Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Grundsätzliches zur Aolomalfrage

mit dem Bade ausgeschüttet. Zurück schweift der Blick wieder von Übersee auf
die nahe liegenden Teile Europas, wie Kurland, Polen usw.. und die Nahrungs¬
mittelknappheit während des Krieges schafft den Erwägungen, wie wir uns
unser Brot in Zukunft schaffen, eine besondere Popularität. Dazu kommt, daß
die alten romantischen Erinnerungen an die Zeit des Deutsch-Ritter-Ordens
dem deutschen Gemüt zu nahe liegen, als daß sie nicht ihren Einfluß ausübten.
Überhaupt lassen die Erörterungen über unsere Zukunft dem Gefühl vielfach einen
fehr breiten Spielraum, während das rein Verstandesmüßige, namentlich soweit es
unsere Wirtschaft zum Gegenstand hat, leider meistens nicht die genügende Beachtung
findet. Es sei deshalb gestattet, in wenigen Zeilen hier zu erörtern, in welcher
Weise wir denn überhaupt hinsichtlich der Schaffung von Brot und Arbeit für
unsere Bevölkerung von Faktoren außerhalb unserer Grenzen abhängig waren.

Es ist bekannt, in welchem Maße wir in den letzten Jahrzehnten uns
vom reinen Agrarstaat zum vorzugsweisen Industriestaat entwickelt haben. Wenn
1882 bei einer Gesamtbevölkerung von 45,2 Millionen 29,2 gleich 42.5 Prozent
in der Landwirtschaft beschäftigt waren, während auf Industrie und Handel
45,5 Prozent entfielen, fo hatte sich das Verhältnis 1907 bei einer Gesamt¬
bevölkerung von 61,7 Millionen schon so verschoben, daß auf die Landwirtschaft
nur noch 28,7 Prozent und auf Industrie und Handel aber 56.4 Prozent
entfielen. Wenn 1871 nur 2 Millionen Menschen in Städten mit über
100 000 Einwohnern und 13 Millionen in Orten zwischen 2000 und
100 000 Einwohnern lebten, so beherbergten unsere Großstädte im Jahre 1910
13,8 Millionen, also mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Betrug
1885 der Wert der Gesamteinfuhr an Rohstoffen für Industriezwecke einschließlich
der Halbfabrikate nur 1,2 Milliarden Mark, fo hatte sich dieser Betrag bis
1913 auf das fünffache, nämlich auf 6,24 Milliarden vermehrt. Umgekehrt
betrug der Wert der 1885 ausgeführten Fabrikate nur 1,3 Milliarden, während
er 1913 auf 6,4 Milliarden gestiegen war. Der Rohstoffbedarf bzw. die
Ausfuhr von Fertigwaren war somit zu einem der stärksten Faktoren unserer
gesamten Volkswirtschaft geworden. Mag man diese Entwicklung zum Industrie¬
staat nun begrüßen oder bedauern: auf jeden Fall kommen wir nicht um die
Frage herum, wie wir die Zukunft unserer Bevölkerung, die nach dem Gesagten
im wesentlichen an die sich ihr in der Industrie bietenden Erwerbsmöglichkeiten
gebunden ist, wieder Arbeit und damit Brot verschaffen. In den siebziger und
achtziger Jahren fehlte uns diese Möglichkeit noch und die Folge war die in
die Millionen gehende Auswanderung, die uns zahlreiche und nicht die schlech¬
testen Kräfte für immer entführt hat. Sollen wir in Zukunft wieder Gefahr
laufen, daß wir unserer Jndustriebevölkerung nicht mehr Arbeit geben können?
Die Antwort darauf kann doch nur ein blankes Nein sein, gerade nach dem
Verlust an Arbeitskraft, die uns der Krieg auferlegt hat und nicht zum
mindesten nach dem Elend, das der Krieg vielfach hinsichtlich des Deutschtums
im Ausland gezeigt hat.


