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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Leibniz und der deutsche Geist

Pate da und machte der idealistischen Denkgesinnung die Arbeit noch leichter,
die an und für sich schon auf den Schultern von Leibniz und Kant ruhte.
Leibniz aber stand als ein ganz Einsamer inmitten einer völlig andern Welt.
Als er philosophisch mündig wurde, spaltete sich das europäische Denken in
zwei Hauptströmungen: auf der einen Seite stand die dogmatisch-intellek-
tualistische Richtung der von Descartes ausgehenden Franzosen, auf der andern
die sensualistische, allen spekulativen Träumereien abholde Erfahrungsphilosophie
der Engländer. Bei den skeptisch-geistreichen Fortsetzern Descartes war nirgends
ein idealistischer Lufthauch zu spüren, im Gegenteil, die französischen Aufklärer
hatten von dem Altmeister des gallischen Denkens nur die materialistischen
Züge übernommen und alles Lebendige zu einem Ausdruck des mechanisch ge¬
ordneten und bewegten Stoffes erniedrigt. Auch die Engländer, von Berkeley
abgesehen, hatten sich zu einem höheren Gedankenflug kaum aufschwingen können
und verflachten sich in praktischen Untersuchungen des Alltagslebens; wo sie aber
einmal auf die höchsten Fragen des Daseins eingingen, da ließen sie zwischen
Wirklichkeit und Idee eine Lücke klaffen, die auch ihre hochentwickelte Psychologie
nicht ausfüllen konnte. Leibniz, vielseitiger als sie alle, schuf sich sein hohes
Reich aus eigener Spekulation, in dem von einem einzigen geistigen Zentral¬
punkt aus ohne dualistische Zugeständnisse und ohne die lähmende Enge kurz¬
sichtiger Empirie ein neues, wahrhaft einheitliches Weltgebilde entstand.

Wenn man indessen Leibniz als den ersten großen Denker der Deutschen be¬
zeichnete, so tat man das früher immer nur unter recht äußerlichen Gesichtspunkten;
die Chronologie und die Lebensgeschichte des Mannes verlangten es so. Tiefere
Beziehungen zwischen Leibniz und der deutschen Nation aufzusuchen, seinen
schöpferischen Eigengeist den lebendigen Kräften der deutschen Seele vergleichend
gegenüberzustellen, darauf ist man aus mancherlei kulturpsychologisch nicht un¬
interessanter Gründen niemals verfallen. Leibniz schrieb lateinisch; das taten
die Männer der gelehrten Zunft damals freilich noch alle. Leibniz schrieb aber
auch französisch, wenn er im Auftrag irgendeines hohen Gönners seine Ge¬
danken über eine umfassende philosophische Frage niederlegte. Und er schrieb,
was bei seiner Universalbegabung nicht wunderbar war, ein so elegantes
Französisch, daß ihn die Franzosen wie zu ihren Nationalschriststellern gehörig
zählten. In Deutschland ist er darum als geistvoller Essayist, als Schriftsteller
der Nation niemals in Betracht gekommen; als sein Schüler Wolfs die vielen
"Vernünftigen Gedanken" -- so begann bekanntlich fast jeder seiner Schriften¬
titel -- in breitere Kreise trug, da hatte die deutsche Sprache in der deutschen
Wissenschaft vollends gesiegt, und trotz allen sachlichen Interesses an Leibnizschen
Fragestellungen und Lehrsätzen betrachtete man ihn selbst wie einen jener
europäischen Altvüter, die ihren mittelalterlich-scholastischen Mantel mit höchster
kosmopolitischer Würde um die Schultern geschlagen hatten und überall daheim
und überall fremd waren. Dazu gesellen sich nun auch Gründe, die einen
engeren Zusammenhang mit den inhaltlichen Werten von Leibnizens Lebens-


Leibniz und der deutsche Geist

Pate da und machte der idealistischen Denkgesinnung die Arbeit noch leichter,
die an und für sich schon auf den Schultern von Leibniz und Kant ruhte.
Leibniz aber stand als ein ganz Einsamer inmitten einer völlig andern Welt.
Als er philosophisch mündig wurde, spaltete sich das europäische Denken in
zwei Hauptströmungen: auf der einen Seite stand die dogmatisch-intellek-
tualistische Richtung der von Descartes ausgehenden Franzosen, auf der andern
die sensualistische, allen spekulativen Träumereien abholde Erfahrungsphilosophie
der Engländer. Bei den skeptisch-geistreichen Fortsetzern Descartes war nirgends
ein idealistischer Lufthauch zu spüren, im Gegenteil, die französischen Aufklärer
hatten von dem Altmeister des gallischen Denkens nur die materialistischen
Züge übernommen und alles Lebendige zu einem Ausdruck des mechanisch ge¬
ordneten und bewegten Stoffes erniedrigt. Auch die Engländer, von Berkeley
abgesehen, hatten sich zu einem höheren Gedankenflug kaum aufschwingen können
und verflachten sich in praktischen Untersuchungen des Alltagslebens; wo sie aber
einmal auf die höchsten Fragen des Daseins eingingen, da ließen sie zwischen
Wirklichkeit und Idee eine Lücke klaffen, die auch ihre hochentwickelte Psychologie
nicht ausfüllen konnte. Leibniz, vielseitiger als sie alle, schuf sich sein hohes
Reich aus eigener Spekulation, in dem von einem einzigen geistigen Zentral¬
punkt aus ohne dualistische Zugeständnisse und ohne die lähmende Enge kurz¬
sichtiger Empirie ein neues, wahrhaft einheitliches Weltgebilde entstand.

