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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Nationalkirchliche Phantasien eines Engländers

katholische Kirche von der übertriebenen Zentralisation freizumachen, die während
des Krieges solche beklagenswerte Resultate gezeitigt hat. Rußland würde
eine solche Bewegung in jeder Weise unterstützen. Die russische Religion könnte
als Vorbild für die Wiederherstellung einer autonomischen belgischen und fran¬
zösischen Nationalkirche dienen, die von päpstlicher Obstruktion befreit wäre.
Belgiens Streit ist ein Streit mit dem Papsttum als Institution. Mit
schweigender Zustimmung dieses überschätzten Heiligen Stuhls sind seine Felder
und Städte verwüstet worden. Wenn es nach dem Kriege an den Wieder¬
aufbau feiner Heimstätten und Altäre geht, wird der neutrale Papst vielleicht
finden, daß er zu lange beiseite gestanden, und daß dieses schwer duldende
Volk seinen väterlichen Rat als verspätet und unannehmbar ablehnen wird.
"Sollte eine nationale Kirche aus den Ruinen Löwens sich erheben, so wird es
die Geschichte später bestätigen, daß das belgische Volk damit den richtigen und
logischen Schluß aus seiner bitteren Erfahrung gezogen und den Schritt getan
hat, der es einzig und allein vor einer Wiederholung einer solchen Erfahrung
bewahren kann."

Soweit R. B. Sheridans Darlegungen, die, wenn wir nicht irren, in
Deutschland und Österreich noch wenig oder vielleicht gar nicht bekannt geworden
sind. Es kann dahingestellt bleiben, in welchem Umfang aus ihnen ein einzelner
oder ein größerer Kreis von Gesinnungsgenossen spricht -- möglicherweise hat
der Verfasser mit diesem oder jenem nach England geflohenen Belgier Rück¬
sprache genommen --, jedenfalls verraten auch sie, wie tiefe Furchen die Pflug¬
schar des Weltkrieges zwischen dem Gestern und dem Morgen gezogen sse, um
alte Brücken zwischen den Nationen einzureißen und an neue, andere denken
zu lassen.

Seit dem Erscheinen des Aufsatzes ist der Traum eines größeren Serbien wie
eine Seifenblase zerplatzt; ob England und Frankreich noch in der Folge ihre
Truppen für Rußland bluten lassen wollen, um dem Zaren die Herrschaft über
Konstantinopel zu verschaffen, steht in weitem Felde. Jede Erörterung über
die Stellungnahme des gegenwärtigen Papstes -- er wurde am 4. September 1914
gewählt -- zu den einzelnen Kriegshandlnngen sei vermieden, wenngleich bemerkt
werden mag, daß Sheridan mit keinem Worte der Kriegserklärung Italiens an
Österreich vom 23. Mai 1915 und der dadurch wesentlich beeinflußten Lage
Benedikts des Fünfzehnten gedenkt*). Unbedingt spricht aus dem Artikel ein
Mann, dessen Kenntnisse vom inneren Wesen des Papsttums schlechthin stümper¬
haft zu nennen find; seine ironisch klingenden Ausfälle auf die päpstliche Un¬
fehlbarkeit verraten, gelinde gesagt, naive Harmlosigkeit, da sie nicht berück¬
sichtigen, wie gerade das Dogma von der Jnfallibilität jedem Nachfolger Petri



*) Vergl. darüber I, Bachem in den Süddeutschen Monatsheften 1916 (Juni) S. 454 ff.
Ä. Hilgenreiner, die römische Frage nach dem Weltkrieg. Prag 1916. Unmittelbar nach
Abschluß des Manuskripts wurde die Ansprache des Papstes im Konsistorium am 6. De¬
zember 1916 veröffentlicht.
Nationalkirchliche Phantasien eines Engländers

katholische Kirche von der übertriebenen Zentralisation freizumachen, die während
des Krieges solche beklagenswerte Resultate gezeitigt hat. Rußland würde
eine solche Bewegung in jeder Weise unterstützen. Die russische Religion könnte
als Vorbild für die Wiederherstellung einer autonomischen belgischen und fran¬
zösischen Nationalkirche dienen, die von päpstlicher Obstruktion befreit wäre.
Belgiens Streit ist ein Streit mit dem Papsttum als Institution. Mit
schweigender Zustimmung dieses überschätzten Heiligen Stuhls sind seine Felder
und Städte verwüstet worden. Wenn es nach dem Kriege an den Wieder¬
aufbau feiner Heimstätten und Altäre geht, wird der neutrale Papst vielleicht
finden, daß er zu lange beiseite gestanden, und daß dieses schwer duldende
Volk seinen väterlichen Rat als verspätet und unannehmbar ablehnen wird.
„Sollte eine nationale Kirche aus den Ruinen Löwens sich erheben, so wird es
die Geschichte später bestätigen, daß das belgische Volk damit den richtigen und
logischen Schluß aus seiner bitteren Erfahrung gezogen und den Schritt getan
hat, der es einzig und allein vor einer Wiederholung einer solchen Erfahrung
bewahren kann."

Soweit R. B. Sheridans Darlegungen, die, wenn wir nicht irren, in
Deutschland und Österreich noch wenig oder vielleicht gar nicht bekannt geworden
sind. Es kann dahingestellt bleiben, in welchem Umfang aus ihnen ein einzelner
oder ein größerer Kreis von Gesinnungsgenossen spricht — möglicherweise hat
der Verfasser mit diesem oder jenem nach England geflohenen Belgier Rück¬
sprache genommen —, jedenfalls verraten auch sie, wie tiefe Furchen die Pflug¬
schar des Weltkrieges zwischen dem Gestern und dem Morgen gezogen sse, um
alte Brücken zwischen den Nationen einzureißen und an neue, andere denken
zu lassen.

Seit dem Erscheinen des Aufsatzes ist der Traum eines größeren Serbien wie
eine Seifenblase zerplatzt; ob England und Frankreich noch in der Folge ihre
Truppen für Rußland bluten lassen wollen, um dem Zaren die Herrschaft über
Konstantinopel zu verschaffen, steht in weitem Felde. Jede Erörterung über
die Stellungnahme des gegenwärtigen Papstes — er wurde am 4. September 1914
gewählt — zu den einzelnen Kriegshandlnngen sei vermieden, wenngleich bemerkt
werden mag, daß Sheridan mit keinem Worte der Kriegserklärung Italiens an
Österreich vom 23. Mai 1915 und der dadurch wesentlich beeinflußten Lage
Benedikts des Fünfzehnten gedenkt*). Unbedingt spricht aus dem Artikel ein
Mann, dessen Kenntnisse vom inneren Wesen des Papsttums schlechthin stümper¬
haft zu nennen find; seine ironisch klingenden Ausfälle auf die päpstliche Un¬
fehlbarkeit verraten, gelinde gesagt, naive Harmlosigkeit, da sie nicht berück¬
sichtigen, wie gerade das Dogma von der Jnfallibilität jedem Nachfolger Petri



*) Vergl. darüber I, Bachem in den Süddeutschen Monatsheften 1916 (Juni) S. 454 ff.
Ä. Hilgenreiner, die römische Frage nach dem Weltkrieg. Prag 1916. Unmittelbar nach
Abschluß des Manuskripts wurde die Ansprache des Papstes im Konsistorium am 6. De¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/79>, abgerufen am 14.06.2024.