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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

kann eben heute keine selbständige Politik mehr treiben wie noch zur Zeit
Napoleons III., weil es ohne die Hilfe einer anderen Macht nicht genug Men¬
schen hat, um gegebenenfalls allein seine Absichten mit dem Schwert durch¬
zusetzen.

Die russische Geschichte hat auch seit 1816 bis heute völlig unter dem
Zeichen der Herrschaft des unbeschränkten Absolutismus gestanden. Dieser hat
bewirkt, daß das Land nach innen wie nach außen sich wenig fortentwickelt
hat. Die Selbstherrscher und ihre Berater sahen ihre Staatskunst darin, daß
sie die Verwaltungsmaschine und Volksbildung auf äußerst niedriger Stufe
hielten. Den Neuerwerbungen Polen und Finnland wurden ihre höherstehenden
staatlichen Einrichtungen nach Kräften beschnitten; es kann daher nicht wunder¬
nehmen, daß sie noch 1914 nicht mit dem russischen Reich verwachsen waren.
An diesen Zuständen haben weder die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 noch
die Erteilung der Verfassung 1905 etwas geändert. Gegenüber den immer
wieder auftauchenden revolutionären Bewegungen machte die Regierung wohl
zeitweilig Zugeständnisse, sie war aber immer stark genug, sie später teilweise
wieder zurückzuziehen; am wichtigsten ist wohl nach der Richtung die 1907
bereits erfolgte Abänderung der 1905 erst erteilten Verfassung. In der aus¬
wärtigen Politik hatte Rußland zwar großen Landerwerb und neben den ver¬
lorenen auch gewonnene Kriege zu verzeichnen, aber auch auf diesem Gebiet
ist es ihm meist nicht gelungen, sich das Gewonnene dauernd einzugliedern und
zu erhalten. Auf dem Balkan, wo es Rußland einstweilen mehr auf "moralische"
Eroberungen ankam, brachte der gewonnene Krieg von 1877/78 nicht die ge¬
wünschte dauernde Abhängigkeit der von Rußland unterstützten Staaten; im
Osten verlor es im russisch-japanischen Krieg die wichtigsten neuerworbenen
Gebietsteile wieder.

Für England werden die Jahre 1815 bis 1914 voraussichtlich den Höhe¬
punkt seiner Macht darstellen. Der geringe Kräfteverlust, welchen es in den
napoleonischen Kriegen im Vergleich zu den Kontinentalstaaten erlitten, gab
ihm einen solchen Vorsprung vor diesen, daß es sich ein riesiges Kolonialreich
schaffen konnte, ohne auf den Widerstand der anderen europäischen Großstaaten
zu stoßen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren diese im
Gefolge der allmählich eintretenden längeren Friedenszeiten so erstarkt, daß sie
in die gleichen Bahnen einlenken konnten, und alsbald begannen auch die
kolonialen Reibungen Englands mit Rußland, Frankreich und Deutschland. Die
Schaffung der deutschen Seemacht ließ dann England seine Weltstellung von
diesem Gegner am meisten bedroht erscheinen, sodaß es seine Streitigkeiten mit
den anderen beiden Mächten beilegte, um zunächst des gefährlichsten Herr zu
werden. In der inneren Politik kann es weniger große Fortschritte verzeichnen.
Zwar wurden einige veraltete Bestimmungen des Wahlrechts abgeschafft, die
Katholiken emanzipiert und die Arbeitergesetzgebung unter dem Drucke unge¬
heuerlicher Mißstände durchgeführt. Aber zu einer zeitgemäßen Reform des


Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

kann eben heute keine selbständige Politik mehr treiben wie noch zur Zeit
Napoleons III., weil es ohne die Hilfe einer anderen Macht nicht genug Men¬
schen hat, um gegebenenfalls allein seine Absichten mit dem Schwert durch¬
zusetzen.

Die russische Geschichte hat auch seit 1816 bis heute völlig unter dem
Zeichen der Herrschaft des unbeschränkten Absolutismus gestanden. Dieser hat
bewirkt, daß das Land nach innen wie nach außen sich wenig fortentwickelt
hat. Die Selbstherrscher und ihre Berater sahen ihre Staatskunst darin, daß
sie die Verwaltungsmaschine und Volksbildung auf äußerst niedriger Stufe
hielten. Den Neuerwerbungen Polen und Finnland wurden ihre höherstehenden
staatlichen Einrichtungen nach Kräften beschnitten; es kann daher nicht wunder¬
nehmen, daß sie noch 1914 nicht mit dem russischen Reich verwachsen waren.
An diesen Zuständen haben weder die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 noch
die Erteilung der Verfassung 1905 etwas geändert. Gegenüber den immer
wieder auftauchenden revolutionären Bewegungen machte die Regierung wohl
zeitweilig Zugeständnisse, sie war aber immer stark genug, sie später teilweise
wieder zurückzuziehen; am wichtigsten ist wohl nach der Richtung die 1907
bereits erfolgte Abänderung der 1905 erst erteilten Verfassung. In der aus¬
wärtigen Politik hatte Rußland zwar großen Landerwerb und neben den ver¬
lorenen auch gewonnene Kriege zu verzeichnen, aber auch auf diesem Gebiet
ist es ihm meist nicht gelungen, sich das Gewonnene dauernd einzugliedern und
zu erhalten. Auf dem Balkan, wo es Rußland einstweilen mehr auf „moralische"
Eroberungen ankam, brachte der gewonnene Krieg von 1877/78 nicht die ge¬
wünschte dauernde Abhängigkeit der von Rußland unterstützten Staaten; im
Osten verlor es im russisch-japanischen Krieg die wichtigsten neuerworbenen
Gebietsteile wieder.

