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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

rungen und die Sehnsucht, alles das ist zu erwerben, alles das ist zu verkaufen.
So weckt denn auch eine Unterhaltung mit dem Engländer in seiner eisigen
Kühle im Polen Nüchternheit und Begriff für die furchtbare Wirklichkeit, das
Geschwätz herzloser französischer Phraseologie aber erweckt den Eindruck des
Abscheus, den man von sich abschütteln muß wie die Umklammerung durch ein
unsauberes Spinngewebe.

Unbeschadet jedoch ihrer Fehler und Tugenden bilden Engländer und
Franzosen zusammengenommen in dem Lager der Kriegsgefangenen dank ihrer
materiellen und kulturellen Lage unbestreitbar die Aristokratie. Genau genommen
bilden sie die Bourgeoisie dieser Lager, unter der sich, wie in der wirklichen
Gesellschaft, das Proletariat ausbreitet, eine Sammelstätte von Unbildung.
Armut und Bitterkeit. Die zur Gefangenschaft verurteilten Engländer und
Franzosen nähren und kleiden sich nicht nur gut, sondern sie gehen auch jeden
Sonn- und Feiertag zu dem von ihnen improvisierten Theater, wo sie heitere
Komödien hören und lustige Karrikaturen anschauen, sich unterhalten und sich dem
Zauber des heimatlichen Witzes hingeben. Sie beschwören die Seele der Pariser
Boulevards, und mit den Wellen der Musik eilen sie ihrer stolzen Heimat zu,
besuchen im Traume das Innere ihrer Häuser, profitieren von dem Kapital
ihrer Kultur und, wie überhaupt Kapitalisten, gehen immer noch mit einer Waffe
aus einer Lage hervor, die für andere eine Lage ohne Ausgang ist.

Die anderen -- vor allem die Russen -- die unzähligen Scharen
russischer Gefangenen, blinde Splitter jener Dampfwalze, die bei Lodz und an
den Pässen und Kämmen der Karpathen zerschmetterte und mit den Splittern
ihres Mißgeschicks die ganze Ebene vom Dunajec bis zum Bug und Narew
besäte. Der Russe im Gefangenenlager ist der geborene Proletarier, der
arme Teufel, der aus Natur und Anlage in der demütigen Haltung des
Dieners gegenüber jeder Macht und jeder Wohlhabenheit dasteht. Das ist
nicht einmal der aufrührerische Proletarier, ärgerlich im Gefühle des ihm an-
getanen Unrechts, stolz auf seine Armut, den Reichtum wie eine Schwäche und
Ehre wie ein Spielzeug von sich weisend. Der Russe in der deutschen Ge¬
fangenschaft mit seinen westlichen Bundesgenossen, dem Engländer oder Fran¬
zosen zusammentreffend, begrüßt sie instinktiv als seine Herren: der Franzose
oder Engländer ist für den Russen vor allem "darin" (Herr). Wenn der
Franzose seine reichlichen Vorräte und Leckerbissen verzehrt, die Woche für
Woche in zierlichen Büchsen ans Paris und London kommen, so steht der Russe
hinter seiner Bank mit dem demütig gebeugten Nacken, der das ewige Merkmal
der geborenen Knechtschaft ist. Man sieht, daß er schon Sklave war, als er
in die deutsche Gefangenschaft geriet. Der Stand der Gefangenschaft ruft im
Leben des Russen keine moralischen Erschütterungen hervor, er bedeutet nur
eine Änderung des Systems. Dank dem fühlt sich der Russe -- und er unter
allen ganz allein -- nicht gedemütigt durch die Gefangennahme. Sein Nacken
wurde nicht gebeugt, weil er schon vordem gebrochen war. Wenn er die


Deutschland und die Koalition

rungen und die Sehnsucht, alles das ist zu erwerben, alles das ist zu verkaufen.
So weckt denn auch eine Unterhaltung mit dem Engländer in seiner eisigen
Kühle im Polen Nüchternheit und Begriff für die furchtbare Wirklichkeit, das
Geschwätz herzloser französischer Phraseologie aber erweckt den Eindruck des
Abscheus, den man von sich abschütteln muß wie die Umklammerung durch ein
unsauberes Spinngewebe.

Unbeschadet jedoch ihrer Fehler und Tugenden bilden Engländer und
Franzosen zusammengenommen in dem Lager der Kriegsgefangenen dank ihrer
materiellen und kulturellen Lage unbestreitbar die Aristokratie. Genau genommen
bilden sie die Bourgeoisie dieser Lager, unter der sich, wie in der wirklichen
Gesellschaft, das Proletariat ausbreitet, eine Sammelstätte von Unbildung.
Armut und Bitterkeit. Die zur Gefangenschaft verurteilten Engländer und
Franzosen nähren und kleiden sich nicht nur gut, sondern sie gehen auch jeden
Sonn- und Feiertag zu dem von ihnen improvisierten Theater, wo sie heitere
Komödien hören und lustige Karrikaturen anschauen, sich unterhalten und sich dem
Zauber des heimatlichen Witzes hingeben. Sie beschwören die Seele der Pariser
Boulevards, und mit den Wellen der Musik eilen sie ihrer stolzen Heimat zu,
besuchen im Traume das Innere ihrer Häuser, profitieren von dem Kapital
ihrer Kultur und, wie überhaupt Kapitalisten, gehen immer noch mit einer Waffe
aus einer Lage hervor, die für andere eine Lage ohne Ausgang ist.

