Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

hat. Damit hat die Zivilisation den vom jetzt im engern Sinn Kultur ge¬
nannten Wertbestand erborgten Glanz eingebüßt. Sie steht ein wenig gerupft
da. In weiten Kreisen der geistig bewegten Jugend hat man sie mit dem
vom bourgeoisen Liberalismus angebeteten Fortschritt identifiziert und läßt ihr
aus wesentlich negaüv-protestlerischen Motiven eine über alles Maß hinausgehende
brüsk" malitiöse Verachtung zuteil werden. Die tieferen Probleme, die die
religiös-ethische Fragwürdigkeit des Zivilisatorischen betreffen, werden dabei
mehr geahnt, als klar gesehen. Immerhin hat diese Geringschätzung der
Zivilisation auch auf die Idee der Sozialpolitik abgefärbt. Zwar findet man
nicht den vollen Entschluß, sie entschieden in den zivilisatorischer Bereich abzu¬
rücken. Das zeigt sich darin, daß man sie selbst in der Bekämpfung noch
ethisch ernst nimmt; aber gerade aus dieser Unsicherheit heraus, wo sie nun
eigentlich unterzubringen sei, läßt man sie links liegen und gewinnt dadurch jene
etwas verlegene Haltung zu ihr, die Salz in ganz richtiger Weise veranschaulicht.

Auch darin stimmen wir ihm bei, daß die idealen Überbauungen der
praktischen deutschen Sozialpolitik, die er in dem im ethischen Individualismus
wurzelnden Humanitätsgedanken und in dem zum sozialen Eudämonismus ge¬
hörigen Gedanken des nationalen Machtstaates findet, heute niemanden recht
mehr überzeugen, keinen gewinnen werden. Die beiden Gedankenreihen ent¬
gegenstehenden Bedenklichkeiten werden von ihm vollkommen zutreffend aufgezeigt.
Aber was will er nun an die Stelle dieser Argumentationen setzen? Nicht
eine der personalen Ethik entnommene Beweisführung, sondern den Gedanken,
daß eine energische Sozialpolitik eine Garantie dafür ist, daß wir noch ein Volk
sein können und sein wollen. Ihre Rechtfertigung also erfährt sie dadurch, daß
sie Produkt und Gewähr eines vorhandenen Kollektivbewußtseins ist. Ein
"Gegengift gegen dissolutorische Instinkte und Antriebe" soll sie bedeuten: also
-- fügen wir hinzu -- bloße Negation einer Negation. Zu solch kümmerlicher
Positivität war also die vollliche Einheit vor diesem Kriege herabgesunken! Es
wirkt geradezu erschütternd, das an diesem Symptom zu konstatieren. Aber
höchst überraschend ist, daß Salz die volksaufbauende Kraft des Krieges in
begeisterten Worten preist, ohne scheinbar zu bemerken, daß er damit seine
eigene Argumentation vollkommen desavouiert. Denn was soll uns dann nach
diesem Kriege noch die Sozialpolitik, wenn ihr einziger Rechtsgrund die Bewußt-
machung volklicher Solidarität ist? Soll denn wirklich nach dem Kriege noch
der Satz gelten: "Hier (das heißt in der Neuzeit) ist man ein Volk, weil man
Sozialpolitik macht?" (Seite 31). Darin allenfalls können wir also dem Ver¬
fasser beistimmen, daß er die Sozialpolitik ein "notwendiges Surrogat" einer
Gemeinschaft konstituierenden Tathandlung des Volkes nennt. Aber brauchen
wir jetzt Surrogate? Und so nimmt es nicht einmal allzusehr wunder, daß
sich der Autor schließlich in wohlverständlicher Verwirrung in eine Art von
Lreäo quia absuräum e8t rettet. Denn am Schluß der ganzen Schrift, die
die Sozialpolitik rechtfertigen will, lesen wir, daß wir uns überhaupt nicht aus


Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

hat. Damit hat die Zivilisation den vom jetzt im engern Sinn Kultur ge¬
nannten Wertbestand erborgten Glanz eingebüßt. Sie steht ein wenig gerupft
da. In weiten Kreisen der geistig bewegten Jugend hat man sie mit dem
vom bourgeoisen Liberalismus angebeteten Fortschritt identifiziert und läßt ihr
aus wesentlich negaüv-protestlerischen Motiven eine über alles Maß hinausgehende
brüsk» malitiöse Verachtung zuteil werden. Die tieferen Probleme, die die
religiös-ethische Fragwürdigkeit des Zivilisatorischen betreffen, werden dabei
mehr geahnt, als klar gesehen. Immerhin hat diese Geringschätzung der
Zivilisation auch auf die Idee der Sozialpolitik abgefärbt. Zwar findet man
nicht den vollen Entschluß, sie entschieden in den zivilisatorischer Bereich abzu¬
rücken. Das zeigt sich darin, daß man sie selbst in der Bekämpfung noch
ethisch ernst nimmt; aber gerade aus dieser Unsicherheit heraus, wo sie nun
eigentlich unterzubringen sei, läßt man sie links liegen und gewinnt dadurch jene
etwas verlegene Haltung zu ihr, die Salz in ganz richtiger Weise veranschaulicht.

