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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Das polnische Problem

auf russischem Boden. Wo vor fünfundzwanzig Jahren noch kein Pole war,
erheben sich heute katholische Gotteshäuser mit einem oder mehreren Geistlichen,
und je größer die Kolonien werden, um so größer wird die Zahl und damit
allen Beschränkungen zum Trotz auch die Macht des katholischen Klerus in
Nußland.

Die nach Rußland übersiedelten Polen hängen fest zusammen mit ihrer
Heimat an der Weichsel. Wenn ihr Einfluß auch noch nicht stark genug war,
um auf die russische allgemeine Staatspolitik und die Polenpolitik im besonderen
einwirken zu können, so halfen sie doch im Kleinen: der polnische Eisenbahn¬
direktor schanzte Aufträge den polnischen Firmen im Weichselgebiet zu, der
polnische Beamte im Finanzministerium brachte den polnischen Banken und
Handelshäusern Kredite und Erleichterungen im Verkehr mit der Reichsbank.
In Warschau und Petersburg gibt es eine Anzahl polnischer Rechtsanwälte,
die bis zur Einnahme Warschaus durch die Armee des Prinzen Leopold von
Bayern von weiter nichts lebten und große Vermögen erwarben als von der
Vermittlung solcher "nationaler" Geschäfte. Das war praktische Mittelstands¬
politik unter russischer Herrschaft.

Die russische Politik in den Westprovinzen sorgte dafür, daß die polnischen
Kolonien im Innern Rußlands sich vermehren, freilich nicht um die Polen
voranzubringen, sondern um sie im Weichselgebiete möglichst stark durch
Russen zu durchsetzen und sie dann um so sicherer im russischen Meer
untergehen zu lassen. So ist die Regierung bestrebt gewesen, überall in
Polen und Litauen, wie auch in Wolhynien und Podolien, alle Beamten-
stellen durch Moskowiter zu besetzen. Als vor wenigen Jahren die Warschau-
Wiener Bahn verstaatlicht wurde, mußten tausende von Beamten ihre
Stellungen aufgeben und an Eisenbahnen ins Innere gehen, weil das Gesetz
die Verwendung von rechtgläubigen Russen in den bisher von ihnen besetzten
Stellen vorschrieb. Es ist richtig, daß die Polen diese Beschränkung peinlich
empfanden und daß sie jede sich bietende Gelegenheit nützten, um dagegen auf¬
zubegehren. Aber die deutschen Verhältnisse empfanden sie schwerer, seit die
preußische Ansiedlungspolitik polnischen Boden bedrohte, was die russische Methode
nicht tut, die im Gegenteil den polnischen Bauer nach durchaus demokratischen
Grundsätzen auf Kosten des Großgrundbesitzers begünstigt.

Die Bedeutung der polnischen Kolonien in Rußland, die nach Rasinski") durch
einzelne der größeren Gesellschaften und Vereine in Personalunion mit entsprechenden
Organisationen in Warschau verbunden sind, wächst für das polnische Gesamt¬
leben nicht nur mit ihrer Zahl. Die Tatsache ihrer Lebensfähigkeit inmitten
des russischen Meeres und der Anerkennung durch die russische gebildete Gesellschaft
hat das polnische Selbstgefühl erheblich gesteigert und das Selbstvertrauen der
Polen gegenüber dem russischen Stamm wächst um so stärker, je verrannter dieser



*) a. a. O> S. 10.
Das polnische Problem

auf russischem Boden. Wo vor fünfundzwanzig Jahren noch kein Pole war,
erheben sich heute katholische Gotteshäuser mit einem oder mehreren Geistlichen,
und je größer die Kolonien werden, um so größer wird die Zahl und damit
allen Beschränkungen zum Trotz auch die Macht des katholischen Klerus in
Nußland.

Die nach Rußland übersiedelten Polen hängen fest zusammen mit ihrer
Heimat an der Weichsel. Wenn ihr Einfluß auch noch nicht stark genug war,
um auf die russische allgemeine Staatspolitik und die Polenpolitik im besonderen
einwirken zu können, so halfen sie doch im Kleinen: der polnische Eisenbahn¬
direktor schanzte Aufträge den polnischen Firmen im Weichselgebiet zu, der
polnische Beamte im Finanzministerium brachte den polnischen Banken und
Handelshäusern Kredite und Erleichterungen im Verkehr mit der Reichsbank.
In Warschau und Petersburg gibt es eine Anzahl polnischer Rechtsanwälte,
die bis zur Einnahme Warschaus durch die Armee des Prinzen Leopold von
Bayern von weiter nichts lebten und große Vermögen erwarben als von der
Vermittlung solcher „nationaler" Geschäfte. Das war praktische Mittelstands¬
politik unter russischer Herrschaft.

