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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage nach dem Uriege

überhaupt erst die Generation, die unter den neuen Verhältnissen groß geworden
ist, als selbständige Bauern anzusiedeln.

Es ist möglich, daß die Aussicht auf eine Erfüllung der zionistischen Träume
gerade bei unseren deutsch-jüdischen Mitbürgern wenig Begeisterung weckt. Aber
gerade ihr eigenstes Interesse, das auf ungestörten Genuß der erworbenen Rechte
und Vorteile gerichtet ist, verlangt, daß die jüdische Auswanderung aus den
östlichen Ländern von unseren Grenzen abgelenkt wird, und einsichtige deutsche
Juden haben die drohende Gefahr erkannt und suchen nach einem Ausweg.
Was im Programm des Zionismus über die Ansiedlungsfrage hinausgeht, ist
inner-jüdische Angelegenheit, bei der wir nur Zuschauer sind. Man darf wohl
annehmen, daß mit der Annahme des Ansiedlungsprogramms innerhalb des
westeuropäischen Judentums in dem Gegensatz zwischen den jüdischen Nationalisten
und den Staatsbürgern mosaischen Glaubens eine Entspannung eintritt. Was
dann an Wirkung der zionistischen Gedanken noch übrig bleibt, wird eine kleine
Steigerung des jüdischen Stammesbewußtseins und eine verhältnismäßige Ver¬
selbständigung des jüdischen Geisteslebens (was durchaus noch keine Entfremdung
von dem Geistesleben ihrer Wirtsvölker bedeutet) sein. Eine größere Ehrlichkeit
im Verhältnis des jüdischen und des nichtjüdischer Bevölkerungsteiles, Verständnis
anstelle von Gehäßigkeit, wird vielleicht die Frucht sein; und wenn sich einmal
irgend welche Gegensätze nicht ausgleichen lassen, so wird wenigstens ein ehrlicher
Kampf an die Stelle des jetzigen Versteckspieles treten.

Sollten die Zentralmächte aber eine Lösung der Judenfrage in diesem
Sinne überhaupt ins Auge fassen, so ist jetzt der Augenblick, sie, wenn nicht
in Angriff zu nehmen, so doch wenigstens vorzubreiten und zum Programm zu
erheben. Man setzt bei uns Hoffnungen auf ein Wiederaufleben der Revolution
in Rußland. Diese Hoffnungen find bisher enttäuscht worden, und es scheint als
sollte die Revolution auch in Zukunft über einige mißglückte Putschversuche in
den Großstädten nicht hinauskommen. Zu den Gründen gehört neben der
Polenpolitik unserer Regierung, ihrer Politik der vorigen Revolution gegen¬
über, dem Verfall der revolutionären Organisationen, der Bauernpolitik der
russischen Regierung, vor allem eben der Zionismus. Aber wir werden
an dem jüdischen Volke einen rührigen und verschlagenen Bundesgenossen
in Feindesland gewinnen, wenn ihm seine eigenen Führer im Namen der
verbündeten Regierungen den neuen Messias verkünden. Wir werden selbst
in den westlichen Feindesländern und bei den Neutralen neue Freunde
gewinnen, nicht zuletzt auch in Amerika, dessen Haltung für den Ausgang
des Krieges von so großer Bedeutung werden kann. Im Beginne des Krieges
hatten einflußreiche westliche Zionisten (Zangwill) ihre Hoffnung auf England
gesetzt, und man schien in England die Bedeutung der Frage eine Zeitlang
erkannt zu haben; aber England wird aufgefordert, Länder zu verschenken, die
es erst erobern muß und wenn die Juden Rußlands dem Verbündeten des
Zaren Vertrauen geschenkt haben sollten, so wird ihnen dasselbe wohl duck


Die Judenfrage nach dem Uriege

überhaupt erst die Generation, die unter den neuen Verhältnissen groß geworden
ist, als selbständige Bauern anzusiedeln.

Es ist möglich, daß die Aussicht auf eine Erfüllung der zionistischen Träume
gerade bei unseren deutsch-jüdischen Mitbürgern wenig Begeisterung weckt. Aber
gerade ihr eigenstes Interesse, das auf ungestörten Genuß der erworbenen Rechte
und Vorteile gerichtet ist, verlangt, daß die jüdische Auswanderung aus den
östlichen Ländern von unseren Grenzen abgelenkt wird, und einsichtige deutsche
Juden haben die drohende Gefahr erkannt und suchen nach einem Ausweg.
Was im Programm des Zionismus über die Ansiedlungsfrage hinausgeht, ist
inner-jüdische Angelegenheit, bei der wir nur Zuschauer sind. Man darf wohl
annehmen, daß mit der Annahme des Ansiedlungsprogramms innerhalb des
westeuropäischen Judentums in dem Gegensatz zwischen den jüdischen Nationalisten
und den Staatsbürgern mosaischen Glaubens eine Entspannung eintritt. Was
dann an Wirkung der zionistischen Gedanken noch übrig bleibt, wird eine kleine
Steigerung des jüdischen Stammesbewußtseins und eine verhältnismäßige Ver¬
selbständigung des jüdischen Geisteslebens (was durchaus noch keine Entfremdung
von dem Geistesleben ihrer Wirtsvölker bedeutet) sein. Eine größere Ehrlichkeit
im Verhältnis des jüdischen und des nichtjüdischer Bevölkerungsteiles, Verständnis
anstelle von Gehäßigkeit, wird vielleicht die Frucht sein; und wenn sich einmal
irgend welche Gegensätze nicht ausgleichen lassen, so wird wenigstens ein ehrlicher
Kampf an die Stelle des jetzigen Versteckspieles treten.