Auch darin stimmen wir ihm bei, daß die idealen Überbauungen der
praktischen deutschen Sozialpolitik, die er in dem im ethischen Individualismus
wurzelnden Humanitätsgedanken und in dem zum sozialen Eudämonismus ge¬
hörigen Gedanken des nationalen Machtstaates findet, heute niemanden recht
mehr überzeugen, keinen gewinnen werden. Die beiden Gedankenreihen ent¬
gegenstehenden Bedenklichkeiten werden von ihm vollkommen zutreffend aufgezeigt.
Aber was will er nun an die Stelle dieser Argumentationen setzen? Nicht
eine der personalen Ethik entnommene Beweisführung, sondern den Gedanken,
daß eine energische Sozialpolitik eine Garantie dafür ist, daß wir noch ein Volk
sein können und sein wollen. Ihre Rechtfertigung also erfährt sie dadurch, daß
sie Produkt und Gewähr eines vorhandenen Kollektivbewußtseins ist. Ein
„Gegengift gegen dissolutorische Instinkte und Antriebe" soll sie bedeuten: also
— fügen wir hinzu — bloße Negation einer Negation. Zu solch kümmerlicher
Positivität war also die vollliche Einheit vor diesem Kriege herabgesunken! Es
wirkt geradezu erschütternd, das an diesem Symptom zu konstatieren. Aber
höchst überraschend ist, daß Salz die volksaufbauende Kraft des Krieges in
begeisterten Worten preist, ohne scheinbar zu bemerken, daß er damit seine
eigene Argumentation vollkommen desavouiert. Denn was soll uns dann nach
diesem Kriege noch die Sozialpolitik, wenn ihr einziger Rechtsgrund die Bewußt-
machung volklicher Solidarität ist? Soll denn wirklich nach dem Kriege noch
der Satz gelten: „Hier (das heißt in der Neuzeit) ist man ein Volk, weil man
Sozialpolitik macht?" (Seite 31). Darin allenfalls können wir also dem Ver¬
fasser beistimmen, daß er die Sozialpolitik ein „notwendiges Surrogat" einer
Gemeinschaft konstituierenden Tathandlung des Volkes nennt. Aber brauchen
wir jetzt Surrogate? Und so nimmt es nicht einmal allzusehr wunder, daß
sich der Autor schließlich in wohlverständlicher Verwirrung in eine Art von
Lreäo quia absuräum e8t rettet. Denn am Schluß der ganzen Schrift, die
die Sozialpolitik rechtfertigen will, lesen wir, daß wir uns überhaupt nicht aus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324051"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_218" prev="#ID_217"> hat. Damit hat die Zivilisation den vom jetzt im engern Sinn Kultur ge¬<lb/>
nannten Wertbestand erborgten Glanz eingebüßt. Sie steht ein wenig gerupft<lb/>
da. In weiten Kreisen der geistig bewegten Jugend hat man sie mit dem<lb/>
vom bourgeoisen Liberalismus angebeteten Fortschritt identifiziert und läßt ihr<lb/>
aus wesentlich negaüv-protestlerischen Motiven eine über alles Maß hinausgehende<lb/>
brüsk» malitiöse Verachtung zuteil werden. Die tieferen Probleme, die die<lb/>
religiös-ethische Fragwürdigkeit des Zivilisatorischen betreffen, werden dabei<lb/>
mehr geahnt, als klar gesehen. Immerhin hat diese Geringschätzung der<lb/>
Zivilisation auch auf die Idee der Sozialpolitik abgefärbt. Zwar findet man<lb/>
nicht den vollen Entschluß, sie entschieden in den zivilisatorischer Bereich abzu¬<lb/>
