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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen

Kriegstechnik sehr geändert haben, was ja schon bei den 1871 gegen Frankreich
gezogenen der Fall ist, die selbst ein Moltke für einen genügenden Reichsschutz
hielt, und die doch nicht den Einfall der Franzosen in das Oberelsaß und
deren längeres Einnisten in dessen westlichsten Teile verhindern konnten.
Immerhin ist es ein Unterschied, ob ein Grenzwall fast ein Jahrtausend lang
oder nur vorübergehend Stand gehalten hat; denn im ersteren Falle scheint
er die bleibende natürliche Grenze zu sein.

In der Alpenkette hatte schon der Vertrag von Verdun 843 Deutschland
geradezu eine ideale Südgrenze gegeben,; auch jetzt noch, also nach ein Jahr¬
tausend, bewährt sie sich als solche für Deutsch-Österreich im Kampfe mit
Italien. Die Römerzuge aber, welche die Ottonen, die Hohenstaufen und Karl
der Fünfte unternahmen, um jenseits der Alpen Gebiet zu erobern, hatten nur
blendende vorübergehende Erfolge und hemmten den von dem Sachsen Heinrich
dem Ersten gefaßten und von dem Weisen Heinrich dem Löwen weiter geführten
Plan, Deutschland nach dem ebenen Nordosten hin zu weiten. Auch Österreich
schädigten seine italienischen Provinzen nur;' denn sie veranlaßten 1859 die
Niederlage durch Napoleon den Dritten und entzogen ihm, als es mit Preußen
1866 um die Vorherrschaft in Deutschland rang, 100000 Kerntruppen und
den besten Feldherrn, Erzherzog Albrecht.

Vor der Völkerwanderung (375) saßen Germanen an der Ostsee, die sie
beherrschten, etwa bis zur Memel hin. Die Weichsel war ein rein germanischer
Fluß, über den noch kein Slawe den Fuß gesetzt hatte. Doch nach freiwilliger
Abwanderung der Ostgermanen aus dem Ostsee- und Weichselgebiet erreichten
die SlSwen schon Ende der Völkerwanderung (568) die Unterelbe und Saale,
welche Flüsse bei Ausbruch des jetzigen Krieges die Russen als natürliche
Grenzen erstrebten. Wohl drängte schon Karl der Große die Slawen wieder
zurück, oder machte sie sich untertänig; doch dauernde Erfolge hatte er nur im
Südosten, wo er sogar über die Marken des jetzigen Deutsch-Österreichs hinüber¬
griff. 928 begann mit des deutschen Königs Heimichs des Ersten Zügen
gegen die Heveller an der Havel und gegen die Dalaminzier zwischen Mulde
und Elbe eine einhalb Jahrtausend währende der großen Völkerwanderung
rückläufige Bewegung der Deutschen nach Osten, die allmählich bis zu dem
äußersten Westen des Deutschtums, dem jetzt heiß umstrittenen Flandern, hinüber¬
griff. Denn Heinrichs Rittern und Reisigen folgten bald deutsche Geistliche und
Bauern, später deutsche Handwerker und Kaufleute, die christlich-deutsche Kultur
den dünnbevölkerten Slawenländern brachten. Um 1100 war die Reichsgrenze
bis zum Unterlauf der Oder und bis zum Boberfluß endgültig vorgeschoben
worden, um 1200 bis zum Unterlauf der nach Norden sich wendenden Weichsel.
Im dreizehnten Jahrhundert eroberten jenseits dieser der Orden der Schwert¬
brüder und der Deutsche Orden Ostpreußen und die jetzigen russischen Ostsee¬
provinzen bis zum Finnischen Meerbusen. Im vierzehnten ward die Ostsee
von der deutschen Hansa beherrscht, der Danzig, Thorn, Elbingeu, Braunsberg,


Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen

Kriegstechnik sehr geändert haben, was ja schon bei den 1871 gegen Frankreich
gezogenen der Fall ist, die selbst ein Moltke für einen genügenden Reichsschutz
hielt, und die doch nicht den Einfall der Franzosen in das Oberelsaß und
deren längeres Einnisten in dessen westlichsten Teile verhindern konnten.
Immerhin ist es ein Unterschied, ob ein Grenzwall fast ein Jahrtausend lang
oder nur vorübergehend Stand gehalten hat; denn im ersteren Falle scheint
er die bleibende natürliche Grenze zu sein.

In der Alpenkette hatte schon der Vertrag von Verdun 843 Deutschland
geradezu eine ideale Südgrenze gegeben,; auch jetzt noch, also nach ein Jahr¬
tausend, bewährt sie sich als solche für Deutsch-Österreich im Kampfe mit
Italien. Die Römerzuge aber, welche die Ottonen, die Hohenstaufen und Karl
der Fünfte unternahmen, um jenseits der Alpen Gebiet zu erobern, hatten nur
blendende vorübergehende Erfolge und hemmten den von dem Sachsen Heinrich
dem Ersten gefaßten und von dem Weisen Heinrich dem Löwen weiter geführten
Plan, Deutschland nach dem ebenen Nordosten hin zu weiten. Auch Österreich
schädigten seine italienischen Provinzen nur;' denn sie veranlaßten 1859 die
Niederlage durch Napoleon den Dritten und entzogen ihm, als es mit Preußen
1866 um die Vorherrschaft in Deutschland rang, 100000 Kerntruppen und
den besten Feldherrn, Erzherzog Albrecht.

