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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die neuen Männer in Frankreich

Briand die Zahl dieser untergeordneten Minister und Zwischenträger um acht
vermehrt hat. In einer Zeit, wo der gesamte Vierverband nach einer einheit¬
lichen Leitung und einer straffen Zusammenfassung aller Kräfte schreit, wo man
in England aus dem vielköpfigen Kabinett einen kleinen Vollzugsausschuß aus¬
sondert, schlägt Frankreich den umgekehrten Weg ein und erhöhte die allseitig
begehrten Ministerstellen auf zwanzig. Die Radikalen wurden durch die Er¬
nennung PainlevLs zum Unterrichtsminister befriedigt, die unentwegter Kirchen-
fcinde erhielten ihren Tribut durch die Berufung Combes, des alten Kultur"
lämpfers, und selbst den Klerikalen wurde ein magerer Knochen zugeworfen,
i!'.dem man ihren alten Spezialisten für auswärtige Angelegenheiten, Denys
Cochin, allerdings ohne Portefeuille, in die gemischte Gesellschaft einlud. Das
Ministerium ist aus allen Parteien zusammengesetzt, aber von einem Koalitions¬
ministerium weit entfernt. Die Radikalen herrschen, und wenn sie sich mit
anderen zusammengetan haben, so sollen ihnen diese als Schwimmblase dienen,
um das nicht sehr seetüchtige Fahrzeug über Wasser zu halten.

Die neue Negierung ist mit den üblichen hochtönenden Leitartikeln auf¬
genommen worden, aber auch mit aufrichtigen Hoffnungen und ernsten Er¬
wartungen. Sie knüpfen sich an Gattinn, der sich im September 1914, als
er Paris in Verteidigungszustand setzte, den Ruf eines hervorragenden Organi¬
sators erworben hat, und der von vielen für den eigentlichen, schmählich ver¬
kannten Sieger an der Marne gehalten wird. Briand selbst mit seiner "Si¬
renenstimme" ist nicht nur der beste Redner, sondern auch einer der klügsten
Köpfe Frankreichs, und wenn auch seine Fähigkeiten, besonders seine Energie,
vielfach angezweifelt werden, so galt es doch als ein günstiges Zeichen, daß er
seine Stunde für gekommen hielt. Man erwartete von ihm die langersehnte
"Tat", und wenn er in seiner Eröffnungsrede erklärte, der Augenblick gehöre
der Tat, so steigerte er dadurch geschickt die allgemeine Hoffnung. Eine Tat
hat er auch vollbracht, sogar eine sehr schwierige, auf die man am wenigsten
gefaßt war: er hat PoincarL in seine verfassungsmäßigen Schranken zurück¬
gewiesen. Mußte der Präsident dulden, daß ihm das verhaßte radikale Mi¬
nisterium Viviani aufgezwungen wurde, so duldete dessen schwächliche Advokaten¬
seele das persönliche Regiment des Lothringers. Briand machte dem ein Ende,
der Kampf war gewiß nicht leicht. Dagegen setzte der neue Mann die aus¬
wärtige Politik seiner Vorgänger fort, wohl aus Mangel an eigener Erfahrung
auf diesem Gebiete. Das Balkanabenteuer wurde nicht aufgegeben zum Jubel
der offiziösen Presse, deren Reigen jetzt Gustav Heros, der Jugenfreund des
Ministerpräsidenten aus längst vergangenen anarchistischen Tagen, führt. Da
die Last für Frankreich allein zu schwer war, wurde den Zeitungen der Maul¬
korb gelockert, um einen Druck auf die säumigen Bundesgenossen auszuüben.,
Beschwerden über Rußland und Italien wurden laut, die die versprochene Hilfe
nicht geleistet hätten, Beschwerden über England, das seine Verpflichtungen so
säumig und widerwillig erfülle. Man beschuldigte die britische Flotte der Un-


Die neuen Männer in Frankreich

Briand die Zahl dieser untergeordneten Minister und Zwischenträger um acht
vermehrt hat. In einer Zeit, wo der gesamte Vierverband nach einer einheit¬
lichen Leitung und einer straffen Zusammenfassung aller Kräfte schreit, wo man
in England aus dem vielköpfigen Kabinett einen kleinen Vollzugsausschuß aus¬
sondert, schlägt Frankreich den umgekehrten Weg ein und erhöhte die allseitig
begehrten Ministerstellen auf zwanzig. Die Radikalen wurden durch die Er¬
nennung PainlevLs zum Unterrichtsminister befriedigt, die unentwegter Kirchen-
fcinde erhielten ihren Tribut durch die Berufung Combes, des alten Kultur»
lämpfers, und selbst den Klerikalen wurde ein magerer Knochen zugeworfen,
i!'.dem man ihren alten Spezialisten für auswärtige Angelegenheiten, Denys
Cochin, allerdings ohne Portefeuille, in die gemischte Gesellschaft einlud. Das
Ministerium ist aus allen Parteien zusammengesetzt, aber von einem Koalitions¬
ministerium weit entfernt. Die Radikalen herrschen, und wenn sie sich mit
anderen zusammengetan haben, so sollen ihnen diese als Schwimmblase dienen,
um das nicht sehr seetüchtige Fahrzeug über Wasser zu halten.