rücken. Das zeigt sich darin, daß man sie selbst in der Bekämpfung noch<lb/>
ethisch ernst nimmt; aber gerade aus dieser Unsicherheit heraus, wo sie nun<lb/>
eigentlich unterzubringen sei, läßt man sie links liegen und gewinnt dadurch jene<lb/>
etwas verlegene Haltung zu ihr, die Salz in ganz richtiger Weise veranschaulicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_219" next="#ID_220"> Auch darin stimmen wir ihm bei, daß die idealen Überbauungen der<lb/>
praktischen deutschen Sozialpolitik, die er in dem im ethischen Individualismus<lb/>
wurzelnden Humanitätsgedanken und in dem zum sozialen Eudämonismus ge¬<lb/>
hörigen Gedanken des nationalen Machtstaates findet, heute niemanden recht<lb/>
mehr überzeugen, keinen gewinnen werden. Die beiden Gedankenreihen ent¬<lb/>
gegenstehenden Bedenklichkeiten werden von ihm vollkommen zutreffend aufgezeigt.<lb/>
Aber was will er nun an die Stelle dieser Argumentationen setzen? Nicht<lb/>
eine der personalen Ethik entnommene Beweisführung, sondern den Gedanken,<lb/>
daß eine energische Sozialpolitik eine Garantie dafür ist, daß wir noch ein Volk<lb/>
sein können und sein wollen. Ihre Rechtfertigung also erfährt sie dadurch, daß<lb/>
sie Produkt und Gewähr eines vorhandenen Kollektivbewußtseins ist. Ein<lb/>
&#x201E;Gegengift gegen dissolutorische Instinkte und Antriebe" soll sie bedeuten: also<lb/>
&#x2014; fügen wir hinzu &#x2014; bloße Negation einer Negation. Zu solch kümmerlicher<lb/>
Positivität war also die vollliche Einheit vor diesem Kriege herabgesunken! Es<lb/>
wirkt geradezu erschütternd, das an diesem Symptom zu konstatieren. Aber<lb/>
höchst überraschend ist, daß Salz die volksaufbauende Kraft des Krieges in<lb/>
begeisterten Worten preist, ohne scheinbar zu bemerken, daß er damit seine<lb/>
eigene Argumentation vollkommen desavouiert. Denn was soll uns dann nach<lb/>
diesem Kriege noch die Sozialpolitik, wenn ihr einziger Rechtsgrund die Bewußt-<lb/>
machung volklicher Solidarität ist? Soll denn wirklich nach dem Kriege noch<lb/>
der Satz gelten: &#x201E;Hier (das heißt in der Neuzeit) ist man ein Volk, weil man<lb/>
Sozialpolitik macht?" (Seite 31). Darin allenfalls können wir also dem Ver¬<lb/>
fasser beistimmen, daß er die Sozialpolitik ein &#x201E;notwendiges Surrogat" einer<lb/>
Gemeinschaft konstituierenden Tathandlung des Volkes nennt. Aber brauchen<lb/>
wir jetzt Surrogate? Und so nimmt es nicht einmal allzusehr wunder, daß<lb/>
sich der Autor schließlich in wohlverständlicher Verwirrung in eine Art von<lb/>
Lreäo quia absuräum e8t rettet. Denn am Schluß der ganzen Schrift, die<lb/>
die Sozialpolitik rechtfertigen will, lesen wir, daß wir uns überhaupt nicht aus</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0078] Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik hat. Damit hat die Zivilisation den vom jetzt im engern Sinn Kultur ge¬ nannten Wertbestand erborgten Glanz eingebüßt. Sie steht ein wenig gerupft da. In weiten Kreisen der geistig bewegten Jugend hat man sie mit dem vom bourgeoisen Liberalismus angebeteten Fortschritt