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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

stück davon darbieten, so. wie es sich in meinen Augen spiegelt, aber ich will
es umso sorgfältiger darstellen, als in jenem Material auch ein Stück unserer
polnischen Wirklichkeit enthalten ist. ein so trauriges und für unser Los so be¬
zeichnendes Stück!

Ich übergehe das allzu Bittere und Traurige dieses Bruchstückes des
polnischen Geschicks. Zusammen mit den Erfahrungen, mit denen ich meine
Eindrücke erkaufte, schöpfe ich daraus das moralische Recht, in dieser Sache
das Wort zu ergreifen.

Keine europäische Hauptstadt kann sich einer solchen Mannigfaltigkeit der
Nationen, Stämme, Rassen und Abarten der Menschen rühmen wie das erste
beste Gefangenenlager in Deutschland. Der Russe neben dem Engländer, der
Kanadier neben dem Tungusen. der Australier. Franzose. Araber. Ire neben
dem Mohren, der Talar, Litauer. Pole. Jude. Ruthene, Marokkaner: alle
Hautfarben, alle Stufen der Zivilisation, alle geographischen Breiten, alle Re¬
ligionen der Erde, lediglich durch Strenge zusammengehalten geben sie sich in
der deutschen Gefangenschaft ein Stelldichein. Erst im Gefangenenlager sieht
man plastisch, mit wem die Zentralmächte Krieg führen: mit der ganzen Welt.
Erst dort sieht man die Macht der Koalition -- sich wiederspiegelnd in der
Größe ihrer Niederlagen. Dort sieht man, mit wie unzähligem Aufgebot von
Stämmen und Völkern der meer" und landerschütternde englische und der
russische Vulkan gegen Mitteleuropa losgebrochen sind.

Die erste Stelle in der Galerie der Lagertypen gebührt in jeder Hinsicht
den Engländern. Beim ersten Blick erkennt man in ihnen die Stütze und
Triebfeder der Koalition. Nicht zahlreich, soweit es sich um die eingeborenen
Söhne Albions handelt, stolz abgeschlossen in ihrem eigenen heimatlichen Kreis,
Personifizieren sie eine der seltensten Charaktereigenschaften beim Menschen: den
vollendeten und abgeklärten Egoismus. Ich will damit nicht sagen, daß andere
Nationen frei von Egoismus oder weniger egoistisch wären als die Engländer.
Ein nicht geringerer Egoist in dem Gefangenenlager ist der Franzose, aber der
Engländer ist mit einem besonderen Egoismus begabt, der entstanden und ge¬
diehen ist auf dem Rücken niederer Nassen, die England sich unterworfen und
tributpflichtig gemacht hat. Dank diesem ist der Engländer in jeder Bewegung
und in jedem Schritt der Mann, der sich als Vorgesetzter betrachtet. Er trägt,
wo immer er sich befindet, das angeborene Gefühl der Überlegenheit in sich.
Er macht keinen Hehl aus den Privilegien, deren er sich erfreut. Er greift
nach ihnen wie nach einer Selbstverständlichkeit. Man sieht, daß die Macht
für ihn kein Alkohol war, der ihn der Besinnung beraubte, sondern das täg¬
liche Brot, die tägliche Lebensnahrung.

Alle Gegenstände der Liebe sind für den Engländer Gegenstände der
Berechnung geworden. Vor allem der Patriotismus. Der Patriotismus des
Engländers beruht auf einem äußerst abgewogenen Austausch von Diensten
zwischen dem Bürger und dem Staat. Der gegenwärtige Krieg ist für Eng-


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Deutschland und die Koalition

stück davon darbieten, so. wie es sich in meinen Augen spiegelt, aber ich will
es umso sorgfältiger darstellen, als in jenem Material auch ein Stück unserer
polnischen Wirklichkeit enthalten ist. ein so trauriges und für unser Los so be¬
zeichnendes Stück!

Ich übergehe das allzu Bittere und Traurige dieses Bruchstückes des
polnischen Geschicks. Zusammen mit den Erfahrungen, mit denen ich meine
Eindrücke erkaufte, schöpfe ich daraus das moralische Recht, in dieser Sache
das Wort zu ergreifen.

Keine europäische Hauptstadt kann sich einer solchen Mannigfaltigkeit der
Nationen, Stämme, Rassen und Abarten der Menschen rühmen wie das erste
beste Gefangenenlager in Deutschland. Der Russe neben dem Engländer, der
Kanadier neben dem Tungusen. der Australier. Franzose. Araber. Ire neben
dem Mohren, der Talar, Litauer. Pole. Jude. Ruthene, Marokkaner: alle
Hautfarben, alle Stufen der Zivilisation, alle geographischen Breiten, alle Re¬
ligionen der Erde, lediglich durch Strenge zusammengehalten geben sie sich in
der deutschen Gefangenschaft ein Stelldichein. Erst im Gefangenenlager sieht
man plastisch, mit wem die Zentralmächte Krieg führen: mit der ganzen Welt.
Erst dort sieht man die Macht der Koalition — sich wiederspiegelnd in der
Größe ihrer Niederlagen. Dort sieht man, mit wie unzähligem Aufgebot von
Stämmen und Völkern der meer» und landerschütternde englische und der
russische Vulkan gegen Mitteleuropa losgebrochen sind.

Die erste Stelle in der Galerie der Lagertypen gebührt in jeder Hinsicht
den Engländern. Beim ersten Blick erkennt man in ihnen die Stütze und
Triebfeder der Koalition. Nicht zahlreich, soweit es sich um die eingeborenen
Söhne Albions handelt, stolz abgeschlossen in ihrem eigenen heimatlichen Kreis,
Personifizieren sie eine der seltensten Charaktereigenschaften beim Menschen: den
vollendeten und abgeklärten Egoismus. Ich will damit nicht sagen, daß andere
Nationen frei von Egoismus oder weniger egoistisch wären als die Engländer.
Ein nicht geringerer Egoist in dem Gefangenenlager ist der Franzose, aber der
Engländer ist mit einem besonderen Egoismus begabt, der entstanden und ge¬
diehen ist auf dem Rücken niederer Nassen, die England sich unterworfen und
tributpflichtig gemacht hat. Dank diesem ist der Engländer in jeder Bewegung
und in jedem Schritt der Mann, der sich als Vorgesetzter betrachtet. Er trägt,
wo immer er sich befindet, das angeborene Gefühl der Überlegenheit in sich.
Er macht keinen Hehl aus den Privilegien, deren er sich erfreut. Er greift
nach ihnen wie nach einer Selbstverständlichkeit. Man sieht, daß die Macht
für ihn kein Alkohol war, der ihn der Besinnung beraubte, sondern das täg¬
liche Brot, die tägliche Lebensnahrung.

Alle Gegenstände der Liebe sind für den Engländer Gegenstände der
Berechnung geworden. Vor allem der Patriotismus. Der Patriotismus des
Engländers beruht auf einem äußerst abgewogenen Austausch von Diensten
zwischen dem Bürger und dem Staat. Der gegenwärtige Krieg ist für Eng-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/15>, abgerufen am 19.05.2024.