Grundsätzliches zur Aolomalfrage

mit dem Bade ausgeschüttet. Zurück schweift der Blick wieder von Übersee auf
die nahe liegenden Teile Europas, wie Kurland, Polen usw.. und die Nahrungs¬
mittelknappheit während des Krieges schafft den Erwägungen, wie wir uns
unser Brot in Zukunft schaffen, eine besondere Popularität. Dazu kommt, daß
die alten romantischen Erinnerungen an die Zeit des Deutsch-Ritter-Ordens
dem deutschen Gemüt zu nahe liegen, als daß sie nicht ihren Einfluß ausübten.
Überhaupt lassen die Erörterungen über unsere Zukunft dem Gefühl vielfach einen
fehr breiten Spielraum, während das rein Verstandesmüßige, namentlich soweit es
unsere Wirtschaft zum Gegenstand hat, leider meistens nicht die genügende Beachtung
findet. Es sei deshalb gestattet, in wenigen Zeilen hier zu erörtern, in welcher
Weise wir denn überhaupt hinsichtlich der Schaffung von Brot und Arbeit für
unsere Bevölkerung von Faktoren außerhalb unserer Grenzen abhängig waren.

Es ist bekannt, in welchem Maße wir in den letzten Jahrzehnten uns
vom reinen Agrarstaat zum vorzugsweisen Industriestaat entwickelt haben. Wenn
1882 bei einer Gesamtbevölkerung von 45,2 Millionen 29,2 gleich 42.5 Prozent
in der Landwirtschaft beschäftigt waren, während auf Industrie und Handel
45,5 Prozent entfielen, fo hatte sich das Verhältnis 1907 bei einer Gesamt¬
bevölkerung von 61,7 Millionen schon so verschoben, daß auf die Landwirtschaft
nur noch 28,7 Prozent und auf Industrie und Handel aber 56.4 Prozent
entfielen. Wenn 1871 nur 2 Millionen Menschen in Städten mit über
100 000 Einwohnern und 13 Millionen in Orten zwischen 2000 und
100 000 Einwohnern lebten, so beherbergten unsere Großstädte im Jahre 1910
13,8 Millionen, also mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Betrug
1885 der Wert der Gesamteinfuhr an Rohstoffen für Industriezwecke einschließlich
der Halbfabrikate nur 1,2 Milliarden Mark, fo hatte sich dieser Betrag bis
1913 auf das fünffache, nämlich auf 6,24 Milliarden vermehrt. Umgekehrt
betrug der Wert der 1885 ausgeführten Fabrikate nur 1,3 Milliarden, während
er 1913 auf 6,4 Milliarden gestiegen war. Der Rohstoffbedarf bzw. die
Ausfuhr von Fertigwaren war somit zu einem der stärksten Faktoren unserer
gesamten Volkswirtschaft geworden. Mag man diese Entwicklung zum Industrie¬
staat nun begrüßen oder bedauern: auf jeden Fall kommen wir nicht um die
Frage herum, wie wir die Zukunft unserer Bevölkerung, die nach dem Gesagten
im wesentlichen an die sich ihr in der Industrie bietenden Erwerbsmöglichkeiten
gebunden ist, wieder Arbeit und damit Brot verschaffen. In den siebziger und
achtziger Jahren fehlte uns diese Möglichkeit noch und die Folge war die in
die Millionen gehende Auswanderung, die uns zahlreiche und nicht die schlech¬
testen Kräfte für immer entführt hat. Sollen wir in Zukunft wieder Gefahr
laufen, daß wir unserer Jndustriebevölkerung nicht mehr Arbeit geben können?