Für England werden die Jahre 1815 bis 1914 voraussichtlich den Höhe¬
punkt seiner Macht darstellen. Der geringe Kräfteverlust, welchen es in den
napoleonischen Kriegen im Vergleich zu den Kontinentalstaaten erlitten, gab
ihm einen solchen Vorsprung vor diesen, daß es sich ein riesiges Kolonialreich
schaffen konnte, ohne auf den Widerstand der anderen europäischen Großstaaten
zu stoßen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren diese im
Gefolge der allmählich eintretenden längeren Friedenszeiten so erstarkt, daß sie
in die gleichen Bahnen einlenken konnten, und alsbald begannen auch die
kolonialen Reibungen Englands mit Rußland, Frankreich und Deutschland. Die
Schaffung der deutschen Seemacht ließ dann England seine Weltstellung von
diesem Gegner am meisten bedroht erscheinen, sodaß es seine Streitigkeiten mit
den anderen beiden Mächten beilegte, um zunächst des gefährlichsten Herr zu
werden. In der inneren Politik kann es weniger große Fortschritte verzeichnen.
Zwar wurden einige veraltete Bestimmungen des Wahlrechts abgeschafft, die
Katholiken emanzipiert und die Arbeitergesetzgebung unter dem Drucke unge¬
heuerlicher Mißstände durchgeführt. Aber zu einer zeitgemäßen Reform des


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[0032] Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit kann eben heute keine selbständige Politik mehr treiben wie noch zur Zeit Napoleons III., weil es ohne die Hilfe einer anderen Macht nicht genug Men¬ schen hat, um gegebenenfalls allein seine Absichten mit dem Schwert durch¬ zusetzen. Die russische Geschichte hat auch seit 1816 bis heute völlig unter dem Zeichen der Herrschaft des unbeschränkten Absolutismus gestanden. Dieser hat bewirkt, daß das Land nach innen wie nach außen sich wenig fortentwickelt hat. Die Selbstherrscher und ihre Berater sahen ihre Staatskunst darin, daß sie die Verwaltungsmaschine und Volksbildung auf äußerst niedriger Stufe hielten. Den Neuerwerbungen Polen und Finnland wurden ihre höherstehenden staatlichen Einrichtungen nach Kräften beschnitten; es kann daher nicht wunder¬ nehmen, daß sie noch 1914 nicht mit dem russischen Reich verwachsen waren. An diesen Zuständen haben weder die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 noch die Erteilung der Verfassung 1905 etwas geändert. Gegenüber den immer wieder auftauchenden revolutionären Bewegungen machte die Regierung wohl zeitweilig Zugeständnisse, sie war aber immer stark genug, sie später teilweise wieder zurückzuziehen; am wichtigsten ist wohl nach der Richtung die 1907 bereits erfolgte Abänderung der 1905 erst erteilten Verfassung. In der aus¬ wärtigen Politik hatte Rußland zwar großen Landerwerb und neben den ver¬ lorenen auch gewonnene Kriege zu verzeichnen, aber auch auf diesem Gebiet ist es ihm meist nicht gelungen, sich das Gewonnene dauernd einzugliedern und zu erhalten. Auf dem Balkan, wo es Rußland einstweilen mehr auf „moralische" Eroberungen ankam, brachte der gewonnene Krieg von 1877/78 nicht die ge¬ wünschte dauernde Abhängigkeit der von Rußland unterstützten Staaten; im Osten verlor es im russisch-japanischen Krieg die wichtigsten neuerworbenen Gebietsteile wieder. Für England werden die Jahre 1815 bis 1914 voraussichtlich den Höhe¬ punkt seiner Macht darstellen. Der geringe Kräfteverlust, welchen es in den napoleonischen Kriegen im Vergleich zu den Kontinentalstaaten erlitten, gab ihm einen solchen Vorsprung vor diesen, daß es sich ein riesiges Kolonialreich schaffen konnte, ohne auf den Widerstand der anderen europäischen Großstaaten zu stoßen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren diese im Gefolge der allmählich eintretenden längeren Friedenszeiten so erstarkt, daß sie in die gleichen Bahnen einlenken konnten, und alsbald begannen auch die kolonialen Reibungen Englands mit Rußland, Frankreich und Deutschland. Die Schaffung der deutschen Seemacht ließ dann England seine Weltstellung von diesem Gegner am meisten bedroht erscheinen, sodaß es seine Streitigkeiten mit den anderen beiden Mächten beilegte, um zunächst des gefährlichsten Herr zu werden. In der inneren Politik kann es weniger große Fortschritte verzeichnen. Zwar wurden einige veraltete Bestimmungen des Wahlrechts abgeschafft, die Katholiken emanzipiert und die Arbeitergesetzgebung unter dem Drucke unge¬ heuerlicher Mißstände durchgeführt. Aber zu einer zeitgemäßen Reform des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/32>, abgerufen am 21.05.2024.