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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

impulsive Trieb zu ihrer radikalen Ver¬
neinung streitet in ihm mit dem positiverer
Bestreben einer Partikulären Bejahung, die
freilich sozusagen eine noch demütigendere
Verneinung bedeutet, da sie eine ganz be¬
sondere Überlegenheit der eignen absolut ge¬
nommenen Haltung bekundet. Auch Gott de¬
mütigt den Mephistopheles am tiefsten, gerade
indem er ihn gewähren läßt. So bekämpft
Scheler an allen Orten die Absolutheitsan"
sprüche des zivilisatorischer Geistes, weiß ihm
aber doch im Dienste der Kultur eine relative
Rechtfertigung zuteil werden zu lassen. Er
bestreitet die Überheblichkeit des sozialen Ge¬
dankens, der die christliche Liebe ersetzen zu
können meint, fundiert ihn aber sicher in der
Idee der Gerechtigkeit und der staatlichen
Opportunist und versteht ihm so ebenfalls
seine Positive Seite abzugewinnen.


[Spaltenumbruch]

Untersuchung über die "Idole der Selbster¬
kenntnis" trägt am meisten streng wissen¬
schaftlichen Charakter. Sie entwickelt eine
Phänomenologie der Täuschungen der innern
Wahrnehmung. Die Abwendung von der
kantischen Ethik der Selbstachtung und des
starren Formalismus des Guten kommt in
der wundervollen Arbeit "Zur Rehabilitierung
der Tugend" zum Ausdruck. Mit dem
"Phänomen des Tragischen" werden auch
ästhetische Probleme in die Betrachtung ge¬
rückt, obschon die Argumentation darauf ab¬
zielt, diesen Begriff über das ästhetische Ge¬
biet hinaus zu erweitern. Spezielle moderne
Fragen aktuellen Charakters behandeln schlie߬
lich die Aufsätze über die Nenlenhysterie und
über die Frauenbewegung.

Es ist ebenso unmöglich, auf engstem
Raume einen wirklichen Begriff von dem
Reichtum der aufgeworfenen Denkaufgaben
und von ihrer vielschichtigen Problematik zu
geben, wie vollends einzelne Thesen des
Denkers oder seine Grundhaltung zum Gegen¬
stand der Kritik zu machen. Daß die Philo¬
sophie der Gegenwart von Max Scheler
stärkste Impulse erhalten und auch noch
ferner zu erwarten hat, kann ungescheut aus¬
gesprochen werden. Denjenigen, denen eine
sachliche Beschäftigung mit philosophischen
Fragen versagt ist, und die dennoch ihr
Denken philosophisch vertiefen wollen, werden
wenige unter den lebenden Philosophen so
viel zu geben haben wie Scheler gerade in
diesem Werk. ES bleibt natürlich seinem
sachlichen Vollgehalt entsprechend für den
Ungeschulten eine nicht gerade leichte Lektüre.
Aber es bietet in den meisten Fällen wenig¬
stens keine dem Laien unüberwindlichen
Schwierigkeiten. Es ist niemals trocken, oft
ein wenig draufgängerisch-hitzig in der Ab¬
lehnung gänzlich irriger Meinungen, aber
durchaus ehrfürchtig, feinfühlig und weitherzig
vor den genialen Wortführern der Philosophie¬
geschichte und reicht seine gedankliche Fülle
in einem Stil dar, in dem die Prachtvoll
stämmige Haltung dieses Denkers ihren
deckenden Ausdruck gefunden hat.

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ch inheit des Menschn gch


Dr. Bochen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

impulsive Trieb zu ihrer radikalen Ver¬
neinung streitet in ihm mit dem positiverer
Bestreben einer Partikulären Bejahung, die
freilich sozusagen eine noch demütigendere
Verneinung bedeutet, da sie eine ganz be¬
sondere Überlegenheit der eignen absolut ge¬
nommenen Haltung bekundet. Auch Gott de¬
mütigt den Mephistopheles am tiefsten, gerade
indem er ihn gewähren läßt. So bekämpft
Scheler an allen Orten die Absolutheitsan»
sprüche des zivilisatorischer Geistes, weiß ihm
aber doch im Dienste der Kultur eine relative
Rechtfertigung zuteil werden zu lassen. Er
bestreitet die Überheblichkeit des sozialen Ge¬
dankens, der die christliche Liebe ersetzen zu
können meint, fundiert ihn aber sicher in der
Idee der Gerechtigkeit und der staatlichen
Opportunist und versteht ihm so ebenfalls
seine Positive Seite abzugewinnen.


[Spaltenumbruch]

Untersuchung über die „Idole der Selbster¬
kenntnis" trägt am meisten streng wissen¬
schaftlichen Charakter. Sie entwickelt eine
Phänomenologie der Täuschungen der innern
Wahrnehmung. Die Abwendung von der
kantischen Ethik der Selbstachtung und des
starren Formalismus des Guten kommt in
der wundervollen Arbeit „Zur Rehabilitierung
der Tugend" zum Ausdruck. Mit dem
„Phänomen des Tragischen" werden auch
ästhetische Probleme in die Betrachtung ge¬
rückt, obschon die Argumentation darauf ab¬
zielt, diesen Begriff über das ästhetische Ge¬
biet hinaus zu erweitern. Spezielle moderne
Fragen aktuellen Charakters behandeln schlie߬
lich die Aufsätze über die Nenlenhysterie und
über die Frauenbewegung.

