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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Revolutionäre Strömungen in Rußland

dürfnisse der Armee (Kriegsindustriekomitee u. a.) teilzunehmen, sondern auch
an allen anderen Organisationen gesellschaftlichen und politischen Charakters",
vor allem an der Duma. "Die Lage ist so, daß wir zur Freiheit nicht anders
als durch das Mittel der nationalen Selbstverteidigung kommen können". --

Man sieht, welche Rolle in diesem Manifeste der alte Wahn spielt, daß
Deutschland die Stütze und der Hort der Reaktion in Europa ist. Es ist das
ein Glaube, der nicht nur dem ganzen liberalen, sondern auch dem sozialistischen
und revolutionären Rußland eingeimpft ist. Das Gespenst des Separatfriedens
mit Deutschland, den die besitzenden Klassen im Falle des Überwiegens der
Richtung der Poraschenzy auf Kosten der Arbeiterklasse angeblich zu schließen
beabsichtigen, ist eines der Schreckmittel, die in jeder Nummer des Prisyw der
Arbeiterklasse vorgehalten werden.

Das Manifest des Plechanows hätte sicherlich in Rußland einen noch
größeren Eindruck auf die Arbeiterschaft machen müssen, wenn die entgegen¬
gesetzte Richtung, nämlich die des Lenin, die es kritisierte, einen ausgesprochenen
Anhang gehabt hätte. Denn die Umstände für das Manifest waren außer¬
ordentlich günstig. Rußland war ein Land, in das der Feind eingefallen war,
das jetzt nicht mehr einen Angriffs-, sondern einen Verteidigungskrieg führte.
Wie viel leichter war es. die Gesichtspunkte des Manifestes den Arbeiterklassen
deutlich zu machen als damals, da die zarischen Waffen noch stegreich waren?
Und die Leninsche Richtung, die ausdrücklich auf die Niederlage der russischen
Waffen hinarbeitet, hat gewiß etwas Unnatürliches das sich gut widerlegen ließ.
Go einfach aber lagen die Verhältnisse denn doch nicht.

Zunächst wurde von den Arbeitern alles, was zur Zusammenarbeit mit
der Regierung aufmunterte, mit doppeltem Mißtrauen begrüßt, je reaktionärer
die Regierung der Chwostow und Goremykin wurde, und je näher eine andere
Möglichkeit rückte, nämlich die, doch noch einmal mit der Bourgeoisie für eine
zweite russische Revolution gegen die Regierung zusammen zu arbeiten. Je
größer nämlich die Spannung zwischen Regierung und Bourgoisie wurde, um
fo wichtiger wurde es, bereit zu sein für alle Fälle. So war vielfach die
Stimmung.

Einen solchen Stimmungen am besten entsprechenden mittleren Standpunkt
-- weder für die Poraschenzy noch für die Oboronzy -- hatten bisher schon
manche maßgebenden sozialistischen Vereinigungen in Nußland eingenommen,
wobei natürlich auch der Gesichtspunkt der Parteitakti! eine große Rolle spielte.
Die Menschewiki hatten immer die Losung ausgegeben, daß die russische Ar¬
beiterpartei aufhören müsse, sich durch Hazardstreiks zu entnerven und der
Negierung nur Waffen in die Hand zu geben, daß vielmehr die Lage der
Arbeiterschaft eine opportunistische Politik erfordere.

Das Verhalten der Dumafraktion zu den beiden Extremen ist nicht ganz
klar. Es scheint aber, daß sie zunächst noch Plechanow gegenüber eine ab¬
lehnende Rolle einnimmt, da noch nicht vor allzu langer Zeit der Deputierte


Revolutionäre Strömungen in Rußland

dürfnisse der Armee (Kriegsindustriekomitee u. a.) teilzunehmen, sondern auch
an allen anderen Organisationen gesellschaftlichen und politischen Charakters",
vor allem an der Duma. „Die Lage ist so, daß wir zur Freiheit nicht anders
als durch das Mittel der nationalen Selbstverteidigung kommen können". —

Man sieht, welche Rolle in diesem Manifeste der alte Wahn spielt, daß
Deutschland die Stütze und der Hort der Reaktion in Europa ist. Es ist das
ein Glaube, der nicht nur dem ganzen liberalen, sondern auch dem sozialistischen
und revolutionären Rußland eingeimpft ist. Das Gespenst des Separatfriedens
mit Deutschland, den die besitzenden Klassen im Falle des Überwiegens der
Richtung der Poraschenzy auf Kosten der Arbeiterklasse angeblich zu schließen
beabsichtigen, ist eines der Schreckmittel, die in jeder Nummer des Prisyw der
Arbeiterklasse vorgehalten werden.

Das Manifest des Plechanows hätte sicherlich in Rußland einen noch
größeren Eindruck auf die Arbeiterschaft machen müssen, wenn die entgegen¬
gesetzte Richtung, nämlich die des Lenin, die es kritisierte, einen ausgesprochenen
Anhang gehabt hätte. Denn die Umstände für das Manifest waren außer¬
ordentlich günstig. Rußland war ein Land, in das der Feind eingefallen war,
das jetzt nicht mehr einen Angriffs-, sondern einen Verteidigungskrieg führte.
Wie viel leichter war es. die Gesichtspunkte des Manifestes den Arbeiterklassen
deutlich zu machen als damals, da die zarischen Waffen noch stegreich waren?
Und die Leninsche Richtung, die ausdrücklich auf die Niederlage der russischen
Waffen hinarbeitet, hat gewiß etwas Unnatürliches das sich gut widerlegen ließ.
Go einfach aber lagen die Verhältnisse denn doch nicht.

Zunächst wurde von den Arbeitern alles, was zur Zusammenarbeit mit
der Regierung aufmunterte, mit doppeltem Mißtrauen begrüßt, je reaktionärer
die Regierung der Chwostow und Goremykin wurde, und je näher eine andere
Möglichkeit rückte, nämlich die, doch noch einmal mit der Bourgeoisie für eine
zweite russische Revolution gegen die Regierung zusammen zu arbeiten. Je
größer nämlich die Spannung zwischen Regierung und Bourgoisie wurde, um
fo wichtiger wurde es, bereit zu sein für alle Fälle. So war vielfach die
Stimmung.

Einen solchen Stimmungen am besten entsprechenden mittleren Standpunkt
— weder für die Poraschenzy noch für die Oboronzy — hatten bisher schon
manche maßgebenden sozialistischen Vereinigungen in Nußland eingenommen,
wobei natürlich auch der Gesichtspunkt der Parteitakti! eine große Rolle spielte.
Die Menschewiki hatten immer die Losung ausgegeben, daß die russische Ar¬
beiterpartei aufhören müsse, sich durch Hazardstreiks zu entnerven und der
Negierung nur Waffen in die Hand zu geben, daß vielmehr die Lage der
Arbeiterschaft eine opportunistische Politik erfordere.

Das Verhalten der Dumafraktion zu den beiden Extremen ist nicht ganz
klar. Es scheint aber, daß sie zunächst noch Plechanow gegenüber eine ab¬
lehnende Rolle einnimmt, da noch nicht vor allzu langer Zeit der Deputierte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/20>, abgerufen am 21.05.2024.