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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Leibniz und der deutsche Geist

die Grundmaße seiner Bestimmbarkeit? Die Philosophie aller Zeiten hat
darauf zu antworten gesucht, pluralistische und monistische, idealistische und ma¬
terialistische Systeme hatten sich abgewechselt. Demokrit und Platon hatten sich
gegenübergestanden, Spinoza und Locke traten sich entgegen. Schließlich siegte
der englische Realismus durch die mächtige Unterstützung seitens der jungen
exakten Naturwissenschaft: in das Newtonsche Weltbild wollten scheinbar idealistische
Träumereien nicht mehr passen, und Kepler hatte den Himmel entvölkert und das
göttliche Gesetz des Weltalls in dürre Formeln gefügt.

Und da tritt Leibniz auf und hat den Mut, einen neuen Idealismus zu
lehren. Hat diesen Mut nicht etwa aus der naiv-unbekümmerten Phantastik
und selbstversunkenen Kritiklosigkeit eines Jakob Böhme heraus, sondern als
kühler Kopf, der in der mathematischen Naturwissenschaft sich zum Meister ge¬
bildet und im Streit um die Probleme der Infinitesimalrechnung und das Maß
der Kräfte sich siegreich bewährt hatte. Das Merkwürdige ist nun. daß in
Leibniz' theoretischem Weltgebäude höchste Phantastik und abgeklärteste logische
Besonnenheit sich beinahe restlos verschmelzen. Die Materie wird zu einer ver¬
worrenen Vorstellung erniedrigt, das Wirkliche wird zum subjektiven Schein,
die idealen geistigen Kräfte des Weltalls werden Schöpfer und Beherrscher alles
Seienden. Dem Realismus war der Geist an sich leer, eine tabula r^a:
sein ganzer Inhalt wurde erst durch die Außenwelt vermittelt. Nach Leibniz'
Betrachtungsweise kann nun nichts in den Geist hineinkommen, was nicht schon
als Anlage in ihm vorgebildet war, alle Erkenntnis ist ein Schöpfen aus den
Tiefen des eigenen Selbst. Das Erkennen wird zu einem aktiv umformenden
Verhalten, zu einem Tätigen, einer weltbildenden Kraft. Mit der oberfläch¬
lichen Vorstellung der läsas innatae des Descartes hat diese Auffassung nichts
mehr zu tun. Wenn Leibniz freilich die vöriteg cle fair auf eine soviel
niedere Stufe stellt als die v6rien3 als rai8vn, so darf das nicht dahin mi߬
verstanden werden, daß er dem reinen Intellektualismus allein das Wort
redete. Ganz abgesehen von dem erkenntnistheoretischen Für und Wider, liegt
in der Überspannung des geistigen Prinzips die Ursprungsstunde für den Ge¬
dankengehalt unserer Klassik. Die geistigen Wahrheiten werden der Mittel¬
punkt, der Quell alles Daseinswertes und aller Daseinsbetätigung. Vöntes cle
raison, das sind zugleich alle^jene Jdeenwerte, denen der Künstler sein Leben
opfert, für die der Soldat sein Blut vergießt. Nach Leibnizens Anschauung
gehört freilich für den reinen Wert eines solchen Tuns die Einsicht in dessen
absolute Vernunftsrichtrgkeit. Was Leibniz noch von der bloßen Vernunft ver¬
langte, haben später andere wie etwa Fichte, in den Willen gelegt, aber die
Grundanschauung bleibt dieselbe: "Es ist der Geist, der sich den Körper baut!"

Diese Gedanken finden sich bei Leibniz nun nicht etwa nur in der Form
gelegentlicher Aphorismen, dann wäre ihr philosophisches Ausmaß gering; er
hat sie zu einem geschlossenen System der Metaphysik ausgebaut, ein System,
das schließlich in seiner Grundlage zu dem System deutscher Metaphysik


Leibniz und der deutsche Geist

die Grundmaße seiner Bestimmbarkeit? Die Philosophie aller Zeiten hat
darauf zu antworten gesucht, pluralistische und monistische, idealistische und ma¬
terialistische Systeme hatten sich abgewechselt. Demokrit und Platon hatten sich
gegenübergestanden, Spinoza und Locke traten sich entgegen. Schließlich siegte
der englische Realismus durch die mächtige Unterstützung seitens der jungen
exakten Naturwissenschaft: in das Newtonsche Weltbild wollten scheinbar idealistische
Träumereien nicht mehr passen, und Kepler hatte den Himmel entvölkert und das
göttliche Gesetz des Weltalls in dürre Formeln gefügt.

Und da tritt Leibniz auf und hat den Mut, einen neuen Idealismus zu
lehren. Hat diesen Mut nicht etwa aus der naiv-unbekümmerten Phantastik
und selbstversunkenen Kritiklosigkeit eines Jakob Böhme heraus, sondern als
kühler Kopf, der in der mathematischen Naturwissenschaft sich zum Meister ge¬
bildet und im Streit um die Probleme der Infinitesimalrechnung und das Maß
der Kräfte sich siegreich bewährt hatte. Das Merkwürdige ist nun. daß in
Leibniz' theoretischem Weltgebäude höchste Phantastik und abgeklärteste logische
Besonnenheit sich beinahe restlos verschmelzen. Die Materie wird zu einer ver¬
worrenen Vorstellung erniedrigt, das Wirkliche wird zum subjektiven Schein,
die idealen geistigen Kräfte des Weltalls werden Schöpfer und Beherrscher alles
Seienden. Dem Realismus war der Geist an sich leer, eine tabula r^a:
sein ganzer Inhalt wurde erst durch die Außenwelt vermittelt. Nach Leibniz'
Betrachtungsweise kann nun nichts in den Geist hineinkommen, was nicht schon
als Anlage in ihm vorgebildet war, alle Erkenntnis ist ein Schöpfen aus den
Tiefen des eigenen Selbst. Das Erkennen wird zu einem aktiv umformenden
Verhalten, zu einem Tätigen, einer weltbildenden Kraft. Mit der oberfläch¬
lichen Vorstellung der läsas innatae des Descartes hat diese Auffassung nichts
mehr zu tun. Wenn Leibniz freilich die vöriteg cle fair auf eine soviel
niedere Stufe stellt als die v6rien3 als rai8vn, so darf das nicht dahin mi߬
verstanden werden, daß er dem reinen Intellektualismus allein das Wort
redete. Ganz abgesehen von dem erkenntnistheoretischen Für und Wider, liegt
in der Überspannung des geistigen Prinzips die Ursprungsstunde für den Ge¬
dankengehalt unserer Klassik. Die geistigen Wahrheiten werden der Mittel¬
punkt, der Quell alles Daseinswertes und aller Daseinsbetätigung. Vöntes cle
raison, das sind zugleich alle^jene Jdeenwerte, denen der Künstler sein Leben
opfert, für die der Soldat sein Blut vergießt. Nach Leibnizens Anschauung
gehört freilich für den reinen Wert eines solchen Tuns die Einsicht in dessen
absolute Vernunftsrichtrgkeit. Was Leibniz noch von der bloßen Vernunft ver¬
langte, haben später andere wie etwa Fichte, in den Willen gelegt, aber die
Grundanschauung bleibt dieselbe: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut!"

Diese Gedanken finden sich bei Leibniz nun nicht etwa nur in der Form
gelegentlicher Aphorismen, dann wäre ihr philosophisches Ausmaß gering; er
hat sie zu einem geschlossenen System der Metaphysik ausgebaut, ein System,
das schließlich in seiner Grundlage zu dem System deutscher Metaphysik


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/186>, abgerufen am 28.05.2024.