Die Antwort darauf kann doch nur ein blankes Nein sein, gerade nach dem
Verlust an Arbeitskraft, die uns der Krieg auferlegt hat und nicht zum
mindesten nach dem Elend, das der Krieg vielfach hinsichtlich des Deutschtums
im Ausland gezeigt hat.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331082"/>
          <fw type="header" place="top"> Grundsätzliches zur Aolomalfrage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_299" prev="#ID_298"> mit dem Bade ausgeschüttet. Zurück schweift der Blick wieder von Übersee auf<lb/>
die nahe liegenden Teile Europas, wie Kurland, Polen usw.. und die Nahrungs¬<lb/>
mittelknappheit während des Krieges schafft den Erwägungen, wie wir uns<lb/>
unser Brot in Zukunft schaffen, eine besondere Popularität. Dazu kommt, daß<lb/>
die alten romantischen Erinnerungen an die Zeit des Deutsch-Ritter-Ordens<lb/>
dem deutschen Gemüt zu nahe liegen, als daß sie nicht ihren Einfluß ausübten.<lb/>
Überhaupt lassen die Erörterungen über unsere Zukunft dem Gefühl vielfach einen<lb/>
fehr breiten Spielraum, während das rein Verstandesmüßige, namentlich soweit es<lb/>
unsere Wirtschaft zum Gegenstand hat, leider meistens nicht die genügende Beachtung<lb/>
findet. Es sei deshalb gestattet, in wenigen Zeilen hier zu erörtern, in welcher<lb/>
Weise wir denn überhaupt hinsichtlich der Schaffung von Brot und Arbeit für<lb/>
unsere Bevölkerung von Faktoren außerhalb unserer Grenzen abhängig waren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_300"> Es ist bekannt, in welchem Maße wir in den letzten Jahrzehnten uns<lb/>
vom reinen Agrarstaat zum vorzugsweisen Industriestaat entwickelt haben. Wenn<lb/>
1882 bei einer Gesamtbevölkerung von 45,2 Millionen 29,2 gleich 42.5 Prozent<lb/>
in der Landwirtschaft beschäftigt waren, während auf Industrie und Handel<lb/>
45,5 Prozent entfielen, fo hatte sich das Verhältnis 1907 bei einer Gesamt¬<lb/>
bevölkerung von 61,7 Millionen schon so verschoben, daß auf die Landwirtschaft<lb/>
nur noch 28,7 Prozent und auf Industrie und Handel aber 56.4 Prozent<lb/>
entfielen. Wenn 1871 nur 2 Millionen Menschen in Städten mit über<lb/>
100 000 Einwohnern und 13 Millionen in Orten zwischen 2000 und<lb/>
100 000 Einwohnern lebten, so beherbergten unsere Großstädte im Jahre 1910<lb/>
13,8 Millionen, also mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Betrug<lb/>
1885 der Wert der Gesamteinfuhr an Rohstoffen für Industriezwecke einschließlich<lb/>
der Halbfabrikate nur 1,2 Milliarden Mark, fo hatte sich dieser Betrag bis<lb/>
1913 auf das fünffache, nämlich auf 6,24 Milliarden vermehrt. Umgekehrt<lb/>
betrug der Wert der 1885 ausgeführten Fabrikate nur 1,3 Milliarden, während<lb/>
er 1913 auf 6,4 Milliarden gestiegen war. Der Rohstoffbedarf bzw. die<lb/>
Ausfuhr von Fertigwaren war somit zu einem der stärksten Faktoren unserer<lb/>
gesamten Volkswirtschaft geworden. Mag man diese Entwicklung zum Industrie¬<lb/>
staat nun begrüßen oder bedauern: auf jeden Fall kommen wir nicht um die<lb/>
Frage herum, wie wir die Zukunft unserer Bevölkerung, die nach dem Gesagten<lb/>
im wesentlichen an die sich ihr in der Industrie bietenden Erwerbsmöglichkeiten<lb/>
gebunden ist, wieder Arbeit und damit Brot verschaffen. In den siebziger und<lb/>
achtziger Jahren fehlte uns diese Möglichkeit noch und die Folge war die in<lb/>
die Millionen gehende Auswanderung, die uns zahlreiche und nicht die schlech¬<lb/>
testen Kräfte für immer entführt hat. Sollen wir in Zukunft wieder Gefahr<lb/>
laufen, daß wir unserer Jndustriebevölkerung nicht mehr Arbeit geben können?<lb/>
