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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Das polnische Problem

Stämme (Tschechen, Slowenen, Ruthenen, Polen) statt, an denen u. a. drei
österreichische Parlamentarier teilnahmen. Roman Dmowski, Graf Bobrinski,
und verschiedene Vertreter der polnischen Ugoda (Versöhnungspartei) schlugen
die Brücke zur russischen Regierung. Dmowski vertrat dabei den Standpunkt,
daß die Polen, um die antideutsche Koalition überhaupt zustande kommen zu
lassen, sich territorial auf ihren ethnographischen Besitzstand beschränken müßten;
nicht die Russen, sondern das Deutschtum sei der gemeinsame Feind der Polen
und Slawen.

Dmowskis Beweisführung fand verständnisvollen Widerhall in Galizien und
in Posen (Kurier Poznanski). Freilich, solange die konservative Partei im
Wiener polnischen Koko herrschte, verhielt sich auch die offizielle parlamentarische
Vertretung der Polen in Galizien den Petersburger und Warschauer Lockungen
gegenüber abwartend, benutzte sie höchstens zu kleinen Erpressungen bei der
Regierung. Diese Stimmung änderte sich nach Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts in Galizien, in dessen Folge die bis dahin durch die Polen fast aller
politischen Rechte beraubten Ruthenen in größerer Zahl in den österreichischen
Reichstag Eingang fanden. "Das Erscheinen der Ruthenen auf der politischen
Bühne", schreibt der österreichische Historiker Hans Übersberger in einem
.Rußland und der Panslawismus' genannten Aufsatz*), "wurde nun von der
allpolnischen Partei zu heftiger Agitation unter dem Vorwande der Bedrohung
des polnischen Besitzstandes in Ostgalizien ausgenutzt. Diese Agitation
war von Erfolg begleitet. An der Spitze des bis dahin allmächtigen
Koko Polskie im Wiener Reichsrat trat ein Allpole. Ihr Programm aber
war offen ein russophiles in allen drei Teilungsstaaten. Ihre
erste Aufgabe sahen sie in der Niederwerfung des deutschen Reiches, um
die Brüder in Posen zu befreien. Bis zur Erfüllung dieser Aufgabe
waren sie bereit, ihr endgültiges Ziel: die Ausrichtung Polens in den Grenzen
von 1772, zu vertagen, loyal die Pflichten eines österreichischen oder
russischen Staatsbürgers zu erfüllen, wobei, wie Dmowski sagte, es der
russischen oder österreichischen Regierung gleichgültig sein könne, welche Ideale
sie in der Zukunft zu verwirklichen trachten. Um dieses erste Ziel zu er¬
reichen, waren sie bereit, bezüglich Rußlands Ansprüche auf Litauen und
Kleinrußland vorläufig aufzugeben, sie verlangten dort für ihre Konnationalen
nur Gleichberechtigung, dafür aber forderten sie in Kongreßpolen volle Autonomie
mit der polnischen Sprache in Amt, Gericht und Schule. Als Äquivalent
dafür boten sie der russischen Regierung folgendes an: Überall dort, wo die
ukrainische Sprache in Amt, Gericht, niederen und höheren Schulen Geltung
erlange, solle auch die russische Sprache gleichberechtigt sein. In dürren
Worten, die Loyalität gegen Österreich hörte dort auf, wo es sich um eine
Lebensfrage des Staates handelte, um die Sicherung einer Grenzmark gegen



") "Deutschland und der Weltkrieg" Bd. I S. 475 ff. B. G. Teubner, Berlin-Leipzig 1916.
Das polnische Problem

Stämme (Tschechen, Slowenen, Ruthenen, Polen) statt, an denen u. a. drei
österreichische Parlamentarier teilnahmen. Roman Dmowski, Graf Bobrinski,
und verschiedene Vertreter der polnischen Ugoda (Versöhnungspartei) schlugen
die Brücke zur russischen Regierung. Dmowski vertrat dabei den Standpunkt,
daß die Polen, um die antideutsche Koalition überhaupt zustande kommen zu
lassen, sich territorial auf ihren ethnographischen Besitzstand beschränken müßten;
nicht die Russen, sondern das Deutschtum sei der gemeinsame Feind der Polen
und Slawen.

