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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Deutsches Bürgerleben der Vstseeprovinzen

Humor zu Worte kommen zu lassen, die Straße des hinkenden Schneiders, oder
die hinkende Schneiderstraße oder schlechtweg die hinkende Straße.

Neben dem alten Rathause stehen die niedersächsischen Buden und Schwib¬
bögen, die von der Stadt an die Handwerker und Kaufleute vermietet werden.
Die Schlachter haben außerdem noch ein gemeinsames Schlachthaus, das sogenannte
Kuthus, das der Stadt gehört, die Schuster ein ebenfalls von dieser gemietetes
Gerberhaus. Auch gibt es eigene Häuser zum Pressen von Wachs, Flachs
und Talg, sogenannte Persehäuser, ferner eine Reperbahn. Vor der Stadt Riga
finden wir, wie in Rostock und anderen Städten, einen Rosengarten. Von
größeren, zum Teil jetzt noch erhaltenen Prachtbauten nenne ich neben den
Schlössern die Gildehäuser in allen drei Städten, vor allem die Häuser der
sogenannten Schwarzenhäupter, der jungen vornehmen Kaufleute. Auch die benach¬
barten Großgrundbesitzerhatten, wie in den niedersächsischen Städten, wohlihreHäuser
oder Höfe in der Stadt, wie z. B. in Riga die Herrn von Rosen ihren Rosenhof.
Daneben besaßen sie auch einige von den oben genannten Buden. In Dorpat
waren die Tiesenhausens begütert.

Die mannigfachen in der Stadt betriebenen Gewerbe werden uns am klarsten
durch die Familiennamen anschaulich gemacht, denn diese sind ursprünglich Zu¬
sätze zu dem früher allein gebrauchten Vornamen: so sind aus Konrad dem Ader-
leter später die Aderleter entstanden. Von der guten Bewaffnung der allezeit
wehrfähigen und wehrtüchtigen Bürger geben uns die Namen Harnischmaker,
Platenschläger (Plate ist ein lederner, mit Stahlplatten versehener Panzer),
Schwertfeger eine Vorstellung, und so finden wir vom handfesten Knochenhauer
und Koppersleger bis zu dem kunstfertigen, hoch angesehenen Zulverberner oder
Testberner, "der das Silber im Tiegel oder im Test probiert und die Blicke
brennt, damit es fein werde", alle weitverzweigten Handwerksarten des Mittel¬
alters in den Namen der Bürger vertreten.

Eine andere, ebenfalls echt niederdeutsche Art von Familiennamen ist aus
körperlichen oder geistigen Eigentümlichkeiten des Betreffenden hergeleitet. Ich
erwähne nur die Namen Langhals. Magerfleisch, Nemandesvrunt und im Gegen¬
satze dazu Gudekumpan, Sachtelevent, b. h. der sachte oder üppig und bequem
dahinlebt. Und endlich finden wir in reichster Fülle die Namen der Land¬
schaften und Städte vertreten, aus denen die einzelnen ausgewandert sind, von
l'KeutonicuZ oder Duschen, Frese, Westfal, Sasse an bis zu den vielen kleinen
und großen Städten Niedersachsens, die ich hier nicht im einzelnen auszählen
kann. Selbst in Reval, das doch von Waldemar von Dänemark gegründet war,
treten die nordischen Namen Jwersen, Judasson, Salomonsen u. a. gegen die
deutschen zurück. Ja, den Niedersachsen allein gebührt der Ruhm, dieses Land
der deutschen Kultur gewonnen und diese Kultur gegen alle Angriffe tapfer und
zäh verteidigt zu haben.

Alles Sinnen und Trachten dieser deutschen Bürger war darauf gerichtet,
ihre Sitten und Einrichtungen, die sie in ihrer Heimat liebgewonnen hatten,


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Deutsches Bürgerleben der Vstseeprovinzen

Humor zu Worte kommen zu lassen, die Straße des hinkenden Schneiders, oder
die hinkende Schneiderstraße oder schlechtweg die hinkende Straße.

Neben dem alten Rathause stehen die niedersächsischen Buden und Schwib¬
bögen, die von der Stadt an die Handwerker und Kaufleute vermietet werden.
Die Schlachter haben außerdem noch ein gemeinsames Schlachthaus, das sogenannte
Kuthus, das der Stadt gehört, die Schuster ein ebenfalls von dieser gemietetes
Gerberhaus. Auch gibt es eigene Häuser zum Pressen von Wachs, Flachs
und Talg, sogenannte Persehäuser, ferner eine Reperbahn. Vor der Stadt Riga
finden wir, wie in Rostock und anderen Städten, einen Rosengarten. Von
größeren, zum Teil jetzt noch erhaltenen Prachtbauten nenne ich neben den
Schlössern die Gildehäuser in allen drei Städten, vor allem die Häuser der
sogenannten Schwarzenhäupter, der jungen vornehmen Kaufleute. Auch die benach¬
barten Großgrundbesitzerhatten, wie in den niedersächsischen Städten, wohlihreHäuser
oder Höfe in der Stadt, wie z. B. in Riga die Herrn von Rosen ihren Rosenhof.
Daneben besaßen sie auch einige von den oben genannten Buden. In Dorpat
waren die Tiesenhausens begütert.

