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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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eigenen Verwaltungen betätigt. Er hat sich über unsere künftigen außer¬
politischen Bindungen schlüssig zu werden. Man erwartet von ihm bei den
Friedensverhandlungen jenes bekannte gewichtige Wort, das er mit in die be¬
kannte gewichtige Wagschale zu legen hat. Er soll sich durchsetzen und Hebel
ansetzen. Und so ist er ein geplagter Mann. Ausschüsse streiten um seine
Seele. Redner reißen ihn nach links und rechts. Er tagt, er telephoniert; er
wird Mitunterzeichner. Er hat längst den Hut verloren, und wenn er sich den
Kopf kratzt, so weiß er selber nicht, ob es aus Ratlosigkeit geschieht oder um
zu sehen, ob nicht der Kopf inzwischen den Weg des Hutes gegangen ist. Er
ist zu bedauern, nicht sehr, aber ein wenig, denn es wird ihm zwar zu helfen
sein, aber es geschieht ihm vorläufig einmal Recht. Dieser Tag hatte für den
Durchschnittsdeutschen früher oder später einmal kommen müssen, wie gewisse
unangenehme Tage für denjenigen, der über feine Verhältnisse lebt, wie Ent¬
hüllungen für den Vertrauensseligen und Rechnungen für den Schuldner.

Wofür soll der Deutsche sich plötzlich interessieren? Für öffentliche An¬
gelegenheiten. Wovor ist der Deutsche hundert Jahre lang mit fliegenden Rock¬
schößen davongerannt? Vor öffentlichen Angelegenheiten. Er war durch Um¬
stände, die ins historische Kolleg gehören und nicht hierher, zum Privatmann
geworden, in aufgeklärten Despotien, kleinen Staaten, Reichsstädten, deren
Staatsgeschäfte von Landesvätern, geheimbden Rats Kollegien, Geschlechter¬
regiment und Kabinetten besorgt wurden; er war es zufrieden, wenn er dabei
leidlich ungeschoren blieb. Über Nacht erfuhr er an der Grenze, Staats¬
geschäfte seien öffentliche Angelegenheiten und ihre Führung als ein Wie und
als ein Wohin unterliege der öffentlichen Meinung. Er erfuhr von Parlament
und Presse als Äußerungsformen dieser öffentlichen Meinung, von Verfassungen,
aus denen die öffentlichen Angestellten bis zum Minister hinauf als Vertrauens¬
männer der Volksgesamtheit oder Volksmehrheit, ihr pflichtig und verantwortlich,
hervorgingen. Zugleich erfuhr er. es gelte als reputierlich, diese Institutionen
zu besitzen, als rückständig, das Recht auf sie nicht zu beanspruchen. Gründlich
-und entschlossen hat er diesen Anspruch, nach seiner Art erhoben, zäh und hart
in einem blutigen Frühjahre ihn erfochten, und hat diese Institutionen längst
bei sich eingeführt. Dann ist er wieder nach Hause gegangen. Er erzählt mit
einer berechtigten Genugtuung, er habe nicht nur ein Parlament, sondern für
sich allein mehr Parlamente als das übrige Europa zusammengenommen.
Ebenso beinahe stehe es mit seinen Zeitungen. Er hat, in normalen Zeiten
wenigstens, zwar nicht das freie Wort, denn diese heilige und großartige
Himmelsgabe kann niemandem verliehen oder genommen werden, aber die
Freiheit des freien Wortes. Mit den verantwortungsvollen Beamten allerdings
hapert es schon eher, und keiner weiß recht warum. Immerhin, es ist an
Formen des freien Zugriffs ins Öffentliche soviel vorhanden, die Tafel ist allem
Anscheine nach so auskömmlich gedeckt, daß man sich gedrungen fühlt zu rufen:
"Zugegriffen!" Aber keiner greift zu. Die Stühle sind leer. Und wir sehen


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eigenen Verwaltungen betätigt. Er hat sich über unsere künftigen außer¬
politischen Bindungen schlüssig zu werden. Man erwartet von ihm bei den
Friedensverhandlungen jenes bekannte gewichtige Wort, das er mit in die be¬
kannte gewichtige Wagschale zu legen hat. Er soll sich durchsetzen und Hebel
ansetzen. Und so ist er ein geplagter Mann. Ausschüsse streiten um seine
Seele. Redner reißen ihn nach links und rechts. Er tagt, er telephoniert; er
wird Mitunterzeichner. Er hat längst den Hut verloren, und wenn er sich den
Kopf kratzt, so weiß er selber nicht, ob es aus Ratlosigkeit geschieht oder um
zu sehen, ob nicht der Kopf inzwischen den Weg des Hutes gegangen ist. Er
ist zu bedauern, nicht sehr, aber ein wenig, denn es wird ihm zwar zu helfen
sein, aber es geschieht ihm vorläufig einmal Recht. Dieser Tag hatte für den
Durchschnittsdeutschen früher oder später einmal kommen müssen, wie gewisse
unangenehme Tage für denjenigen, der über feine Verhältnisse lebt, wie Ent¬
hüllungen für den Vertrauensseligen und Rechnungen für den Schuldner.