Dmowskis Beweisführung fand verständnisvollen Widerhall in Galizien und
in Posen (Kurier Poznanski). Freilich, solange die konservative Partei im
Wiener polnischen Koko herrschte, verhielt sich auch die offizielle parlamentarische
Vertretung der Polen in Galizien den Petersburger und Warschauer Lockungen
gegenüber abwartend, benutzte sie höchstens zu kleinen Erpressungen bei der
Regierung. Diese Stimmung änderte sich nach Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts in Galizien, in dessen Folge die bis dahin durch die Polen fast aller
politischen Rechte beraubten Ruthenen in größerer Zahl in den österreichischen
Reichstag Eingang fanden. „Das Erscheinen der Ruthenen auf der politischen
Bühne", schreibt der österreichische Historiker Hans Übersberger in einem
.Rußland und der Panslawismus' genannten Aufsatz*), „wurde nun von der
allpolnischen Partei zu heftiger Agitation unter dem Vorwande der Bedrohung
des polnischen Besitzstandes in Ostgalizien ausgenutzt. Diese Agitation
war von Erfolg begleitet. An der Spitze des bis dahin allmächtigen
Koko Polskie im Wiener Reichsrat trat ein Allpole. Ihr Programm aber
war offen ein russophiles in allen drei Teilungsstaaten. Ihre
erste Aufgabe sahen sie in der Niederwerfung des deutschen Reiches, um
die Brüder in Posen zu befreien. Bis zur Erfüllung dieser Aufgabe
waren sie bereit, ihr endgültiges Ziel: die Ausrichtung Polens in den Grenzen
von 1772, zu vertagen, loyal die Pflichten eines österreichischen oder
russischen Staatsbürgers zu erfüllen, wobei, wie Dmowski sagte, es der
russischen oder österreichischen Regierung gleichgültig sein könne, welche Ideale
sie in der Zukunft zu verwirklichen trachten. Um dieses erste Ziel zu er¬
reichen, waren sie bereit, bezüglich Rußlands Ansprüche auf Litauen und
Kleinrußland vorläufig aufzugeben, sie verlangten dort für ihre Konnationalen
nur Gleichberechtigung, dafür aber forderten sie in Kongreßpolen volle Autonomie
mit der polnischen Sprache in Amt, Gericht und Schule. Als Äquivalent
dafür boten sie der russischen Regierung folgendes an: Überall dort, wo die
ukrainische Sprache in Amt, Gericht, niederen und höheren Schulen Geltung
erlange, solle auch die russische Sprache gleichberechtigt sein. In dürren
Worten, die Loyalität gegen Österreich hörte dort auf, wo es sich um eine
Lebensfrage des Staates handelte, um die Sicherung einer Grenzmark gegen



») „Deutschland und der Weltkrieg" Bd. I S. 475 ff. B. G. Teubner, Berlin-Leipzig 1916.
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[0220] Das polnische Problem Stämme (Tschechen, Slowenen, Ruthenen, Polen) statt, an denen u. a. drei österreichische Parlamentarier teilnahmen. Roman Dmowski, Graf Bobrinski, und verschiedene Vertreter der polnischen Ugoda (Versöhnungspartei) schlugen die Brücke zur russischen Regierung. Dmowski vertrat dabei den Standpunkt, daß die Polen, um die antideutsche Koalition überhaupt zustande kommen zu lassen, sich territorial auf ihren ethnographischen Besitzstand beschränken müßten; nicht die Russen, sondern das Deutschtum sei der gemeinsame Feind der Polen und Slawen. Dmowskis Beweisführung fand verständnisvollen Widerhall in Galizien und in Posen (Kurier Poznanski). Freilich, solange die konservative Partei im Wiener polnischen Koko herrschte, verhielt sich auch die offizielle parlamentarische Vertretung der Polen in Galizien den Petersburger und Warschauer Lockungen gegenüber abwartend, benutzte sie höchstens zu kleinen Erpressungen bei der Regierung. Diese Stimmung änderte sich nach Einführung des allgemeinen Wahl¬ rechts in Galizien, in dessen Folge die bis dahin durch die Polen fast aller politischen Rechte beraubten Ruthenen in größerer Zahl in den österreichischen Reichstag Eingang fanden. „Das Erscheinen der Ruthenen auf der politischen Bühne", schreibt der österreichische Historiker Hans Übersberger in einem .Rußland und der Panslawismus' genannten Aufsatz*), „wurde nun von der allpolnischen Partei zu heftiger Agitation unter dem Vorwande der Bedrohung des polnischen Besitzstandes in Ostgalizien ausgenutzt. Diese Agitation war von Erfolg begleitet. An der Spitze des bis dahin allmächtigen Koko Polskie im Wiener Reichsrat trat ein Allpole. Ihr Programm aber war offen ein russophiles in allen drei Teilungsstaaten. Ihre erste Aufgabe sahen sie in der Niederwerfung des deutschen Reiches, um die Brüder in Posen zu befreien. Bis zur Erfüllung dieser Aufgabe waren sie bereit, ihr endgültiges Ziel: die Ausrichtung Polens in den Grenzen von 1772, zu vertagen, loyal die Pflichten eines österreichischen oder russischen Staatsbürgers zu erfüllen, wobei, wie Dmowski sagte, es der russischen oder österreichischen Regierung gleichgültig sein könne, welche Ideale sie in der Zukunft zu verwirklichen trachten. Um dieses erste Ziel zu er¬ reichen, waren sie bereit, bezüglich Rußlands Ansprüche auf Litauen und Kleinrußland vorläufig aufzugeben, sie verlangten dort für ihre Konnationalen nur Gleichberechtigung, dafür aber forderten sie in Kongreßpolen volle Autonomie mit der polnischen Sprache in Amt, Gericht und Schule. Als Äquivalent dafür boten sie der russischen Regierung folgendes an: Überall dort, wo die ukrainische Sprache in Amt, Gericht, niederen und höheren Schulen Geltung erlange, solle auch die russische Sprache gleichberechtigt sein. In dürren Worten, die Loyalität gegen Österreich hörte dort auf, wo es sich um eine Lebensfrage des Staates handelte, um die Sicherung einer Grenzmark gegen ») „Deutschland und der Weltkrieg" Bd. I S. 475 ff. B. G. Teubner, Berlin-Leipzig 1916.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/220>, abgerufen am 30.05.2024.