist. Soweit die deutsche Zunge
klingt, durch zwei Jahrtausende Kulturentwicklung ein deutlich vernehmbares
Tönen und Singen, von den rauhen Heldenliedern zum Preise Ariovists und
Arnims bis herab zu der Musik in den Schützengräben. Mit Rührung ver¬
nehmen wir, wie unsere Getreuen da draußen singen und musizieren, so gut
es angehen will, sehen wir die dankbare Freude unserer Verwundeten über
dargebotene musikalische Genüsse. Mit Rührung, aber nicht mit Verwunderung,
weil es uns selbstverständlich erscheint, weil die Musik unserer Seele ebenso
eingeboren ist, wie das metaphysische Bedürfnis. Musik in sich haben — von der
spezifischen Einzelbegabnng ist hier nicht die Rede — heißt alle Erdschwere abstreifen
können, ist die Fähigkeit höchster Herzenserhebung, welcher Art sie auch sei.

Von dem Standpunkt der dargelegten Betrachtungen erscheint somit der
Riesenkampf, in dem England eingestandenermaßen Deutschland vernichten,
oder, weil es besser klingt, den weltbedrohenden germanischen Militarismus
niederringen will, nicht sowohl bloß ein Ringen um die Macht, sondern als ein
Kampf zweier grundverschiedener seelischer Kulturen überhaupt. Welcher Art


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/396>, abgerufen am 17.06.2024.