Wenn man indessen Leibniz als den ersten großen Denker der Deutschen be¬
zeichnete, so tat man das früher immer nur unter recht äußerlichen Gesichtspunkten;
die Chronologie und die Lebensgeschichte des Mannes verlangten es so. Tiefere
Beziehungen zwischen Leibniz und der deutschen Nation aufzusuchen, seinen
schöpferischen Eigengeist den lebendigen Kräften der deutschen Seele vergleichend
gegenüberzustellen, darauf ist man aus mancherlei kulturpsychologisch nicht un¬
interessanter Gründen niemals verfallen. Leibniz schrieb lateinisch; das taten
die Männer der gelehrten Zunft damals freilich noch alle. Leibniz schrieb aber
auch französisch, wenn er im Auftrag irgendeines hohen Gönners seine Ge¬
danken über eine umfassende philosophische Frage niederlegte. Und er schrieb,
was bei seiner Universalbegabung nicht wunderbar war, ein so elegantes
Französisch, daß ihn die Franzosen wie zu ihren Nationalschriststellern gehörig
zählten. In Deutschland ist er darum als geistvoller Essayist, als Schriftsteller
der Nation niemals in Betracht gekommen; als sein Schüler Wolfs die vielen
„Vernünftigen Gedanken" — so begann bekanntlich fast jeder seiner Schriften¬
titel — in breitere Kreise trug, da hatte die deutsche Sprache in der deutschen
Wissenschaft vollends gesiegt, und trotz allen sachlichen Interesses an Leibnizschen
Fragestellungen und Lehrsätzen betrachtete man ihn selbst wie einen jener
europäischen Altvüter, die ihren mittelalterlich-scholastischen Mantel mit höchster
kosmopolitischer Würde um die Schultern geschlagen hatten und überall daheim
und überall fremd waren. Dazu gesellen sich nun auch Gründe, die einen
engeren Zusammenhang mit den inhaltlichen Werten von Leibnizens Lebens-


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[0184] Leibniz und der deutsche Geist Pate da und machte der idealistischen Denkgesinnung die Arbeit noch leichter, die an und für sich schon auf den Schultern von Leibniz und Kant ruhte. Leibniz aber stand als ein ganz Einsamer inmitten einer völlig andern Welt. Als er philosophisch mündig wurde, spaltete sich das europäische Denken in zwei Hauptströmungen: auf der einen Seite stand die dogmatisch-intellek- tualistische Richtung der von Descartes ausgehenden Franzosen, auf der andern die sensualistische, allen spekulativen Träumereien abholde Erfahrungsphilosophie der Engländer. Bei den skeptisch-geistreichen Fortsetzern Descartes war nirgends ein idealistischer Lufthauch zu spüren, im Gegenteil, die französischen Aufklärer hatten von dem Altmeister des gallischen Denkens nur die materialistischen Züge übernommen und alles Lebendige zu einem Ausdruck des mechanisch ge¬ ordneten und bewegten Stoffes erniedrigt. Auch die Engländer, von Berkeley abgesehen, hatten sich zu einem höheren Gedankenflug kaum aufschwingen können und verflachten sich in praktischen Untersuchungen des Alltagslebens; wo sie aber einmal auf die höchsten Fragen des Daseins eingingen, da ließen sie zwischen Wirklichkeit und Idee eine Lücke klaffen, die auch ihre hochentwickelte Psychologie nicht ausfüllen konnte. Leibniz, vielseitiger als sie alle, schuf sich sein hohes Reich aus eigener Spekulation, in dem von einem einzigen geistigen Zentral¬ punkt aus ohne dualistische Zugeständnisse und ohne die lähmende Enge kurz¬ sichtiger Empirie ein neues, wahrhaft einheitliches Weltgebilde entstand. Wenn man indessen Leibniz als den ersten großen Denker der Deutschen be¬ zeichnete, so tat man das früher immer nur unter recht äußerlichen Gesichtspunkten; die Chronologie und die Lebensgeschichte des Mannes verlangten es so. Tiefere Beziehungen zwischen Leibniz und der deutschen Nation aufzusuchen, seinen schöpferischen Eigengeist den lebendigen Kräften der deutschen Seele vergleichend gegenüberzustellen, darauf ist man aus mancherlei kulturpsychologisch nicht un¬ interessanter Gründen niemals verfallen. Leibniz schrieb lateinisch; das taten die Männer der gelehrten Zunft damals freilich noch alle. Leibniz schrieb aber auch französisch, wenn er im Auftrag irgendeines hohen Gönners seine Ge¬ danken über eine umfassende philosophische Frage niederlegte. Und er schrieb, was bei seiner Universalbegabung nicht wunderbar war, ein so elegantes Französisch, daß ihn die Franzosen wie zu ihren Nationalschriststellern gehörig zählten. In Deutschland ist er darum als geistvoller Essayist, als Schriftsteller der Nation niemals in Betracht gekommen; als sein Schüler Wolfs die vielen „Vernünftigen Gedanken" — so begann bekanntlich fast jeder seiner Schriften¬ titel — in breitere Kreise trug, da hatte die deutsche Sprache in der deutschen Wissenschaft vollends gesiegt, und trotz allen sachlichen Interesses an Leibnizschen Fragestellungen und Lehrsätzen betrachtete man ihn selbst wie einen jener europäischen Altvüter, die ihren mittelalterlich-scholastischen Mantel mit höchster kosmopolitischer Würde um die Schultern geschlagen hatten und überall daheim und überall fremd waren. Dazu gesellen sich nun auch Gründe, die einen engeren Zusammenhang mit den inhaltlichen Werten von Leibnizens Lebens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/184>, abgerufen am 13.05.2024.