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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

Heiliges Rußland! Heiliges Rußland! -- behaupteten wir gotteslästerlich.

Nein, unheiliges und sündhaftes -- so sprach Gorki, wie noch niemand
je gesprochen hat.

Einst prügelte der Großvater den Aljoscha bis zum Verlust des Bewußtseins.

Seit dieser Zeit, -- sagt Gorki -- hat man mir gleichsam die Haut vom
Herzen gerissen: es wurde unerträglich fremdartig jeder eigenen und fremden
Beleidigung gegenüber.

Nun dieses Herz mit abgerissener Haut pulsiert immer noch in Gorki.

Einst schlug "ein Herr in der neuen Uniform", der Stiefvater des Aljoscha,
seine kranke Mutter.

Soeben sehe ich, -- so erinnert sich Gorki, -- diesen schändlichen langen
Fuß mit der hellen Borte längs dem Hosenbein, -- ich sehe, wie er in der
Lust ausholt und mit der Stiefelspitze in die Brust der Frau schlägt.

Aljoscha ergriff ein Messer und versetzte dem Stiefvater einen Stoß.
Dieses Messer hat Gorki immer noch in der Seele: eine Beleidigung Rußlands
ist für ihn nicht in übertragenem, sondern in wirklichem, wahrem, blutigem
Sinne eine Beleidigung der Mutter:


Zwei Gefühle sind uns wunderbar nahe.
In ihnen gewinnt das Herz Nahrung:
Die Liebe zum heimatlichen Herd,
Die Liebe zu den väterlichen Gräbern-

Für Aljoscha aber ist "das väterliche Grab" -- "der stinkende Djukowteich,
in dem man den Vater im Winter durch ein Eisloch geworfen hatte". Solch
ein "Vaterland" muß Gorki lieben.

Wenn der Großvater die Großmutter mit tätlichem Hiebe schlägt, und
diese schweigt, duldet, -- "mir ist befohlen, zu dulden" -- dann fühlen wir
Mitleid:


Heimatland der Langmut und Geduld,
Du Land des russischen Volkes!

"Heiliges Rußland, Heiliges Rußland", Gorki fühlt kein Mitleid. Möge
sie verflucht sein, diese Heiligkeit, wenn alle unsere Schlechtigkeiten aus ihr
hervorgehen.

"Indem ich an die schweren Greuel des wilden russischen Lebens denke,
frage ich mich zuweilen: Lohnt es sich wohl, davon zu reden?" Und mit
erneuter Bestimmtheit antworte ich: .Es lohnt sich!' Denn alles das ist lebendige,
schändliche Wahrheit, die bis heutigen Tages nicht erloschen ist. Es ist die
Wahrheit, die man bis auf den Grund kennen muß, um sie mit der Wurzel
aus dem Gedächtnis, aus der Seele, aus unserem ganzen schweren und schmach¬
vollen Leben zu reißen."

Niemand hat jemals von dieser Wahrheit so geredet wie Gorki, weil alle
von der Seite, von außen her geredet haben, er aber -- von innen heraus.


Wohin geht Rußland?

Heiliges Rußland! Heiliges Rußland! — behaupteten wir gotteslästerlich.

Nein, unheiliges und sündhaftes — so sprach Gorki, wie noch niemand
je gesprochen hat.

Einst prügelte der Großvater den Aljoscha bis zum Verlust des Bewußtseins.

Seit dieser Zeit, — sagt Gorki — hat man mir gleichsam die Haut vom
Herzen gerissen: es wurde unerträglich fremdartig jeder eigenen und fremden
Beleidigung gegenüber.

Nun dieses Herz mit abgerissener Haut pulsiert immer noch in Gorki.

Einst schlug „ein Herr in der neuen Uniform", der Stiefvater des Aljoscha,
seine kranke Mutter.

Soeben sehe ich, — so erinnert sich Gorki, — diesen schändlichen langen
Fuß mit der hellen Borte längs dem Hosenbein, — ich sehe, wie er in der
Lust ausholt und mit der Stiefelspitze in die Brust der Frau schlägt.

Aljoscha ergriff ein Messer und versetzte dem Stiefvater einen Stoß.
Dieses Messer hat Gorki immer noch in der Seele: eine Beleidigung Rußlands
ist für ihn nicht in übertragenem, sondern in wirklichem, wahrem, blutigem
Sinne eine Beleidigung der Mutter:


Zwei Gefühle sind uns wunderbar nahe.
In ihnen gewinnt das Herz Nahrung:
Die Liebe zum heimatlichen Herd,
Die Liebe zu den väterlichen Gräbern-

Für Aljoscha aber ist „das väterliche Grab" — „der stinkende Djukowteich,
in dem man den Vater im Winter durch ein Eisloch geworfen hatte". Solch
ein „Vaterland" muß Gorki lieben.

