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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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vom französischen Sozialismus

Geister. Jaurös hätte vielleicht für sich selbst und für die Partei den Konflikt
besser überwunden, vielleicht sogar wirklich den Versuch eines revolutionären
Widerstands gemacht. Seine minder bedeutenden Genossen verwirrte das
durchaus konsequente Verhalten der Deutschen derart, daß sie sogar von Verrat
sprechen konnten, jedenfalls deren Standpunkt durchaus nicht begriffen und die
geistige Verwirrung in der Partei durch ihren Eintritt in das bourgeoise
Ministerium vollendeten. Sie ließen also im Ernstfalle den nationalen Staat
doch nicht im Stiche trotz vorheriger gegenteiliger Äußerungen. Sie gingen
damit noch einen guten Schritt über den deutschen Gedanken hinaus, den
nationalen Staat bei Kriegsfall zwar anzuerkennen, aber unter Abwälzung
jeglicher Verantwortung auf die kapitalistischen Klassen. Ich möchte für diesen
Schritt Heros bestimmenden Einfluß zuschreiben. Er scheint mir durchaus den
geistigen Konflikt für sich in der Weise gelöst zu haben, daß er den unmittel¬
baren Internationalismus aufgab zugunsten eines bedingten, mittelbaren, der
-- etwa im Sinne des deutschen Idealismus -- durch das Medium der
Nation sich betätigt. Wenn er seiner Partei von der Pflicht redet, "Frankreich
als den Herd der Freiheit zu verteidigen", erkennt er unzweifelhaft den Wert
seiner Nation für die Menschheit an, gelangt damit schon zu einer positiven
Wertung des Nationalstaates und zu einer Ablehnung jenes Internationalismus,
der diesen Staat vernichten will und seinen Nutzen leugnet. Wie weit ihm die
Partei hierin folgen wird, dürfte sich erst nach dem Kriege beurteilen lassen.

Eine starke Minderheit sucht allerdings schon jetzt den alten Internationa¬
lismus wieder zum Leben zu erwecken trotz des geistigen und materiellen Schiff¬
bruchs, den er erlitten. Aber eine wirkliche Kulturmacht kann er wenigstens
in seiner alten Form nicht mehr werden. Ein irgendwie bedeutender Faktor
für die Gestaltung und Herbeiführung des Friedens gar erst recht nicht. Dazu
fehlt ihm -- in seiner parlamentarischen Form wenigstens -- die Konsequenz
und die geistige Wucht ganz abgesehen von der realen Macht und der
materiellen Kraft.

Die Mehrheit aber hat sich selbst in der elsaß-lothringischen Frage, dem
nationalen Streitobjekt zwischen Frankreich und Deutschland, der Forderung des
nationalen Staates und der Nation nach Rückgabe der beiden Provinzen an¬
geschlossen. Auch hier war Heros der Schrittmacher. Während die Partei und
selbst Jaurös auch hier sich scheu um die Frage herumdrückten und -- ganz
entsprechend ihrem unklaren Internationalismus -- nicht zu gestehen wagten,
daß sie auch ihnen im Grunde nicht gleichgültig war, schaute er der Realität
mutig ins Gesicht und offenbarte schon 1913 die innersten Gefühle und geheimen
Wünsche auch des französischen Sozialismus. Während die Mehrheit nur eine
Abstimmung des elsaß-lothringischen Volkes für wünschenswert erklärte, um der
Revancheströmung den Boden abzugraben, dabei aber freilich die Hoffnung auf
einen für Frankreich günstigen Ausgang nicht unterdrücken mochte, forderte
Herve in einer 1913 erschienen Schrift klipp und klar die Rückgabe Lothringens


vom französischen Sozialismus

Geister. Jaurös hätte vielleicht für sich selbst und für die Partei den Konflikt
besser überwunden, vielleicht sogar wirklich den Versuch eines revolutionären
Widerstands gemacht. Seine minder bedeutenden Genossen verwirrte das
durchaus konsequente Verhalten der Deutschen derart, daß sie sogar von Verrat
sprechen konnten, jedenfalls deren Standpunkt durchaus nicht begriffen und die
geistige Verwirrung in der Partei durch ihren Eintritt in das bourgeoise
Ministerium vollendeten. Sie ließen also im Ernstfalle den nationalen Staat
doch nicht im Stiche trotz vorheriger gegenteiliger Äußerungen. Sie gingen
damit noch einen guten Schritt über den deutschen Gedanken hinaus, den
nationalen Staat bei Kriegsfall zwar anzuerkennen, aber unter Abwälzung
jeglicher Verantwortung auf die kapitalistischen Klassen. Ich möchte für diesen
Schritt Heros bestimmenden Einfluß zuschreiben. Er scheint mir durchaus den
geistigen Konflikt für sich in der Weise gelöst zu haben, daß er den unmittel¬
baren Internationalismus aufgab zugunsten eines bedingten, mittelbaren, der
— etwa im Sinne des deutschen Idealismus — durch das Medium der
Nation sich betätigt. Wenn er seiner Partei von der Pflicht redet, „Frankreich
als den Herd der Freiheit zu verteidigen", erkennt er unzweifelhaft den Wert
seiner Nation für die Menschheit an, gelangt damit schon zu einer positiven
Wertung des Nationalstaates und zu einer Ablehnung jenes Internationalismus,
der diesen Staat vernichten will und seinen Nutzen leugnet. Wie weit ihm die
Partei hierin folgen wird, dürfte sich erst nach dem Kriege beurteilen lassen.