Sollten die Zentralmächte aber eine Lösung der Judenfrage in diesem
Sinne überhaupt ins Auge fassen, so ist jetzt der Augenblick, sie, wenn nicht
in Angriff zu nehmen, so doch wenigstens vorzubreiten und zum Programm zu
erheben. Man setzt bei uns Hoffnungen auf ein Wiederaufleben der Revolution
in Rußland. Diese Hoffnungen find bisher enttäuscht worden, und es scheint als
sollte die Revolution auch in Zukunft über einige mißglückte Putschversuche in
den Großstädten nicht hinauskommen. Zu den Gründen gehört neben der
Polenpolitik unserer Regierung, ihrer Politik der vorigen Revolution gegen¬
über, dem Verfall der revolutionären Organisationen, der Bauernpolitik der
russischen Regierung, vor allem eben der Zionismus. Aber wir werden
an dem jüdischen Volke einen rührigen und verschlagenen Bundesgenossen
in Feindesland gewinnen, wenn ihm seine eigenen Führer im Namen der
verbündeten Regierungen den neuen Messias verkünden. Wir werden selbst
in den westlichen Feindesländern und bei den Neutralen neue Freunde
gewinnen, nicht zuletzt auch in Amerika, dessen Haltung für den Ausgang
des Krieges von so großer Bedeutung werden kann. Im Beginne des Krieges
hatten einflußreiche westliche Zionisten (Zangwill) ihre Hoffnung auf England
gesetzt, und man schien in England die Bedeutung der Frage eine Zeitlang
erkannt zu haben; aber England wird aufgefordert, Länder zu verschenken, die
es erst erobern muß und wenn die Juden Rußlands dem Verbündeten des
Zaren Vertrauen geschenkt haben sollten, so wird ihnen dasselbe wohl duck


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[0421] Die Judenfrage nach dem Uriege überhaupt erst die Generation, die unter den neuen Verhältnissen groß geworden ist, als selbständige Bauern anzusiedeln. Es ist möglich, daß die Aussicht auf eine Erfüllung der zionistischen Träume gerade bei unseren deutsch-jüdischen Mitbürgern wenig Begeisterung weckt. Aber gerade ihr eigenstes Interesse, das auf ungestörten Genuß der erworbenen Rechte und Vorteile gerichtet ist, verlangt, daß die jüdische Auswanderung aus den östlichen Ländern von unseren Grenzen abgelenkt wird, und einsichtige deutsche Juden haben die drohende Gefahr erkannt und suchen nach einem Ausweg. Was im Programm des Zionismus über die Ansiedlungsfrage hinausgeht, ist inner-jüdische Angelegenheit, bei der wir nur Zuschauer sind. Man darf wohl annehmen, daß mit der Annahme des Ansiedlungsprogramms innerhalb des westeuropäischen Judentums in dem Gegensatz zwischen den jüdischen Nationalisten und den Staatsbürgern mosaischen Glaubens eine Entspannung eintritt. Was dann an Wirkung der zionistischen Gedanken noch übrig bleibt, wird eine kleine Steigerung des jüdischen Stammesbewußtseins und eine verhältnismäßige Ver¬ selbständigung des jüdischen Geisteslebens (was durchaus noch keine Entfremdung von dem Geistesleben ihrer Wirtsvölker bedeutet) sein. Eine größere Ehrlichkeit im Verhältnis des jüdischen und des nichtjüdischer Bevölkerungsteiles, Verständnis anstelle von Gehäßigkeit, wird vielleicht die Frucht sein; und wenn sich einmal irgend welche Gegensätze nicht ausgleichen lassen, so wird wenigstens ein ehrlicher Kampf an die Stelle des jetzigen Versteckspieles treten. Sollten die Zentralmächte aber eine Lösung der Judenfrage in diesem Sinne überhaupt ins Auge fassen, so ist jetzt der Augenblick, sie, wenn nicht in Angriff zu nehmen, so doch wenigstens vorzubreiten und zum Programm zu erheben. Man setzt bei uns Hoffnungen auf ein Wiederaufleben der Revolution in Rußland. Diese Hoffnungen find bisher enttäuscht worden, und es scheint als sollte die Revolution auch in Zukunft über einige mißglückte Putschversuche in den Großstädten nicht hinauskommen. Zu den Gründen gehört neben der Polenpolitik unserer Regierung, ihrer Politik der vorigen Revolution gegen¬ über, dem Verfall der revolutionären Organisationen, der Bauernpolitik der russischen Regierung, vor allem eben der Zionismus. Aber wir werden an dem jüdischen Volke einen rührigen und verschlagenen Bundesgenossen in Feindesland gewinnen, wenn ihm seine eigenen Führer im Namen der verbündeten Regierungen den neuen Messias verkünden. Wir werden selbst in den westlichen Feindesländern und bei den Neutralen neue Freunde gewinnen, nicht zuletzt auch in Amerika, dessen Haltung für den Ausgang des Krieges von so großer Bedeutung werden kann. Im Beginne des Krieges hatten einflußreiche westliche Zionisten (Zangwill) ihre Hoffnung auf England gesetzt, und man schien in England die Bedeutung der Frage eine Zeitlang erkannt zu haben; aber England wird aufgefordert, Länder zu verschenken, die es erst erobern muß und wenn die Juden Rußlands dem Verbündeten des Zaren Vertrauen geschenkt haben sollten, so wird ihnen dasselbe wohl duck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/421>, abgerufen am 17.06.2024.