Vor der Völkerwanderung (375) saßen Germanen an der Ostsee, die sie
beherrschten, etwa bis zur Memel hin. Die Weichsel war ein rein germanischer
Fluß, über den noch kein Slawe den Fuß gesetzt hatte. Doch nach freiwilliger
Abwanderung der Ostgermanen aus dem Ostsee- und Weichselgebiet erreichten
die SlSwen schon Ende der Völkerwanderung (568) die Unterelbe und Saale,
welche Flüsse bei Ausbruch des jetzigen Krieges die Russen als natürliche
Grenzen erstrebten. Wohl drängte schon Karl der Große die Slawen wieder
zurück, oder machte sie sich untertänig; doch dauernde Erfolge hatte er nur im
Südosten, wo er sogar über die Marken des jetzigen Deutsch-Österreichs hinüber¬
griff. 928 begann mit des deutschen Königs Heimichs des Ersten Zügen
gegen die Heveller an der Havel und gegen die Dalaminzier zwischen Mulde
und Elbe eine einhalb Jahrtausend währende der großen Völkerwanderung
rückläufige Bewegung der Deutschen nach Osten, die allmählich bis zu dem
äußersten Westen des Deutschtums, dem jetzt heiß umstrittenen Flandern, hinüber¬
griff. Denn Heinrichs Rittern und Reisigen folgten bald deutsche Geistliche und
Bauern, später deutsche Handwerker und Kaufleute, die christlich-deutsche Kultur
den dünnbevölkerten Slawenländern brachten. Um 1100 war die Reichsgrenze
bis zum Unterlauf der Oder und bis zum Boberfluß endgültig vorgeschoben
worden, um 1200 bis zum Unterlauf der nach Norden sich wendenden Weichsel.
Im dreizehnten Jahrhundert eroberten jenseits dieser der Orden der Schwert¬
brüder und der Deutsche Orden Ostpreußen und die jetzigen russischen Ostsee¬
provinzen bis zum Finnischen Meerbusen. Im vierzehnten ward die Ostsee
von der deutschen Hansa beherrscht, der Danzig, Thorn, Elbingeu, Braunsberg,


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[0423] Die Bedeutung der mittelalterlichen Reichsgrenzen Kriegstechnik sehr geändert haben, was ja schon bei den 1871 gegen Frankreich gezogenen der Fall ist, die selbst ein Moltke für einen genügenden Reichsschutz hielt, und die doch nicht den Einfall der Franzosen in das Oberelsaß und deren längeres Einnisten in dessen westlichsten Teile verhindern konnten. Immerhin ist es ein Unterschied, ob ein Grenzwall fast ein Jahrtausend lang oder nur vorübergehend Stand gehalten hat; denn im ersteren Falle scheint er die bleibende natürliche Grenze zu sein. In der Alpenkette hatte schon der Vertrag von Verdun 843 Deutschland geradezu eine ideale Südgrenze gegeben,; auch jetzt noch, also nach ein Jahr¬ tausend, bewährt sie sich als solche für Deutsch-Österreich im Kampfe mit Italien. Die Römerzuge aber, welche die Ottonen, die Hohenstaufen und Karl der Fünfte unternahmen, um jenseits der Alpen Gebiet zu erobern, hatten nur blendende vorübergehende Erfolge und hemmten den von dem Sachsen Heinrich dem Ersten gefaßten und von dem Weisen Heinrich dem Löwen weiter geführten Plan, Deutschland nach dem ebenen Nordosten hin zu weiten. Auch Österreich schädigten seine italienischen Provinzen nur;' denn sie veranlaßten 1859 die Niederlage durch Napoleon den Dritten und entzogen ihm, als es mit Preußen 1866 um die Vorherrschaft in Deutschland rang, 100000 Kerntruppen und den besten Feldherrn, Erzherzog Albrecht. Vor der Völkerwanderung (375) saßen Germanen an der Ostsee, die sie beherrschten, etwa bis zur Memel hin. Die Weichsel war ein rein germanischer Fluß, über den noch kein Slawe den Fuß gesetzt hatte. Doch nach freiwilliger Abwanderung der Ostgermanen aus dem Ostsee- und Weichselgebiet erreichten die SlSwen schon Ende der Völkerwanderung (568) die Unterelbe und Saale, welche Flüsse bei Ausbruch des jetzigen Krieges die Russen als natürliche Grenzen erstrebten. Wohl drängte schon Karl der Große die Slawen wieder zurück, oder machte sie sich untertänig; doch dauernde Erfolge hatte er nur im Südosten, wo er sogar über die Marken des jetzigen Deutsch-Österreichs hinüber¬ griff. 928 begann mit des deutschen Königs Heimichs des Ersten Zügen gegen die Heveller an der Havel und gegen die Dalaminzier zwischen Mulde und Elbe eine einhalb Jahrtausend währende der großen Völkerwanderung rückläufige Bewegung der Deutschen nach Osten, die allmählich bis zu dem äußersten Westen des Deutschtums, dem jetzt heiß umstrittenen Flandern, hinüber¬ griff. Denn Heinrichs Rittern und Reisigen folgten bald deutsche Geistliche und Bauern, später deutsche Handwerker und Kaufleute, die christlich-deutsche Kultur den dünnbevölkerten Slawenländern brachten. Um 1100 war die Reichsgrenze bis zum Unterlauf der Oder und bis zum Boberfluß endgültig vorgeschoben worden, um 1200 bis zum Unterlauf der nach Norden sich wendenden Weichsel. Im dreizehnten Jahrhundert eroberten jenseits dieser der Orden der Schwert¬ brüder und der Deutsche Orden Ostpreußen und die jetzigen russischen Ostsee¬ provinzen bis zum Finnischen Meerbusen. Im vierzehnten ward die Ostsee von der deutschen Hansa beherrscht, der Danzig, Thorn, Elbingeu, Braunsberg,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/423>, abgerufen am 17.06.2024.