identifiziert und läßt ihr aus wesentlich negaüv-protestlerischen Motiven eine über alles Maß hinausgehende brüsk» malitiöse Verachtung zuteil werden. Die tieferen Probleme, die die religiös-ethische Fragwürdigkeit des Zivilisatorischen betreffen, werden dabei mehr geahnt, als klar gesehen. Immerhin hat diese Geringschätzung der Zivilisation auch auf die Idee der Sozialpolitik abgefärbt. Zwar findet man nicht den vollen Entschluß, sie entschieden in den zivilisatorischer Bereich abzu¬ rücken. Das zeigt sich darin, daß man sie selbst in der Bekämpfung noch ethisch ernst nimmt; aber gerade aus dieser Unsicherheit heraus, wo sie nun eigentlich unterzubringen sei, läßt man sie links liegen und gewinnt dadurch jene etwas verlegene Haltung zu ihr, die Salz in ganz richtiger Weise veranschaulicht. Auch darin stimmen wir ihm bei, daß die idealen Überbauungen der praktischen deutschen Sozialpolitik, die er in dem im ethischen Individualismus wurzelnden Humanitätsgedanken und in dem zum sozialen Eudämonismus ge¬ hörigen Gedanken des nationalen Machtstaates findet, heute niemanden recht mehr überzeugen, keinen gewinnen werden. Die beiden Gedankenreihen ent¬ gegenstehenden Bedenklichkeiten werden von ihm vollkommen zutreffend aufgezeigt. Aber was will er nun an die Stelle dieser Argumentationen setzen? Nicht eine der personalen Ethik entnommene Beweisführung, sondern den Gedanken, daß eine energische Sozialpolitik eine Garantie dafür ist, daß wir noch ein Volk sein können und sein wollen. Ihre Rechtfertigung also erfährt sie dadurch, daß sie Produkt und Gewähr eines vorhandenen Kollektivbewußtseins ist. Ein „Gegengift gegen dissolutorische Instinkte und Antriebe" soll sie bedeuten: also — fügen wir hinzu — bloße Negation einer Negation. Zu solch kümmerlicher Positivität war also die vollliche Einheit vor diesem Kriege herabgesunken! Es wirkt geradezu erschütternd, das an diesem Symptom zu konstatieren. Aber höchst überraschend ist, daß Salz die volksaufbauende Kraft des Krieges in begeisterten Worten preist, ohne scheinbar zu bemerken, daß er damit seine eigene Argumentation vollkommen desavouiert. Denn was soll uns dann nach diesem Kriege noch die Sozialpolitik, wenn ihr einziger Rechtsgrund die Bewußt- machung volklicher Solidarität ist? Soll denn wirklich nach dem Kriege noch der Satz gelten: „Hier (das heißt in der Neuzeit) ist man ein Volk, weil man Sozialpolitik macht?" (Seite 31). Darin allenfalls können wir also dem Ver¬ fasser beistimmen, daß er die Sozialpolitik ein „notwendiges Surrogat" einer Gemeinschaft konstituierenden Tathandlung des Volkes nennt. Aber brauchen wir jetzt Surrogate? Und so nimmt es nicht einmal allzusehr wunder, daß sich der Autor schließlich in wohlverständlicher Verwirrung in eine Art von Lreäo quia absuräum e8t rettet. Denn am Schluß der ganzen Schrift, die die Sozialpolitik rechtfertigen will, lesen wir, daß wir uns überhaupt nicht aus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/78
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/78>, abgerufen am 17.06.2024.