Es ist ebenso unmöglich, auf engstem
Raume einen wirklichen Begriff von dem
Reichtum der aufgeworfenen Denkaufgaben
und von ihrer vielschichtigen Problematik zu
geben, wie vollends einzelne Thesen des
Denkers oder seine Grundhaltung zum Gegen¬
stand der Kritik zu machen. Daß die Philo¬
sophie der Gegenwart von Max Scheler
stärkste Impulse erhalten und auch noch
ferner zu erwarten hat, kann ungescheut aus¬
gesprochen werden. Denjenigen, denen eine
sachliche Beschäftigung mit philosophischen
Fragen versagt ist, und die dennoch ihr
Denken philosophisch vertiefen wollen, werden
wenige unter den lebenden Philosophen so
viel zu geben haben wie Scheler gerade in
diesem Werk. ES bleibt natürlich seinem
sachlichen Vollgehalt entsprechend für den
Ungeschulten eine nicht gerade leichte Lektüre.
Aber es bietet in den meisten Fällen wenig¬
stens keine dem Laien unüberwindlichen
Schwierigkeiten. Es ist niemals trocken, oft
ein wenig draufgängerisch-hitzig in der Ab¬
lehnung gänzlich irriger Meinungen, aber
durchaus ehrfürchtig, feinfühlig und weitherzig
vor den genialen Wortführern der Philosophie¬
geschichte und reicht seine gedankliche Fülle
in einem Stil dar, in dem die Prachtvoll
stämmige Haltung dieses Denkers ihren
deckenden Ausdruck gefunden hat.

[Ende Spaltensatz]

ch inheit des Menschn gch


Dr. Bochen


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[0295] Maßgebliches und Unmaßgebliches impulsive Trieb zu ihrer radikalen Ver¬ neinung streitet in ihm mit dem positiverer Bestreben einer Partikulären Bejahung, die freilich sozusagen eine noch demütigendere Verneinung bedeutet, da sie eine ganz be¬ sondere Überlegenheit der eignen absolut ge¬ nommenen Haltung bekundet. Auch Gott de¬ mütigt den Mephistopheles am tiefsten, gerade indem er ihn gewähren läßt. So bekämpft Scheler an allen Orten die Absolutheitsan» sprüche des zivilisatorischer Geistes, weiß ihm aber doch im Dienste der Kultur eine relative Rechtfertigung zuteil werden zu lassen. Er bestreitet die Überheblichkeit des sozialen Ge¬ dankens, der die christliche Liebe ersetzen zu können meint, fundiert ihn aber sicher in der Idee der Gerechtigkeit und der staatlichen Opportunist und versteht ihm so ebenfalls seine Positive Seite abzugewinnen. Untersuchung über die „Idole der Selbster¬ kenntnis" trägt am meisten streng wissen¬ schaftlichen Charakter. Sie entwickelt eine Phänomenologie der Täuschungen der innern Wahrnehmung. Die Abwendung von der kantischen Ethik der Selbstachtung und des starren Formalismus des Guten kommt in der wundervollen Arbeit „Zur Rehabilitierung der Tugend" zum Ausdruck. Mit dem „Phänomen des Tragischen" werden auch ästhetische Probleme in die Betrachtung ge¬ rückt, obschon die Argumentation darauf ab¬ zielt, diesen Begriff über das ästhetische Ge¬ biet hinaus zu erweitern. Spezielle moderne Fragen aktuellen Charakters behandeln schlie߬ lich die Aufsätze über die Nenlenhysterie und über die Frauenbewegung. Es ist ebenso unmöglich, auf engstem Raume einen wirklichen Begriff von dem Reichtum der aufgeworfenen Denkaufgaben und von ihrer vielschichtigen Problematik zu geben, wie vollends einzelne Thesen des Denkers oder seine Grundhaltung zum Gegen¬ stand der Kritik zu machen. Daß die Philo¬ sophie der Gegenwart von Max Scheler stärkste Impulse erhalten und auch noch ferner zu erwarten hat, kann ungescheut aus¬ gesprochen werden. Denjenigen, denen eine sachliche Beschäftigung mit philosophischen Fragen versagt ist, und die dennoch ihr Denken philosophisch vertiefen wollen, werden wenige unter den lebenden Philosophen so viel zu geben haben wie Scheler gerade in diesem Werk. ES bleibt natürlich seinem sachlichen Vollgehalt entsprechend für den Ungeschulten eine nicht gerade leichte Lektüre. Aber es bietet in den meisten Fällen wenig¬ stens keine dem Laien unüberwindlichen Schwierigkeiten. Es ist niemals trocken, oft ein wenig draufgängerisch-hitzig in der Ab¬ lehnung gänzlich irriger Meinungen, aber durchaus ehrfürchtig, feinfühlig und weitherzig vor den genialen Wortführern der Philosophie¬ geschichte und reicht seine gedankliche Fülle in einem Stil dar, in dem die Prachtvoll stämmige Haltung dieses Denkers ihren deckenden Ausdruck gefunden hat. ch inheit des Menschn gch Dr. Bochen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/295>, abgerufen am 21.05.2024.