Wofür soll der Deutsche sich plötzlich interessieren? Für öffentliche An¬
gelegenheiten. Wovor ist der Deutsche hundert Jahre lang mit fliegenden Rock¬
schößen davongerannt? Vor öffentlichen Angelegenheiten. Er war durch Um¬
stände, die ins historische Kolleg gehören und nicht hierher, zum Privatmann
geworden, in aufgeklärten Despotien, kleinen Staaten, Reichsstädten, deren
Staatsgeschäfte von Landesvätern, geheimbden Rats Kollegien, Geschlechter¬
regiment und Kabinetten besorgt wurden; er war es zufrieden, wenn er dabei
leidlich ungeschoren blieb. Über Nacht erfuhr er an der Grenze, Staats¬
geschäfte seien öffentliche Angelegenheiten und ihre Führung als ein Wie und
als ein Wohin unterliege der öffentlichen Meinung. Er erfuhr von Parlament
und Presse als Äußerungsformen dieser öffentlichen Meinung, von Verfassungen,
aus denen die öffentlichen Angestellten bis zum Minister hinauf als Vertrauens¬
männer der Volksgesamtheit oder Volksmehrheit, ihr pflichtig und verantwortlich,
hervorgingen. Zugleich erfuhr er. es gelte als reputierlich, diese Institutionen
zu besitzen, als rückständig, das Recht auf sie nicht zu beanspruchen. Gründlich
-und entschlossen hat er diesen Anspruch, nach seiner Art erhoben, zäh und hart
in einem blutigen Frühjahre ihn erfochten, und hat diese Institutionen längst
bei sich eingeführt. Dann ist er wieder nach Hause gegangen. Er erzählt mit
einer berechtigten Genugtuung, er habe nicht nur ein Parlament, sondern für
sich allein mehr Parlamente als das übrige Europa zusammengenommen.
Ebenso beinahe stehe es mit seinen Zeitungen. Er hat, in normalen Zeiten
wenigstens, zwar nicht das freie Wort, denn diese heilige und großartige
Himmelsgabe kann niemandem verliehen oder genommen werden, aber die
Freiheit des freien Wortes. Mit den verantwortungsvollen Beamten allerdings
hapert es schon eher, und keiner weiß recht warum. Immerhin, es ist an
Formen des freien Zugriffs ins Öffentliche soviel vorhanden, die Tafel ist allem
Anscheine nach so auskömmlich gedeckt, daß man sich gedrungen fühlt zu rufen:
„Zugegriffen!" Aber keiner greift zu. Die Stühle sind leer. Und wir sehen


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[0398] (veffentlicher Geist eigenen Verwaltungen betätigt. Er hat sich über unsere künftigen außer¬ politischen Bindungen schlüssig zu werden. Man erwartet von ihm bei den Friedensverhandlungen jenes bekannte gewichtige Wort, das er mit in die be¬ kannte gewichtige Wagschale zu legen hat. Er soll sich durchsetzen und Hebel ansetzen. Und so ist er ein geplagter Mann. Ausschüsse streiten um seine Seele. Redner reißen ihn nach links und rechts. Er tagt, er telephoniert; er wird Mitunterzeichner. Er hat längst den Hut verloren, und wenn er sich den Kopf kratzt, so weiß er selber nicht, ob es aus Ratlosigkeit geschieht oder um zu sehen, ob nicht der Kopf inzwischen den Weg des Hutes gegangen ist. Er ist zu bedauern, nicht sehr, aber ein wenig, denn es wird ihm zwar zu helfen sein, aber es geschieht ihm vorläufig einmal Recht. Dieser Tag hatte für den Durchschnittsdeutschen früher oder später einmal kommen müssen, wie gewisse unangenehme Tage für denjenigen, der über feine Verhältnisse lebt, wie Ent¬ hüllungen für den Vertrauensseligen und Rechnungen für den Schuldner. Wofür soll der Deutsche sich plötzlich interessieren? Für öffentliche An¬ gelegenheiten. Wovor ist der Deutsche hundert Jahre lang mit fliegenden Rock¬ schößen davongerannt? Vor öffentlichen Angelegenheiten. Er war durch Um¬ stände, die ins historische Kolleg gehören und nicht hierher, zum Privatmann geworden, in aufgeklärten Despotien, kleinen Staaten, Reichsstädten, deren Staatsgeschäfte von Landesvätern, geheimbden Rats Kollegien, Geschlechter¬ regiment und Kabinetten besorgt wurden; er war es zufrieden, wenn er dabei leidlich ungeschoren blieb. Über Nacht erfuhr er an der Grenze, Staats¬ geschäfte seien öffentliche Angelegenheiten und ihre Führung als ein Wie und als ein Wohin unterliege der öffentlichen Meinung. Er erfuhr von Parlament und Presse als Äußerungsformen dieser öffentlichen Meinung, von Verfassungen, aus denen die öffentlichen Angestellten bis zum Minister hinauf als Vertrauens¬ männer der Volksgesamtheit oder Volksmehrheit, ihr pflichtig und verantwortlich, hervorgingen. Zugleich erfuhr er. es gelte als reputierlich, diese Institutionen zu besitzen, als rückständig, das Recht auf sie nicht zu beanspruchen. Gründlich -und entschlossen hat er diesen Anspruch, nach seiner Art erhoben, zäh und hart in einem blutigen Frühjahre ihn erfochten, und hat diese Institutionen längst bei sich eingeführt. Dann ist er wieder nach Hause gegangen. Er erzählt mit einer berechtigten Genugtuung, er habe nicht nur ein Parlament, sondern für sich allein mehr Parlamente als das übrige Europa zusammengenommen. Ebenso beinahe stehe es mit seinen Zeitungen. Er hat, in normalen Zeiten wenigstens, zwar nicht das freie Wort, denn diese heilige und großartige Himmelsgabe kann niemandem verliehen oder genommen werden, aber die Freiheit des freien Wortes. Mit den verantwortungsvollen Beamten allerdings hapert es schon eher, und keiner weiß recht warum. Immerhin, es ist an Formen des freien Zugriffs ins Öffentliche soviel vorhanden, die Tafel ist allem Anscheine nach so auskömmlich gedeckt, daß man sich gedrungen fühlt zu rufen: „Zugegriffen!" Aber keiner greift zu. Die Stühle sind leer. Und wir sehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/398>, abgerufen am 13.05.2024.