Wenn der Großvater die Großmutter mit tätlichem Hiebe schlägt, und
diese schweigt, duldet, — „mir ist befohlen, zu dulden" — dann fühlen wir
Mitleid:


Heimatland der Langmut und Geduld,
Du Land des russischen Volkes!

„Heiliges Rußland, Heiliges Rußland", Gorki fühlt kein Mitleid. Möge
sie verflucht sein, diese Heiligkeit, wenn alle unsere Schlechtigkeiten aus ihr
hervorgehen.

„Indem ich an die schweren Greuel des wilden russischen Lebens denke,
frage ich mich zuweilen: Lohnt es sich wohl, davon zu reden?" Und mit
erneuter Bestimmtheit antworte ich: .Es lohnt sich!' Denn alles das ist lebendige,
schändliche Wahrheit, die bis heutigen Tages nicht erloschen ist. Es ist die
Wahrheit, die man bis auf den Grund kennen muß, um sie mit der Wurzel
aus dem Gedächtnis, aus der Seele, aus unserem ganzen schweren und schmach¬
vollen Leben zu reißen."

Niemand hat jemals von dieser Wahrheit so geredet wie Gorki, weil alle
von der Seite, von außen her geredet haben, er aber — von innen heraus.


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[0132] Wohin geht Rußland? Heiliges Rußland! Heiliges Rußland! — behaupteten wir gotteslästerlich. Nein, unheiliges und sündhaftes — so sprach Gorki, wie noch niemand je gesprochen hat. Einst prügelte der Großvater den Aljoscha bis zum Verlust des Bewußtseins. Seit dieser Zeit, — sagt Gorki — hat man mir gleichsam die Haut vom Herzen gerissen: es wurde unerträglich fremdartig jeder eigenen und fremden Beleidigung gegenüber. Nun dieses Herz mit abgerissener Haut pulsiert immer noch in Gorki. Einst schlug „ein Herr in der neuen Uniform", der Stiefvater des Aljoscha, seine kranke Mutter. Soeben sehe ich, — so erinnert sich Gorki, — diesen schändlichen langen Fuß mit der hellen Borte längs dem Hosenbein, — ich sehe, wie er in der Lust ausholt und mit der Stiefelspitze in die Brust der Frau schlägt. Aljoscha ergriff ein Messer und versetzte dem Stiefvater einen Stoß. Dieses Messer hat Gorki immer noch in der Seele: eine Beleidigung Rußlands ist für ihn nicht in übertragenem, sondern in wirklichem, wahrem, blutigem Sinne eine Beleidigung der Mutter: Zwei Gefühle sind uns wunderbar nahe. In ihnen gewinnt das Herz Nahrung: Die Liebe zum heimatlichen Herd, Die Liebe zu den väterlichen Gräbern- Für Aljoscha aber ist „das väterliche Grab" — „der stinkende Djukowteich, in dem man den Vater im Winter durch ein Eisloch geworfen hatte". Solch ein „Vaterland" muß Gorki lieben. Wenn der Großvater die Großmutter mit tätlichem Hiebe schlägt, und diese schweigt, duldet, — „mir ist befohlen, zu dulden" — dann fühlen wir Mitleid: Heimatland der Langmut und Geduld, Du Land des russischen Volkes! „Heiliges Rußland, Heiliges Rußland", Gorki fühlt kein Mitleid. Möge sie verflucht sein, diese Heiligkeit, wenn alle unsere Schlechtigkeiten aus ihr hervorgehen. „Indem ich an die schweren Greuel des wilden russischen Lebens denke, frage ich mich zuweilen: Lohnt es sich wohl, davon zu reden?" Und mit erneuter Bestimmtheit antworte ich: .Es lohnt sich!' Denn alles das ist lebendige, schändliche Wahrheit, die bis heutigen Tages nicht erloschen ist. Es ist die Wahrheit, die man bis auf den Grund kennen muß, um sie mit der Wurzel aus dem Gedächtnis, aus der Seele, aus unserem ganzen schweren und schmach¬ vollen Leben zu reißen." Niemand hat jemals von dieser Wahrheit so geredet wie Gorki, weil alle von der Seite, von außen her geredet haben, er aber — von innen heraus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/132>, abgerufen am 31.05.2024.