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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Zum fünfundfiebzigsten Geburtstag der "Grenzboten

eine Reihe von Vorurteilen, durch ein Verkennen ihres gegenseitigen Interesses
schroff und fremd einander gegenüber. Diese Vorurteile zu heben, dieses Ver¬
kennen auszurotten, die Scheidewand zu untergraben und die Brücke zu einer
geistigen Vereinigung und gegenseitigen Anerkennung zu bauen, ist eine Auf¬
gabe des besten Strebens würdig. Diese Aufgabe sollen diese Blätter un¬
veränderlich im Auge behalten. Eine zweifache Arena sehen wir unserer
Tätigkeit eröffnet. Indem wir einerseits ein deutsches Organ in einem fremden
Lande eröffnen, glauben wir den in diesem Lande einzeln zerstreuten, dem
deutschen Geistesleben verwandten und geneigten Elementen einen Mittelpunkt
zu bieten. Wir denken die Kenntnis deutscher Zustände den damit unbekannten
Personen dadurch zu erleichtern, daß wir eine Tribüne in ihre Mitte schieben,
die über das geistige, soziale und geschichtliche Leben der deutschen Nation
manche nötige Aufschlüsse geben kann. Wer die ungeheuren Fortschritte, die
Deutschland in seiner neuesten Zeit gemacht, in allen Folgen erfaßt, dem ahnt
es wohl, daß die Zukunft Europas im Schoße jenes Landes ruht. Der
mächtige Aufschwung des preußischen Staates, die industrielle Ausdehnung
Österreichs, die Konzentrierung der einzelnen Stämme und Gebiete durch den
Zollverein und die Eisenbahnen, alles dies zeigt, daß der Stern jener Nation
erst im Aufgehen begriffen ist. Wem kann es wichtiger sein, die Entwicklung
desselben zu beobachten, als Belgien, das die Garantie seiner Zukunft nur in
einem klaren Verständnis der Weltlage findet, und in dem klugen Begreifen,
welche Kraft in auf- und welche in absteigender Linie sich bewegt."

Der Kampf um die Seele Belgiens, der damals begann, hat nicht die
Früchte gezeitigt, die Kurcmda auf Grund geschichtlicher und psychologischer
Beobachtung zu ernten hoffte -- Belgien ist uns heute Feind. Der Geist der
Freiheit, der es beseelt, ist das kostbare Erbe mittelalterlich - germanischen
Städtelebens, seine Abneigung gegen das Einerlei, die Ausgeglichenheit, die
um einen einzigen Mittelpunkt kreist, ist deutsch und doch hat der blinkende
Flitter französischen Wesens den Zugang zu den Quellen seiner Kraft ver¬
schüttet. Heute, wie vor fünfundsiebzig Jahren ringt niederdeutsches Blut mit
seiner eignen Schwäche.

Schon im Jahre 1842 erkannte Kuranda Umstände mannigfacher Art, die
seinen Bestrebungen den Erfolg versagten. Von regem Unternehmungsgeist erfüllt,
entschloß er sich, die "Grenzboten" nach Leipzig in die Firma F. W. Grunow
(F. L. Herbig) überzuführen und ihnen nunmehr die Aufgabe zuzuweisen,
einen regen Verkehr zwischen Deutschland und seiner alten Heimat Österreich
zu vermitteln. Der schwere Druck, der damals auf Osterreich lastete, machte es
den regen Geistern zum Bedürfnis, jenseits der Grenze eine geistige Helmstädt
zu suchen. Freilich wurde die Zeitschrift in Österreich verboten, aber das ver¬
hinderte nicht, daß sie dorthin gelangte und eifrig gelesen wurde. In den
siebenundsechzig Jahren, während welcher die "Grenzboten" in Leipzig und im
Verlage von F. W. Grunow verblieben, spiegelte sich aber naturgemäß der


Zum fünfundfiebzigsten Geburtstag der „Grenzboten

eine Reihe von Vorurteilen, durch ein Verkennen ihres gegenseitigen Interesses
schroff und fremd einander gegenüber. Diese Vorurteile zu heben, dieses Ver¬
kennen auszurotten, die Scheidewand zu untergraben und die Brücke zu einer
geistigen Vereinigung und gegenseitigen Anerkennung zu bauen, ist eine Auf¬
gabe des besten Strebens würdig. Diese Aufgabe sollen diese Blätter un¬
veränderlich im Auge behalten. Eine zweifache Arena sehen wir unserer
Tätigkeit eröffnet. Indem wir einerseits ein deutsches Organ in einem fremden
Lande eröffnen, glauben wir den in diesem Lande einzeln zerstreuten, dem
deutschen Geistesleben verwandten und geneigten Elementen einen Mittelpunkt
zu bieten. Wir denken die Kenntnis deutscher Zustände den damit unbekannten
Personen dadurch zu erleichtern, daß wir eine Tribüne in ihre Mitte schieben,
die über das geistige, soziale und geschichtliche Leben der deutschen Nation
manche nötige Aufschlüsse geben kann. Wer die ungeheuren Fortschritte, die
Deutschland in seiner neuesten Zeit gemacht, in allen Folgen erfaßt, dem ahnt
es wohl, daß die Zukunft Europas im Schoße jenes Landes ruht. Der
mächtige Aufschwung des preußischen Staates, die industrielle Ausdehnung
Österreichs, die Konzentrierung der einzelnen Stämme und Gebiete durch den
Zollverein und die Eisenbahnen, alles dies zeigt, daß der Stern jener Nation
erst im Aufgehen begriffen ist. Wem kann es wichtiger sein, die Entwicklung
desselben zu beobachten, als Belgien, das die Garantie seiner Zukunft nur in
einem klaren Verständnis der Weltlage findet, und in dem klugen Begreifen,
welche Kraft in auf- und welche in absteigender Linie sich bewegt."

Der Kampf um die Seele Belgiens, der damals begann, hat nicht die
Früchte gezeitigt, die Kurcmda auf Grund geschichtlicher und psychologischer
Beobachtung zu ernten hoffte — Belgien ist uns heute Feind. Der Geist der
Freiheit, der es beseelt, ist das kostbare Erbe mittelalterlich - germanischen
Städtelebens, seine Abneigung gegen das Einerlei, die Ausgeglichenheit, die
um einen einzigen Mittelpunkt kreist, ist deutsch und doch hat der blinkende
Flitter französischen Wesens den Zugang zu den Quellen seiner Kraft ver¬
schüttet. Heute, wie vor fünfundsiebzig Jahren ringt niederdeutsches Blut mit
seiner eignen Schwäche.

Schon im Jahre 1842 erkannte Kuranda Umstände mannigfacher Art, die
seinen Bestrebungen den Erfolg versagten. Von regem Unternehmungsgeist erfüllt,
entschloß er sich, die „Grenzboten" nach Leipzig in die Firma F. W. Grunow
(F. L. Herbig) überzuführen und ihnen nunmehr die Aufgabe zuzuweisen,
einen regen Verkehr zwischen Deutschland und seiner alten Heimat Österreich
zu vermitteln. Der schwere Druck, der damals auf Osterreich lastete, machte es
den regen Geistern zum Bedürfnis, jenseits der Grenze eine geistige Helmstädt
zu suchen. Freilich wurde die Zeitschrift in Österreich verboten, aber das ver¬
hinderte nicht, daß sie dorthin gelangte und eifrig gelesen wurde. In den
siebenundsechzig Jahren, während welcher die „Grenzboten" in Leipzig und im
Verlage von F. W. Grunow verblieben, spiegelte sich aber naturgemäß der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/14>, abgerufen am 11.05.2024.