Eine starke Minderheit sucht allerdings schon jetzt den alten Internationa¬
lismus wieder zum Leben zu erwecken trotz des geistigen und materiellen Schiff¬
bruchs, den er erlitten. Aber eine wirkliche Kulturmacht kann er wenigstens
in seiner alten Form nicht mehr werden. Ein irgendwie bedeutender Faktor
für die Gestaltung und Herbeiführung des Friedens gar erst recht nicht. Dazu
fehlt ihm — in seiner parlamentarischen Form wenigstens — die Konsequenz
und die geistige Wucht ganz abgesehen von der realen Macht und der
materiellen Kraft.

Die Mehrheit aber hat sich selbst in der elsaß-lothringischen Frage, dem
nationalen Streitobjekt zwischen Frankreich und Deutschland, der Forderung des
nationalen Staates und der Nation nach Rückgabe der beiden Provinzen an¬
geschlossen. Auch hier war Heros der Schrittmacher. Während die Partei und
selbst Jaurös auch hier sich scheu um die Frage herumdrückten und — ganz
entsprechend ihrem unklaren Internationalismus — nicht zu gestehen wagten,
daß sie auch ihnen im Grunde nicht gleichgültig war, schaute er der Realität
mutig ins Gesicht und offenbarte schon 1913 die innersten Gefühle und geheimen
Wünsche auch des französischen Sozialismus. Während die Mehrheit nur eine
Abstimmung des elsaß-lothringischen Volkes für wünschenswert erklärte, um der
Revancheströmung den Boden abzugraben, dabei aber freilich die Hoffnung auf
einen für Frankreich günstigen Ausgang nicht unterdrücken mochte, forderte
Herve in einer 1913 erschienen Schrift klipp und klar die Rückgabe Lothringens


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[0280] vom französischen Sozialismus Geister. Jaurös hätte vielleicht für sich selbst und für die Partei den Konflikt besser überwunden, vielleicht sogar wirklich den Versuch eines revolutionären Widerstands gemacht. Seine minder bedeutenden Genossen verwirrte das durchaus konsequente Verhalten der Deutschen derart, daß sie sogar von Verrat sprechen konnten, jedenfalls deren Standpunkt durchaus nicht begriffen und die geistige Verwirrung in der Partei durch ihren Eintritt in das bourgeoise Ministerium vollendeten. Sie ließen also im Ernstfalle den nationalen Staat doch nicht im Stiche trotz vorheriger gegenteiliger Äußerungen. Sie gingen damit noch einen guten Schritt über den deutschen Gedanken hinaus, den nationalen Staat bei Kriegsfall zwar anzuerkennen, aber unter Abwälzung jeglicher Verantwortung auf die kapitalistischen Klassen. Ich möchte für diesen Schritt Heros bestimmenden Einfluß zuschreiben. Er scheint mir durchaus den geistigen Konflikt für sich in der Weise gelöst zu haben, daß er den unmittel¬ baren Internationalismus aufgab zugunsten eines bedingten, mittelbaren, der — etwa im Sinne des deutschen Idealismus — durch das Medium der Nation sich betätigt. Wenn er seiner Partei von der Pflicht redet, „Frankreich als den Herd der Freiheit zu verteidigen", erkennt er unzweifelhaft den Wert seiner Nation für die Menschheit an, gelangt damit schon zu einer positiven Wertung des Nationalstaates und zu einer Ablehnung jenes Internationalismus, der diesen Staat vernichten will und seinen Nutzen leugnet. Wie weit ihm die Partei hierin folgen wird, dürfte sich erst nach dem Kriege beurteilen lassen. Eine starke Minderheit sucht allerdings schon jetzt den alten Internationa¬ lismus wieder zum Leben zu erwecken trotz des geistigen und materiellen Schiff¬ bruchs, den er erlitten. Aber eine wirkliche Kulturmacht kann er wenigstens in seiner alten Form nicht mehr werden. Ein irgendwie bedeutender Faktor für die Gestaltung und Herbeiführung des Friedens gar erst recht nicht. Dazu fehlt ihm — in seiner parlamentarischen Form wenigstens — die Konsequenz und die geistige Wucht ganz abgesehen von der realen Macht und der materiellen Kraft. Die Mehrheit aber hat sich selbst in der elsaß-lothringischen Frage, dem nationalen Streitobjekt zwischen Frankreich und Deutschland, der Forderung des nationalen Staates und der Nation nach Rückgabe der beiden Provinzen an¬ geschlossen. Auch hier war Heros der Schrittmacher. Während die Partei und selbst Jaurös auch hier sich scheu um die Frage herumdrückten und — ganz entsprechend ihrem unklaren Internationalismus — nicht zu gestehen wagten, daß sie auch ihnen im Grunde nicht gleichgültig war, schaute er der Realität mutig ins Gesicht und offenbarte schon 1913 die innersten Gefühle und geheimen Wünsche auch des französischen Sozialismus. Während die Mehrheit nur eine Abstimmung des elsaß-lothringischen Volkes für wünschenswert erklärte, um der Revancheströmung den Boden abzugraben, dabei aber freilich die Hoffnung auf einen für Frankreich günstigen Ausgang nicht unterdrücken mochte, forderte Herve in einer 1913 erschienen Schrift klipp und klar die Rückgabe Lothringens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/280>, abgerufen am 16.06.2024.