Die neue Negierung ist mit den üblichen hochtönenden Leitartikeln auf¬
genommen worden, aber auch mit aufrichtigen Hoffnungen und ernsten Er¬
wartungen. Sie knüpfen sich an Gattinn, der sich im September 1914, als
er Paris in Verteidigungszustand setzte, den Ruf eines hervorragenden Organi¬
sators erworben hat, und der von vielen für den eigentlichen, schmählich ver¬
kannten Sieger an der Marne gehalten wird. Briand selbst mit seiner „Si¬
renenstimme" ist nicht nur der beste Redner, sondern auch einer der klügsten
Köpfe Frankreichs, und wenn auch seine Fähigkeiten, besonders seine Energie,
vielfach angezweifelt werden, so galt es doch als ein günstiges Zeichen, daß er
seine Stunde für gekommen hielt. Man erwartete von ihm die langersehnte
„Tat", und wenn er in seiner Eröffnungsrede erklärte, der Augenblick gehöre
der Tat, so steigerte er dadurch geschickt die allgemeine Hoffnung. Eine Tat
hat er auch vollbracht, sogar eine sehr schwierige, auf die man am wenigsten
gefaßt war: er hat PoincarL in seine verfassungsmäßigen Schranken zurück¬
gewiesen. Mußte der Präsident dulden, daß ihm das verhaßte radikale Mi¬
nisterium Viviani aufgezwungen wurde, so duldete dessen schwächliche Advokaten¬
seele das persönliche Regiment des Lothringers. Briand machte dem ein Ende,
der Kampf war gewiß nicht leicht. Dagegen setzte der neue Mann die aus¬
wärtige Politik seiner Vorgänger fort, wohl aus Mangel an eigener Erfahrung
auf diesem Gebiete. Das Balkanabenteuer wurde nicht aufgegeben zum Jubel
der offiziösen Presse, deren Reigen jetzt Gustav Heros, der Jugenfreund des
Ministerpräsidenten aus längst vergangenen anarchistischen Tagen, führt. Da
die Last für Frankreich allein zu schwer war, wurde den Zeitungen der Maul¬
korb gelockert, um einen Druck auf die säumigen Bundesgenossen auszuüben.,
Beschwerden über Rußland und Italien wurden laut, die die versprochene Hilfe
nicht geleistet hätten, Beschwerden über England, das seine Verpflichtungen so
säumig und widerwillig erfülle. Man beschuldigte die britische Flotte der Un-


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[0046] Die neuen Männer in Frankreich Briand die Zahl dieser untergeordneten Minister und Zwischenträger um acht vermehrt hat. In einer Zeit, wo der gesamte Vierverband nach einer einheit¬ lichen Leitung und einer straffen Zusammenfassung aller Kräfte schreit, wo man in England aus dem vielköpfigen Kabinett einen kleinen Vollzugsausschuß aus¬ sondert, schlägt Frankreich den umgekehrten Weg ein und erhöhte die allseitig begehrten Ministerstellen auf zwanzig. Die Radikalen wurden durch die Er¬ nennung PainlevLs zum Unterrichtsminister befriedigt, die unentwegter Kirchen- fcinde erhielten ihren Tribut durch die Berufung Combes, des alten Kultur» lämpfers, und selbst den Klerikalen wurde ein magerer Knochen zugeworfen, i!'.dem man ihren alten Spezialisten für auswärtige Angelegenheiten, Denys Cochin, allerdings ohne Portefeuille, in die gemischte Gesellschaft einlud. Das Ministerium ist aus allen Parteien zusammengesetzt, aber von einem Koalitions¬ ministerium weit entfernt. Die Radikalen herrschen, und wenn sie sich mit anderen zusammengetan haben, so sollen ihnen diese als Schwimmblase dienen, um das nicht sehr seetüchtige Fahrzeug über Wasser zu halten. Die neue Negierung ist mit den üblichen hochtönenden Leitartikeln auf¬ genommen worden, aber auch mit aufrichtigen Hoffnungen und ernsten Er¬ wartungen. Sie knüpfen sich an Gattinn, der sich im September 1914, als er Paris in Verteidigungszustand setzte, den Ruf eines hervorragenden Organi¬ sators erworben hat, und der von vielen für den eigentlichen, schmählich ver¬ kannten Sieger an der Marne gehalten wird. Briand selbst mit seiner „Si¬ renenstimme" ist nicht nur der beste Redner, sondern auch einer der klügsten Köpfe Frankreichs, und wenn auch seine Fähigkeiten, besonders seine Energie, vielfach angezweifelt werden, so galt es doch als ein günstiges Zeichen, daß er seine Stunde für gekommen hielt. Man erwartete von ihm die langersehnte „Tat", und wenn er in seiner Eröffnungsrede erklärte, der Augenblick gehöre der Tat, so steigerte er dadurch geschickt die allgemeine Hoffnung. Eine Tat hat er auch vollbracht, sogar eine sehr schwierige, auf die man am wenigsten gefaßt war: er hat PoincarL in seine verfassungsmäßigen Schranken zurück¬ gewiesen. Mußte der Präsident dulden, daß ihm das verhaßte radikale Mi¬ nisterium Viviani aufgezwungen wurde, so duldete dessen schwächliche Advokaten¬ seele das persönliche Regiment des Lothringers. Briand machte dem ein Ende, der Kampf war gewiß nicht leicht. Dagegen setzte der neue Mann die aus¬ wärtige Politik seiner Vorgänger fort, wohl aus Mangel an eigener Erfahrung auf diesem Gebiete. Das Balkanabenteuer wurde nicht aufgegeben zum Jubel der offiziösen Presse, deren Reigen jetzt Gustav Heros, der Jugenfreund des Ministerpräsidenten aus längst vergangenen anarchistischen Tagen, führt. Da die Last für Frankreich allein zu schwer war, wurde den Zeitungen der Maul¬ korb gelockert, um einen Druck auf die säumigen Bundesgenossen auszuüben., Beschwerden über Rußland und Italien wurden laut, die die versprochene Hilfe nicht geleistet hätten, Beschwerden über England, das seine Verpflichtungen so säumig und widerwillig erfülle. Man beschuldigte die britische Flotte der Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/46>, abgerufen am 21.05.2024.