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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

auf den Rücken. Es gibt nichts Gewohnteres im Gefangenenlager als den
Anblick von Soldaten, die behaupten, sie hätten sich in deutsche Gefangenschaft
begeben, um nicht durch die russische Artillerie zugrunde zu gehen.

Wir Polen wissen, was aus dem Manifest Nikolais geworden ist: ein
Fetzen Papier, mit dem man in Polen anderthalb tausend Dörfer ansteckte, so
unbekümmert, wie man während des Krieges kaum eine Zigarre anzündet.
Aber feien wir uns überdies auch bewußt, daß damit der russische Staat hinter
sich auch eigenhändig die Brücke zur Rückkehr nach Polen verbrannt hat, daß
heute ein blutiger Abgrund klafft zwischen ihm und der Gesamtheit der unter¬
jochten Völker.

So habe ich denn auch trotz aller Enttäuschungen und Überraschungen, die
uns der Krieg bereitet hat, persönlich aus feinem ganzen Verlauf die für mich
von Anfang an feststehende Überzeugung gewonnen, eine Überzeugung, die
freilich im Gefangenenlager noch durch neue Beweise verstärkt wurde, die nämlich,
daß Rußland als Macht vollständig zur Auflösung reif ist. Diesen Gedanken
habe ich schon vor dem Kriege gehegt als eine Verheißung unserer Zukunft und
habe ihn in der galizischen Presse verbreitet. Jetzt hatte ich die Möglichkeit,
festzustellen, daß das, was eine Vermutung war. sich zur Wirklichkeit gestaltet.
Der russische Staat hatte in sich kein anderes Band außer dem Band der
Bürokratie. Er erhielt sich nicht durch einen inneren organischen Zusammen¬
hang, sondern durch einen eisernen Ring, den er von außen aufdrückte. So
war denn auch der Zusammenhalt Rußlands und sogar seine Existenz nicht
denkbar ohne die Existenz dieses Druckes. Die Wegnahme dieses Ringes würde
die Auflösung der Elemente seines Bestandes bedeuten. Ein Kenner Ru߬
lands charakterisierte es als ein System, bei dem ein Teil der Bevölkerung den
anderen Teil der Bevölkerung überwacht, als ein System also, demzufolge man
in Rußland entweder Sträfling oder Gefängniswärter ist. "^ertium non alatur".
So ist es in der Tat. Daraus ergibt sich jedoch die unmittelbare Folgerung:
von diesem Nußland könnte man an seinem Westrande einige Dutzend Millionen
der Bevölkerung abschneiden, ganz unbesorgt darum, daß auch nur ein Mann
von jenen Millionen einen Finger rühren würde, um unter das Szepter der
Zaren zurückzukehren. Diese riesige Länderstrecke, einst von der polnischen
Republik erbeutet, wird sich, wenn sie nur einmal von Rußland losgerissen wird,
nicht zu einer Jrredenta hergeben, wird nicht den Gedanken der Rückkehr der
slawischen Ströme in das russische Meer pflegen. (?)

Als der eiserne Ring des Zarats unter dem Stoß des Zweibundes im
vergangenen Jahre am Dunajec barst, lag Rußland auf dem Kampfplatz wie
eine auseinandergestreute Garbe. Und die russische Bürokratie kann heute alle
Mittel und Wege aufbieten: sie kann noch einmal ein Judenpogrom inszenieren,
kann beim Vater Heliodor ein Wunder bestellen, kann den orthodoxen Fanatismus
entfesseln, kann die Duma auseinanderjagen, aber alle diese Bemühungen werden
erfolglos bleiben. In dem Augenblick, da das den Ring von außen zusammen-


Deutschland und die Koalition

auf den Rücken. Es gibt nichts Gewohnteres im Gefangenenlager als den
Anblick von Soldaten, die behaupten, sie hätten sich in deutsche Gefangenschaft
begeben, um nicht durch die russische Artillerie zugrunde zu gehen.

Wir Polen wissen, was aus dem Manifest Nikolais geworden ist: ein
Fetzen Papier, mit dem man in Polen anderthalb tausend Dörfer ansteckte, so
unbekümmert, wie man während des Krieges kaum eine Zigarre anzündet.
Aber feien wir uns überdies auch bewußt, daß damit der russische Staat hinter
sich auch eigenhändig die Brücke zur Rückkehr nach Polen verbrannt hat, daß
heute ein blutiger Abgrund klafft zwischen ihm und der Gesamtheit der unter¬
jochten Völker.

So habe ich denn auch trotz aller Enttäuschungen und Überraschungen, die
uns der Krieg bereitet hat, persönlich aus feinem ganzen Verlauf die für mich
von Anfang an feststehende Überzeugung gewonnen, eine Überzeugung, die
freilich im Gefangenenlager noch durch neue Beweise verstärkt wurde, die nämlich,
daß Rußland als Macht vollständig zur Auflösung reif ist. Diesen Gedanken
habe ich schon vor dem Kriege gehegt als eine Verheißung unserer Zukunft und
habe ihn in der galizischen Presse verbreitet. Jetzt hatte ich die Möglichkeit,
festzustellen, daß das, was eine Vermutung war. sich zur Wirklichkeit gestaltet.
Der russische Staat hatte in sich kein anderes Band außer dem Band der
Bürokratie. Er erhielt sich nicht durch einen inneren organischen Zusammen¬
hang, sondern durch einen eisernen Ring, den er von außen aufdrückte. So
war denn auch der Zusammenhalt Rußlands und sogar seine Existenz nicht
denkbar ohne die Existenz dieses Druckes. Die Wegnahme dieses Ringes würde
die Auflösung der Elemente seines Bestandes bedeuten. Ein Kenner Ru߬
lands charakterisierte es als ein System, bei dem ein Teil der Bevölkerung den
anderen Teil der Bevölkerung überwacht, als ein System also, demzufolge man
in Rußland entweder Sträfling oder Gefängniswärter ist. „^ertium non alatur".
So ist es in der Tat. Daraus ergibt sich jedoch die unmittelbare Folgerung:
von diesem Nußland könnte man an seinem Westrande einige Dutzend Millionen
der Bevölkerung abschneiden, ganz unbesorgt darum, daß auch nur ein Mann
von jenen Millionen einen Finger rühren würde, um unter das Szepter der
Zaren zurückzukehren. Diese riesige Länderstrecke, einst von der polnischen
Republik erbeutet, wird sich, wenn sie nur einmal von Rußland losgerissen wird,
nicht zu einer Jrredenta hergeben, wird nicht den Gedanken der Rückkehr der
slawischen Ströme in das russische Meer pflegen. (?)

Als der eiserne Ring des Zarats unter dem Stoß des Zweibundes im
vergangenen Jahre am Dunajec barst, lag Rußland auf dem Kampfplatz wie
eine auseinandergestreute Garbe. Und die russische Bürokratie kann heute alle
Mittel und Wege aufbieten: sie kann noch einmal ein Judenpogrom inszenieren,
kann beim Vater Heliodor ein Wunder bestellen, kann den orthodoxen Fanatismus
entfesseln, kann die Duma auseinanderjagen, aber alle diese Bemühungen werden
erfolglos bleiben. In dem Augenblick, da das den Ring von außen zusammen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/23>, abgerufen am 26.05.2024.