Die Antwort darauf kann doch nur ein blankes Nein sein, gerade nach dem<lb/>
Verlust an Arbeitskraft, die uns der Krieg auferlegt hat und nicht zum<lb/>
mindesten nach dem Elend, das der Krieg vielfach hinsichtlich des Deutschtums<lb/>
im Ausland gezeigt hat.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0110] Grundsätzliches zur Aolomalfrage mit dem Bade ausgeschüttet. Zurück schweift der Blick wieder von Übersee auf die nahe liegenden Teile Europas, wie Kurland, Polen usw.. und die Nahrungs¬ mittelknappheit während des Krieges schafft den Erwägungen, wie wir uns unser Brot in Zukunft schaffen, eine besondere Popularität. Dazu kommt, daß die alten romantischen Erinnerungen an die Zeit des Deutsch-Ritter-Ordens dem deutschen Gemüt zu nahe liegen, als daß sie nicht ihren Einfluß ausübten. Überhaupt lassen die Erörterungen über unsere Zukunft dem Gefühl vielfach einen fehr breiten Spielraum, während das rein Verstandesmüßige, namentlich soweit es unsere Wirtschaft zum Gegenstand hat, leider meistens nicht die genügende Beachtung findet. Es sei deshalb gestattet, in wenigen Zeilen hier zu erörtern, in welcher Weise wir denn überhaupt hinsichtlich der Schaffung von Brot und Arbeit für unsere Bevölkerung von Faktoren außerhalb unserer Grenzen abhängig waren. Es ist bekannt, in welchem Maße wir in den letzten Jahrzehnten uns vom reinen Agrarstaat zum vorzugsweisen Industriestaat entwickelt haben. Wenn 1882 bei einer Gesamtbevölkerung von 45,2 Millionen 29,2 gleich 42.5 Prozent in der Landwirtschaft beschäftigt waren, während auf Industrie und Handel 45,5 Prozent entfielen, fo hatte sich das Verhältnis 1907 bei einer Gesamt¬ bevölkerung von 61,7 Millionen schon so verschoben, daß auf die Landwirtschaft nur noch 28,7 Prozent und auf Industrie und Handel aber 56.4 Prozent entfielen. Wenn 1871 nur 2 Millionen Menschen in Städten mit über 100 000 Einwohnern und 13 Millionen in Orten zwischen 2000 und 100 000 Einwohnern lebten, so beherbergten unsere Großstädte im Jahre 1910 13,8 Millionen, also mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Betrug 1885 der Wert der Gesamteinfuhr an Rohstoffen für Industriezwecke einschließlich der Halbfabrikate nur 1,2 Milliarden Mark, fo hatte sich dieser Betrag bis 1913 auf das fünffache, nämlich auf 6,24 Milliarden vermehrt. Umgekehrt betrug der Wert der 1885 ausgeführten Fabrikate nur 1,3 Milliarden, während er 1913 auf 6,4 Milliarden gestiegen war. Der Rohstoffbedarf bzw. die Ausfuhr von Fertigwaren war somit zu einem der stärksten Faktoren unserer gesamten Volkswirtschaft geworden. Mag man diese Entwicklung zum Industrie¬ staat nun begrüßen oder bedauern: auf jeden Fall kommen wir nicht um die Frage herum, wie wir die Zukunft unserer Bevölkerung, die nach dem Gesagten im wesentlichen an die sich ihr in der Industrie bietenden Erwerbsmöglichkeiten gebunden ist, wieder Arbeit und damit Brot verschaffen. In den siebziger und achtziger Jahren fehlte uns diese Möglichkeit noch und die Folge war die in die Millionen gehende Auswanderung, die uns zahlreiche und nicht die schlech¬ testen Kräfte für immer entführt hat. Sollen wir in Zukunft wieder Gefahr laufen, daß wir unserer Jndustriebevölkerung nicht mehr Arbeit geben können? Die Antwort darauf kann doch nur ein blankes Nein sein, gerade nach dem Verlust an Arbeitskraft, die uns der Krieg auferlegt hat und nicht zum mindesten nach dem Elend, das der Krieg vielfach hinsichtlich des Deutschtums im Ausland gezeigt hat.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/110
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/110>, abgerufen am 12.05.2024.