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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Religion und Volk

Wechsel zu stabilieren."*) Den höchsten Wert für die Entwicklung der Menschheit
hat natürlich der Wille, der selbst die Opferung des einzelnen Lebens nicht
scheut und sich auf das Bestehen einer mystisch gefühlten Gemeinschaft richtet
und so die Welt bezwingt, statt sich von ihr besiegen zu lassen.

Es besteht kein Zweifel, daß wir den zuletzt angedeuteten Seelenzustand
auch in Friedenszeiten, in der unbeeinflußten Ruhe gleichmäßiger Empfindungen
als den erhabensten bezeichnet hätten; auch als den, der unserem gesteigerten
Bedürfnis nach Verinnerlichung des religiösen Gefühls und der gegenwärtigen
Auffassung von der Überwindung der Wirklichkeit am meisten entspricht.

Wir überlassen den Selbsterhaltungstrieb in seiner einfachsten Form niederen
Kulturstufen und schwächeren Naturen, wenn wir uns auch seiner als einer
Augenblicksstimmung nicht immer frei fühlen. Wir vermögen auch heute nicht
mehr dauernd in Abkehr von der Welt und in Andacht vor ewigem Frieden
und Ruhe zu versinken. Denn eine solche Nichtachtung der Welt, die alles
Irdische nur annimmt als Vorbereitung auf künftige himmlische Glückseligkeit,
würde zum Pessimismus, zur Askese führen. Einer solchen Lebensverneinung
find wir heute nicht mehr fähig. Sondern dem Zeitalter der technischen Siege,
dem gesteigerten menschlichen Kraftbewußtsein entspricht die geistige Durch¬
dringung und Besiegung der bewußtgewordencn Dinge, die "Weltüberlegenheit"
(Gucken), der Glaube an selbständiges, von aller Gegenständlichkeit freies, d. h.
ewiges geistiges Leben. In der Gestaltung der Arbeit zu einer wirkenden,
beseelten Einheit wird uns der göttliche Geist in täglicher Schöpferkraft sichtbar.

Es ist nicht zu leugnen, daß eine solche mehr philosophische Gesinnung,
der noch dazu der äußere Halt, der feste Jdeenkreis fehlt, allzu abstrakt ist, um
auf das religiöse Leben bestimmend einzuwirken. Zur werbenden Kraft und
sinnlichen Anschauung hat ihr aber der Krieg verholfen; er hat dem Drang
nach dem Unendlichen greifbare Möglichkeit und aussichtsvolle Erfüllbarkeit
ljeqeben. Denn in dem Ringen zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen
erscheint die Fortdauer des eigenen Volkes als die Ewigkeit, der wir nachstreben
können, und als Trost und Sinn des Opfers und der Ausdauer. Der Geist
der Gemeinschaft, die wir Volk nennen, ist das Überdauernde, in dem der
einzelne, der sich als Teil dieser Gesamtheit bewußt wird, seine geistige
Unsterblichkeit findet.

Es scheint mir, als ob dieses Bewußtwerden gerade der Gewinn dieses
Krieges ist, der jedem zu zeigen vermag, daß wir nicht nur um unser materielles



*) Diesen Widerstand gegen die Vergänglichkeit des geistigen und körperlichen Lebens
kann man den Psychologischen Ursprung der Religion nennen. Mit Klarheit und Tiefe hat
Carl Becker in seinem gedankenreichen Buche "Religion in Vergangenheit und Gegenwart"
(Berlin, Hugo Steinitz Verlag, 1916) diese Deutung des menschlichen "Triebes zur Religion"
begreiflich gemacht. Auch bei ihm wird man in jenem Kapitel ähnliche drei Stufen wieder¬
finden, nur rückt er sie in eine geschichtliche Perspektive und deckt ihren Entwicklungsgang in
der Welt auf.
Religion und Volk

Wechsel zu stabilieren."*) Den höchsten Wert für die Entwicklung der Menschheit
hat natürlich der Wille, der selbst die Opferung des einzelnen Lebens nicht
scheut und sich auf das Bestehen einer mystisch gefühlten Gemeinschaft richtet
und so die Welt bezwingt, statt sich von ihr besiegen zu lassen.

Es besteht kein Zweifel, daß wir den zuletzt angedeuteten Seelenzustand
auch in Friedenszeiten, in der unbeeinflußten Ruhe gleichmäßiger Empfindungen
als den erhabensten bezeichnet hätten; auch als den, der unserem gesteigerten
Bedürfnis nach Verinnerlichung des religiösen Gefühls und der gegenwärtigen
Auffassung von der Überwindung der Wirklichkeit am meisten entspricht.

Wir überlassen den Selbsterhaltungstrieb in seiner einfachsten Form niederen
Kulturstufen und schwächeren Naturen, wenn wir uns auch seiner als einer
Augenblicksstimmung nicht immer frei fühlen. Wir vermögen auch heute nicht
mehr dauernd in Abkehr von der Welt und in Andacht vor ewigem Frieden
und Ruhe zu versinken. Denn eine solche Nichtachtung der Welt, die alles
Irdische nur annimmt als Vorbereitung auf künftige himmlische Glückseligkeit,
würde zum Pessimismus, zur Askese führen. Einer solchen Lebensverneinung
find wir heute nicht mehr fähig. Sondern dem Zeitalter der technischen Siege,
dem gesteigerten menschlichen Kraftbewußtsein entspricht die geistige Durch¬
dringung und Besiegung der bewußtgewordencn Dinge, die „Weltüberlegenheit"
(Gucken), der Glaube an selbständiges, von aller Gegenständlichkeit freies, d. h.
ewiges geistiges Leben. In der Gestaltung der Arbeit zu einer wirkenden,
beseelten Einheit wird uns der göttliche Geist in täglicher Schöpferkraft sichtbar.

