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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Hochebene von Lafraun--vielgerent

In Böhmen, wo der nationale Kampf am heftigsten tobt, ist es eine
allgemeine Beobachtung, daß die Kinder aus den Gemeinden an der Sprach¬
grenze sich in ihrem späteren Leben zu der Nation rechnen, in deren Sprache
sie unterrichtet worden sind. Der Wortschatz, den die Bauernkinder vor dem Eintritt
in die Schule zusammenbringen, ist meist so gering, daß der Besuch eines
fremdsprachigen Kindergartens genügt, um ihnen einen eben so großen in der
Sprache der dort waltenden Kindergärtnerinnen zu vermitteln. Kinder aus
deutschen Familien, die einen tschechischen Kindergarten besucht haben, und
umgekehrt, sind beim Übertritt in die Volksschule gewöhnlich in der fremden
Sprache so weit gefördert, daß sie in der Schule der anderen Nationalität glatt
mitkommen.

Geradezu auffallend schnell und sicher vollzieht sich die Eindeutschung der
Kinder der italienischen Einwanderer im Etschtal in den deutschen Kindergärten
zwischen Salurn und Bozen, wo freilich stets eine große Anzahl deutscher Kinder
als unbezahlte Sprachlehrer mitwirken.

Die Rückverdeutschung der Hochteile, ja des ganzen alten Derttschgebiets
an ihrem Fuß. durch Kindergärten, Schulen, Sprachkurse usw. ist in einen:
Menschenalter durchführbar, wenn der österreichische Staat es will, und -- wenn
er die Mithilfe der Kirche gewinntI

Es ist bald ein halbes Jahrhundert, als der Dichter Steub klagend
ausrief, daß Österreich zur Zeit seiner Herrschaft über Venetien von 1815 bis
1366 "die zimbrischen sieben und dreizehn Gemeinden dem Deutschtum verloren
gehen ließ, während der Kaiserstaat sie dem angestammten Volkstum für weniger
Geld hätte erhalten können, als er für eine einzige Bastion im Sumpf der
Poebene oder für eine einzige Kompagnie Welscher, die nachher doch desertierten,
hinauswarf." An diese Worte mußte ich denken, als ich das verschüttete und
wiederauflebende Deutschtum auf der Hochteile sah: mögen die Worte des
Dichters als prophetische Mahnworte aufs neue in alle deutschen Lande hinaus-
klingen und auch den Weg zu der Stelle finden, an die sie der Dichter und
"Tirolomane", wie er sich selbst bezeichnete, heute wieder richten würde.

Daß die Wiedereindeutschung insbesondere Vielgereuts für Tirol nicht bloß
einen zahlenmäßigen Zuwachs zu der deutschen Bevölkerung bilden würde, wird
ein kurzer Abriß aus der Geschichte dieses tiroler Bauernfreistaats beweisen:

Das erste Jahrhundert der Gemeinde war ein ständiger Kampf um ihre
Unabhängigkeit mit den Dynasten auf der Burg Bisem (Kastell Beseno) über
Kalliano. Schon um das Jahr 1315 waren aber die Bauern Sieger und ini
Besitz einer Art Verfassung, das heißt einer Urkunde, in der alle ihre allmählich
errungenen Freiheiten zusammengestellt und von dem Feudalherrn bestätigt waren.
Die Eroberung der Hochteile und weiterer Teile des Bistums von Trient durch
Venedig brachte den Vielgereutern hundert Jahre später die volle Unabhängigkeit
von Bisem und Kaiser Max hat diese nach Besiegung der Venetianer bestätigt.
Ganz dramatisch spitzt sich der aufs neue beginnende Kampf zu, als die zähen


Die Hochebene von Lafraun—vielgerent

In Böhmen, wo der nationale Kampf am heftigsten tobt, ist es eine
allgemeine Beobachtung, daß die Kinder aus den Gemeinden an der Sprach¬
grenze sich in ihrem späteren Leben zu der Nation rechnen, in deren Sprache
sie unterrichtet worden sind. Der Wortschatz, den die Bauernkinder vor dem Eintritt
in die Schule zusammenbringen, ist meist so gering, daß der Besuch eines
fremdsprachigen Kindergartens genügt, um ihnen einen eben so großen in der
Sprache der dort waltenden Kindergärtnerinnen zu vermitteln. Kinder aus
deutschen Familien, die einen tschechischen Kindergarten besucht haben, und
umgekehrt, sind beim Übertritt in die Volksschule gewöhnlich in der fremden
Sprache so weit gefördert, daß sie in der Schule der anderen Nationalität glatt
mitkommen.

Geradezu auffallend schnell und sicher vollzieht sich die Eindeutschung der
Kinder der italienischen Einwanderer im Etschtal in den deutschen Kindergärten
zwischen Salurn und Bozen, wo freilich stets eine große Anzahl deutscher Kinder
als unbezahlte Sprachlehrer mitwirken.

Die Rückverdeutschung der Hochteile, ja des ganzen alten Derttschgebiets
an ihrem Fuß. durch Kindergärten, Schulen, Sprachkurse usw. ist in einen:
Menschenalter durchführbar, wenn der österreichische Staat es will, und — wenn
er die Mithilfe der Kirche gewinntI

Es ist bald ein halbes Jahrhundert, als der Dichter Steub klagend
ausrief, daß Österreich zur Zeit seiner Herrschaft über Venetien von 1815 bis
1366 „die zimbrischen sieben und dreizehn Gemeinden dem Deutschtum verloren
gehen ließ, während der Kaiserstaat sie dem angestammten Volkstum für weniger
Geld hätte erhalten können, als er für eine einzige Bastion im Sumpf der
Poebene oder für eine einzige Kompagnie Welscher, die nachher doch desertierten,
hinauswarf." An diese Worte mußte ich denken, als ich das verschüttete und
wiederauflebende Deutschtum auf der Hochteile sah: mögen die Worte des
Dichters als prophetische Mahnworte aufs neue in alle deutschen Lande hinaus-
klingen und auch den Weg zu der Stelle finden, an die sie der Dichter und
„Tirolomane", wie er sich selbst bezeichnete, heute wieder richten würde.

Daß die Wiedereindeutschung insbesondere Vielgereuts für Tirol nicht bloß
einen zahlenmäßigen Zuwachs zu der deutschen Bevölkerung bilden würde, wird
ein kurzer Abriß aus der Geschichte dieses tiroler Bauernfreistaats beweisen:

Das erste Jahrhundert der Gemeinde war ein ständiger Kampf um ihre
Unabhängigkeit mit den Dynasten auf der Burg Bisem (Kastell Beseno) über
Kalliano. Schon um das Jahr 1315 waren aber die Bauern Sieger und ini
Besitz einer Art Verfassung, das heißt einer Urkunde, in der alle ihre allmählich
errungenen Freiheiten zusammengestellt und von dem Feudalherrn bestätigt waren.
Die Eroberung der Hochteile und weiterer Teile des Bistums von Trient durch
Venedig brachte den Vielgereutern hundert Jahre später die volle Unabhängigkeit
von Bisem und Kaiser Max hat diese nach Besiegung der Venetianer bestätigt.
Ganz dramatisch spitzt sich der aufs neue beginnende Kampf zu, als die zähen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/58>, abgerufen am 17.06.2024.