Die anderen — vor allem die Russen — die unzähligen Scharen
russischer Gefangenen, blinde Splitter jener Dampfwalze, die bei Lodz und an
den Pässen und Kämmen der Karpathen zerschmetterte und mit den Splittern
ihres Mißgeschicks die ganze Ebene vom Dunajec bis zum Bug und Narew
besäte. Der Russe im Gefangenenlager ist der geborene Proletarier, der
arme Teufel, der aus Natur und Anlage in der demütigen Haltung des
Dieners gegenüber jeder Macht und jeder Wohlhabenheit dasteht. Das ist
nicht einmal der aufrührerische Proletarier, ärgerlich im Gefühle des ihm an-
getanen Unrechts, stolz auf seine Armut, den Reichtum wie eine Schwäche und
Ehre wie ein Spielzeug von sich weisend. Der Russe in der deutschen Ge¬
fangenschaft mit seinen westlichen Bundesgenossen, dem Engländer oder Fran¬
zosen zusammentreffend, begrüßt sie instinktiv als seine Herren: der Franzose
oder Engländer ist für den Russen vor allem „darin" (Herr). Wenn der
Franzose seine reichlichen Vorräte und Leckerbissen verzehrt, die Woche für
Woche in zierlichen Büchsen ans Paris und London kommen, so steht der Russe
hinter seiner Bank mit dem demütig gebeugten Nacken, der das ewige Merkmal
der geborenen Knechtschaft ist. Man sieht, daß er schon Sklave war, als er
in die deutsche Gefangenschaft geriet. Der Stand der Gefangenschaft ruft im
Leben des Russen keine moralischen Erschütterungen hervor, er bedeutet nur
eine Änderung des Systems. Dank dem fühlt sich der Russe — und er unter
allen ganz allein — nicht gedemütigt durch die Gefangennahme. Sein Nacken
wurde nicht gebeugt, weil er schon vordem gebrochen war. Wenn er die


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[0019] Deutschland und die Koalition rungen und die Sehnsucht, alles das ist zu erwerben, alles das ist zu verkaufen. So weckt denn auch eine Unterhaltung mit dem Engländer in seiner eisigen Kühle im Polen Nüchternheit und Begriff für die furchtbare Wirklichkeit, das Geschwätz herzloser französischer Phraseologie aber erweckt den Eindruck des Abscheus, den man von sich abschütteln muß wie die Umklammerung durch ein unsauberes Spinngewebe. Unbeschadet jedoch ihrer Fehler und Tugenden bilden Engländer und Franzosen zusammengenommen in dem Lager der Kriegsgefangenen dank ihrer materiellen und kulturellen Lage unbestreitbar die Aristokratie. Genau genommen bilden sie die Bourgeoisie dieser Lager, unter der sich, wie in der wirklichen Gesellschaft, das Proletariat ausbreitet, eine Sammelstätte von Unbildung. Armut und Bitterkeit. Die zur Gefangenschaft verurteilten Engländer und Franzosen nähren und kleiden sich nicht nur gut, sondern sie gehen auch jeden Sonn- und Feiertag zu dem von ihnen improvisierten Theater, wo sie heitere Komödien hören und lustige Karrikaturen anschauen, sich unterhalten und sich dem Zauber des heimatlichen Witzes hingeben. Sie beschwören die Seele der Pariser Boulevards, und mit den Wellen der Musik eilen sie ihrer stolzen Heimat zu, besuchen im Traume das Innere ihrer Häuser, profitieren von dem Kapital ihrer Kultur und, wie überhaupt Kapitalisten, gehen immer noch mit einer Waffe aus einer Lage hervor, die für andere eine Lage ohne Ausgang ist. Die anderen — vor allem die Russen — die unzähligen Scharen russischer Gefangenen, blinde Splitter jener Dampfwalze, die bei Lodz und an den Pässen und Kämmen der Karpathen zerschmetterte und mit den Splittern ihres Mißgeschicks die ganze Ebene vom Dunajec bis zum Bug und Narew besäte. Der Russe im Gefangenenlager ist der geborene Proletarier, der arme Teufel, der aus Natur und Anlage in der demütigen Haltung des Dieners gegenüber jeder Macht und jeder Wohlhabenheit dasteht. Das ist nicht einmal der aufrührerische Proletarier, ärgerlich im Gefühle des ihm an- getanen Unrechts, stolz auf seine Armut, den Reichtum wie eine Schwäche und Ehre wie ein Spielzeug von sich weisend. Der Russe in der deutschen Ge¬ fangenschaft mit seinen westlichen Bundesgenossen, dem Engländer oder Fran¬ zosen zusammentreffend, begrüßt sie instinktiv als seine Herren: der Franzose oder Engländer ist für den Russen vor allem „darin" (Herr). Wenn der Franzose seine reichlichen Vorräte und Leckerbissen verzehrt, die Woche für Woche in zierlichen Büchsen ans Paris und London kommen, so steht der Russe hinter seiner Bank mit dem demütig gebeugten Nacken, der das ewige Merkmal der geborenen Knechtschaft ist. Man sieht, daß er schon Sklave war, als er in die deutsche Gefangenschaft geriet. Der Stand der Gefangenschaft ruft im Leben des Russen keine moralischen Erschütterungen hervor, er bedeutet nur eine Änderung des Systems. Dank dem fühlt sich der Russe — und er unter allen ganz allein — nicht gedemütigt durch die Gefangennahme. Sein Nacken wurde nicht gebeugt, weil er schon vordem gebrochen war. Wenn er die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/19>, abgerufen am 26.05.2024.