Die mannigfachen in der Stadt betriebenen Gewerbe werden uns am klarsten
durch die Familiennamen anschaulich gemacht, denn diese sind ursprünglich Zu¬
sätze zu dem früher allein gebrauchten Vornamen: so sind aus Konrad dem Ader-
leter später die Aderleter entstanden. Von der guten Bewaffnung der allezeit
wehrfähigen und wehrtüchtigen Bürger geben uns die Namen Harnischmaker,
Platenschläger (Plate ist ein lederner, mit Stahlplatten versehener Panzer),
Schwertfeger eine Vorstellung, und so finden wir vom handfesten Knochenhauer
und Koppersleger bis zu dem kunstfertigen, hoch angesehenen Zulverberner oder
Testberner, „der das Silber im Tiegel oder im Test probiert und die Blicke
brennt, damit es fein werde", alle weitverzweigten Handwerksarten des Mittel¬
alters in den Namen der Bürger vertreten.

Eine andere, ebenfalls echt niederdeutsche Art von Familiennamen ist aus
körperlichen oder geistigen Eigentümlichkeiten des Betreffenden hergeleitet. Ich
erwähne nur die Namen Langhals. Magerfleisch, Nemandesvrunt und im Gegen¬
satze dazu Gudekumpan, Sachtelevent, b. h. der sachte oder üppig und bequem
dahinlebt. Und endlich finden wir in reichster Fülle die Namen der Land¬
schaften und Städte vertreten, aus denen die einzelnen ausgewandert sind, von
l'KeutonicuZ oder Duschen, Frese, Westfal, Sasse an bis zu den vielen kleinen
und großen Städten Niedersachsens, die ich hier nicht im einzelnen auszählen
kann. Selbst in Reval, das doch von Waldemar von Dänemark gegründet war,
treten die nordischen Namen Jwersen, Judasson, Salomonsen u. a. gegen die
deutschen zurück. Ja, den Niedersachsen allein gebührt der Ruhm, dieses Land
der deutschen Kultur gewonnen und diese Kultur gegen alle Angriffe tapfer und
zäh verteidigt zu haben.

Alles Sinnen und Trachten dieser deutschen Bürger war darauf gerichtet,
ihre Sitten und Einrichtungen, die sie in ihrer Heimat liebgewonnen hatten,


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[0095] Deutsches Bürgerleben der Vstseeprovinzen Humor zu Worte kommen zu lassen, die Straße des hinkenden Schneiders, oder die hinkende Schneiderstraße oder schlechtweg die hinkende Straße. Neben dem alten Rathause stehen die niedersächsischen Buden und Schwib¬ bögen, die von der Stadt an die Handwerker und Kaufleute vermietet werden. Die Schlachter haben außerdem noch ein gemeinsames Schlachthaus, das sogenannte Kuthus, das der Stadt gehört, die Schuster ein ebenfalls von dieser gemietetes Gerberhaus. Auch gibt es eigene Häuser zum Pressen von Wachs, Flachs und Talg, sogenannte Persehäuser, ferner eine Reperbahn. Vor der Stadt Riga finden wir, wie in Rostock und anderen Städten, einen Rosengarten. Von größeren, zum Teil jetzt noch erhaltenen Prachtbauten nenne ich neben den Schlössern die Gildehäuser in allen drei Städten, vor allem die Häuser der sogenannten Schwarzenhäupter, der jungen vornehmen Kaufleute. Auch die benach¬ barten Großgrundbesitzerhatten, wie in den niedersächsischen Städten, wohlihreHäuser oder Höfe in der Stadt, wie z. B. in Riga die Herrn von Rosen ihren Rosenhof. Daneben besaßen sie auch einige von den oben genannten Buden. In Dorpat waren die Tiesenhausens begütert. Die mannigfachen in der Stadt betriebenen Gewerbe werden uns am klarsten durch die Familiennamen anschaulich gemacht, denn diese sind ursprünglich Zu¬ sätze zu dem früher allein gebrauchten Vornamen: so sind aus Konrad dem Ader- leter später die Aderleter entstanden. Von der guten Bewaffnung der allezeit wehrfähigen und wehrtüchtigen Bürger geben uns die Namen Harnischmaker, Platenschläger (Plate ist ein lederner, mit Stahlplatten versehener Panzer), Schwertfeger eine Vorstellung, und so finden wir vom handfesten Knochenhauer und Koppersleger bis zu dem kunstfertigen, hoch angesehenen Zulverberner oder Testberner, „der das Silber im Tiegel oder im Test probiert und die Blicke brennt, damit es fein werde", alle weitverzweigten Handwerksarten des Mittel¬ alters in den Namen der Bürger vertreten. Eine andere, ebenfalls echt niederdeutsche Art von Familiennamen ist aus körperlichen oder geistigen Eigentümlichkeiten des Betreffenden hergeleitet. Ich erwähne nur die Namen Langhals. Magerfleisch, Nemandesvrunt und im Gegen¬ satze dazu Gudekumpan, Sachtelevent, b. h. der sachte oder üppig und bequem dahinlebt. Und endlich finden wir in reichster Fülle die Namen der Land¬ schaften und Städte vertreten, aus denen die einzelnen ausgewandert sind, von l'KeutonicuZ oder Duschen, Frese, Westfal, Sasse an bis zu den vielen kleinen und großen Städten Niedersachsens, die ich hier nicht im einzelnen auszählen kann. Selbst in Reval, das doch von Waldemar von Dänemark gegründet war, treten die nordischen Namen Jwersen, Judasson, Salomonsen u. a. gegen die deutschen zurück. Ja, den Niedersachsen allein gebührt der Ruhm, dieses Land der deutschen Kultur gewonnen und diese Kultur gegen alle Angriffe tapfer und zäh verteidigt zu haben. Alles Sinnen und Trachten dieser deutschen Bürger war darauf gerichtet, ihre Sitten und Einrichtungen, die sie in ihrer Heimat liebgewonnen hatten, 6*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/95>, abgerufen am 13.05.2024.