Es ist nicht zu leugnen, daß eine solche mehr philosophische Gesinnung,
der noch dazu der äußere Halt, der feste Jdeenkreis fehlt, allzu abstrakt ist, um
auf das religiöse Leben bestimmend einzuwirken. Zur werbenden Kraft und
sinnlichen Anschauung hat ihr aber der Krieg verholfen; er hat dem Drang
nach dem Unendlichen greifbare Möglichkeit und aussichtsvolle Erfüllbarkeit
ljeqeben. Denn in dem Ringen zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen
erscheint die Fortdauer des eigenen Volkes als die Ewigkeit, der wir nachstreben
können, und als Trost und Sinn des Opfers und der Ausdauer. Der Geist
der Gemeinschaft, die wir Volk nennen, ist das Überdauernde, in dem der
einzelne, der sich als Teil dieser Gesamtheit bewußt wird, seine geistige
Unsterblichkeit findet.

Es scheint mir, als ob dieses Bewußtwerden gerade der Gewinn dieses
Krieges ist, der jedem zu zeigen vermag, daß wir nicht nur um unser materielles



*) Diesen Widerstand gegen die Vergänglichkeit des geistigen und körperlichen Lebens
kann man den Psychologischen Ursprung der Religion nennen. Mit Klarheit und Tiefe hat
Carl Becker in seinem gedankenreichen Buche „Religion in Vergangenheit und Gegenwart"
(Berlin, Hugo Steinitz Verlag, 1916) diese Deutung des menschlichen „Triebes zur Religion"
begreiflich gemacht. Auch bei ihm wird man in jenem Kapitel ähnliche drei Stufen wieder¬
finden, nur rückt er sie in eine geschichtliche Perspektive und deckt ihren Entwicklungsgang in
der Welt auf.
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[0103] Religion und Volk Wechsel zu stabilieren."*) Den höchsten Wert für die Entwicklung der Menschheit hat natürlich der Wille, der selbst die Opferung des einzelnen Lebens nicht scheut und sich auf das Bestehen einer mystisch gefühlten Gemeinschaft richtet und so die Welt bezwingt, statt sich von ihr besiegen zu lassen. Es besteht kein Zweifel, daß wir den zuletzt angedeuteten Seelenzustand auch in Friedenszeiten, in der unbeeinflußten Ruhe gleichmäßiger Empfindungen als den erhabensten bezeichnet hätten; auch als den, der unserem gesteigerten Bedürfnis nach Verinnerlichung des religiösen Gefühls und der gegenwärtigen Auffassung von der Überwindung der Wirklichkeit am meisten entspricht. Wir überlassen den Selbsterhaltungstrieb in seiner einfachsten Form niederen Kulturstufen und schwächeren Naturen, wenn wir uns auch seiner als einer Augenblicksstimmung nicht immer frei fühlen. Wir vermögen auch heute nicht mehr dauernd in Abkehr von der Welt und in Andacht vor ewigem Frieden und Ruhe zu versinken. Denn eine solche Nichtachtung der Welt, die alles Irdische nur annimmt als Vorbereitung auf künftige himmlische Glückseligkeit, würde zum Pessimismus, zur Askese führen. Einer solchen Lebensverneinung find wir heute nicht mehr fähig. Sondern dem Zeitalter der technischen Siege, dem gesteigerten menschlichen Kraftbewußtsein entspricht die geistige Durch¬ dringung und Besiegung der bewußtgewordencn Dinge, die „Weltüberlegenheit" (Gucken), der Glaube an selbständiges, von aller Gegenständlichkeit freies, d. h. ewiges geistiges Leben. In der Gestaltung der Arbeit zu einer wirkenden, beseelten Einheit wird uns der göttliche Geist in täglicher Schöpferkraft sichtbar. Es ist nicht zu leugnen, daß eine solche mehr philosophische Gesinnung, der noch dazu der äußere Halt, der feste Jdeenkreis fehlt, allzu abstrakt ist, um auf das religiöse Leben bestimmend einzuwirken. Zur werbenden Kraft und sinnlichen Anschauung hat ihr aber der Krieg verholfen; er hat dem Drang nach dem Unendlichen greifbare Möglichkeit und aussichtsvolle Erfüllbarkeit ljeqeben. Denn in dem Ringen zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen erscheint die Fortdauer des eigenen Volkes als die Ewigkeit, der wir nachstreben können, und als Trost und Sinn des Opfers und der Ausdauer. Der Geist der Gemeinschaft, die wir Volk nennen, ist das Überdauernde, in dem der einzelne, der sich als Teil dieser Gesamtheit bewußt wird, seine geistige Unsterblichkeit findet. Es scheint mir, als ob dieses Bewußtwerden gerade der Gewinn dieses Krieges ist, der jedem zu zeigen vermag, daß wir nicht nur um unser materielles *) Diesen Widerstand gegen die Vergänglichkeit des geistigen und körperlichen Lebens kann man den Psychologischen Ursprung der Religion nennen. Mit Klarheit und Tiefe hat Carl Becker in seinem gedankenreichen Buche „Religion in Vergangenheit und Gegenwart" (Berlin, Hugo Steinitz Verlag, 1916) diese Deutung des menschlichen „Triebes zur Religion" begreiflich gemacht. Auch bei ihm wird man in jenem Kapitel ähnliche drei Stufen wieder¬ finden, nur rückt er sie in eine geschichtliche Perspektive und deckt ihren Entwicklungsgang in der Welt auf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/103>, abgerufen am 13.05.2024.