Die russische Politik in den Westprovinzen sorgte dafür, daß die polnischen
Kolonien im Innern Rußlands sich vermehren, freilich nicht um die Polen
voranzubringen, sondern um sie im Weichselgebiete möglichst stark durch
Russen zu durchsetzen und sie dann um so sicherer im russischen Meer
untergehen zu lassen. So ist die Regierung bestrebt gewesen, überall in
Polen und Litauen, wie auch in Wolhynien und Podolien, alle Beamten-
stellen durch Moskowiter zu besetzen. Als vor wenigen Jahren die Warschau-
Wiener Bahn verstaatlicht wurde, mußten tausende von Beamten ihre
Stellungen aufgeben und an Eisenbahnen ins Innere gehen, weil das Gesetz
die Verwendung von rechtgläubigen Russen in den bisher von ihnen besetzten
Stellen vorschrieb. Es ist richtig, daß die Polen diese Beschränkung peinlich
empfanden und daß sie jede sich bietende Gelegenheit nützten, um dagegen auf¬
zubegehren. Aber die deutschen Verhältnisse empfanden sie schwerer, seit die
preußische Ansiedlungspolitik polnischen Boden bedrohte, was die russische Methode
nicht tut, die im Gegenteil den polnischen Bauer nach durchaus demokratischen
Grundsätzen auf Kosten des Großgrundbesitzers begünstigt.

Die Bedeutung der polnischen Kolonien in Rußland, die nach Rasinski") durch
einzelne der größeren Gesellschaften und Vereine in Personalunion mit entsprechenden
Organisationen in Warschau verbunden sind, wächst für das polnische Gesamt¬
leben nicht nur mit ihrer Zahl. Die Tatsache ihrer Lebensfähigkeit inmitten
des russischen Meeres und der Anerkennung durch die russische gebildete Gesellschaft
hat das polnische Selbstgefühl erheblich gesteigert und das Selbstvertrauen der
Polen gegenüber dem russischen Stamm wächst um so stärker, je verrannter dieser



*) a. a. O> S. 10.
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[0217] Das polnische Problem auf russischem Boden. Wo vor fünfundzwanzig Jahren noch kein Pole war, erheben sich heute katholische Gotteshäuser mit einem oder mehreren Geistlichen, und je größer die Kolonien werden, um so größer wird die Zahl und damit allen Beschränkungen zum Trotz auch die Macht des katholischen Klerus in Nußland. Die nach Rußland übersiedelten Polen hängen fest zusammen mit ihrer Heimat an der Weichsel. Wenn ihr Einfluß auch noch nicht stark genug war, um auf die russische allgemeine Staatspolitik und die Polenpolitik im besonderen einwirken zu können, so halfen sie doch im Kleinen: der polnische Eisenbahn¬ direktor schanzte Aufträge den polnischen Firmen im Weichselgebiet zu, der polnische Beamte im Finanzministerium brachte den polnischen Banken und Handelshäusern Kredite und Erleichterungen im Verkehr mit der Reichsbank. In Warschau und Petersburg gibt es eine Anzahl polnischer Rechtsanwälte, die bis zur Einnahme Warschaus durch die Armee des Prinzen Leopold von Bayern von weiter nichts lebten und große Vermögen erwarben als von der Vermittlung solcher „nationaler" Geschäfte. Das war praktische Mittelstands¬ politik unter russischer Herrschaft. Die russische Politik in den Westprovinzen sorgte dafür, daß die polnischen Kolonien im Innern Rußlands sich vermehren, freilich nicht um die Polen voranzubringen, sondern um sie im Weichselgebiete möglichst stark durch Russen zu durchsetzen und sie dann um so sicherer im russischen Meer untergehen zu lassen. So ist die Regierung bestrebt gewesen, überall in Polen und Litauen, wie auch in Wolhynien und Podolien, alle Beamten- stellen durch Moskowiter zu besetzen. Als vor wenigen Jahren die Warschau- Wiener Bahn verstaatlicht wurde, mußten tausende von Beamten ihre Stellungen aufgeben und an Eisenbahnen ins Innere gehen, weil das Gesetz die Verwendung von rechtgläubigen Russen in den bisher von ihnen besetzten Stellen vorschrieb. Es ist richtig, daß die Polen diese Beschränkung peinlich empfanden und daß sie jede sich bietende Gelegenheit nützten, um dagegen auf¬ zubegehren. Aber die deutschen Verhältnisse empfanden sie schwerer, seit die preußische Ansiedlungspolitik polnischen Boden bedrohte, was die russische Methode nicht tut, die im Gegenteil den polnischen Bauer nach durchaus demokratischen Grundsätzen auf Kosten des Großgrundbesitzers begünstigt. Die Bedeutung der polnischen Kolonien in Rußland, die nach Rasinski") durch einzelne der größeren Gesellschaften und Vereine in Personalunion mit entsprechenden Organisationen in Warschau verbunden sind, wächst für das polnische Gesamt¬ leben nicht nur mit ihrer Zahl. Die Tatsache ihrer Lebensfähigkeit inmitten des russischen Meeres und der Anerkennung durch die russische gebildete Gesellschaft hat das polnische Selbstgefühl erheblich gesteigert und das Selbstvertrauen der Polen gegenüber dem russischen Stamm wächst um so stärker, je verrannter dieser *) a. a. O> S. 10.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/217>, abgerufen am 30.05.2024.